1968-2008: Solidarität und Kritik

40 Jahre Hilfe im Handgemenge

Teil III. Zeitenwende 1989 – 1998

Neuorientierung nach dem Epochenbruch

Mit dem Ende der Blockkonfrontation 1989 beginnen sich die zentralen Konfliktachsen in der Welt zu verschieben. Nicht mehr der Ost-West-Gegensatz mit seinen Stellvertreter-Kriegen bestimmte fortan das Geschehen, sondern ein sich rasch eskalierender Nord-Süd-Konflikt. Schon unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 warnte der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes, dass im Zuge der globalen Entfesselung des Kapitalismus die Idee der Freiheit zur profanen Freiheit des Warenhandels und Kapitalverkehrs zu verkümmern drohe. Weil es keinen politischen Gegner mehr gebe, mit dem man um das bessere Gesellschaftssystem streiten müsse, könne nun das eigene Modell Schritt für Schritt von der Idee der sozialen Gerechtigkeit gelöst werden. Tatsächlich wurde schnell klar, dass die „Globalisierung“ nicht das viel beschworene „Globale Dorf“ brachte, sondern zu tiefen neuen Spaltungen führte.

Aber noch etwas anderes wurde Ende der 80er Jahre deutlich. Angesichts des erreichten Globalisierungsgrades erwies sich die Vorstellung der „Revolution in einem Lande“, so problematisch sie immer gewesen war, endgültig als unhaltbar. Die Idee, im nationalen Kontext die Befreiung von Not und Abhängigkeit erkämpfen zu können, war in Kriegen und Wirtschaftsblockaden erstickt worden. In Nicaragua verloren die Sandinisten 1990 die Wahl. Die Nicas, so kommentierte medico damals, hätten nicht gegen ihre Selbstbestimmung gestimmt, wohl aber gegen den Krieg – und für dessen Ende stand damals Violeta Chamorro, die Kandidatin Washingtons.

Trotz schwerer gewordener Umstände setzte medico seine Arbeit in Nicaragua fort. Nun galt es, den Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung nicht mehr nur gegen den Krieg durchzusetzen, sondern auch gegen den zunehmenden ökonomischen Ausschluss weiter Bevölkerungsteile. Denn die Hoffnung auf eine „Friedensdividende“ wurde enttäuscht. Nicht nur in Nicaragua sorgten wachsende soziale Ungleichheit und das Beschneiden demokratischer Partizipation für die Verschlechterung der gesundheitlichen Lage.

medico international – Hilfs- und Menschenrechtsorganisation

Das Scheitern nationaler Befreiungsstrategien bedeutete allerdings keineswegs ein Ende des Kampfes um soziale Existenzsicherung. Die Auseinandersetzungen aber wurden zurückgedrängt auf eine Vielzahl von lokalen und regionalen Konflikten, die immer weniger den Weg in die Schlagzeilen fanden. Die Idee allgemeiner Menschenrechte und das Pochen auf ihre Verwirklichung gewannen strategische Bedeutung.

Auch medico begründete Solidarität und Kritik nun verstärkt im völker- und menschenrechtlichen Kontext. Beispielsweise bemühten wir uns in El Salvador um den Schutz der medizinischen Neutralität, in Chile um die Existenzrechte von lokalen Fischern, in Israel um die marginalisierten Beduinen der Negev-Wüste, in Südafrika um die Betreuung der Arbeiter einer Asbest-Mine. Aber auch den Bruch mit langjährigen Partnern scheute medico nicht. Als Anfang der 90er Jahre bekannt wurde, dass die namibische Befreiungsbewegung SWAPO systematisch Gefangene und Dissidenten folterte, brachen wir jeden Kontakt ab und machten den Skandal in Deutschland öffentlich.

Das Handgemenge, in das sich medico nun begab, hatte auch ein selbstkritisches Ziel. Unbedingt wollten wir das Helfen von jeder Form von Überhöhung lösen. So notwendig der solidarische Beistand in Veränderungsprozessen und für das existentielle Überleben von Menschen sein kann, so wenig liegt die Antwort auf das Elend der Welt alleine im Helfen. Die Welt leidet nicht an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe notwendig machen, formulierten wir damals.

Beispiel Südafrika: Parallel zur Unterstützung von lokalen Gesundheitsinitiativen vor Ort prangerte medico deutsche Banken und Firmen an, die auf skandalöse Weise dem Apartheid-Regime mit Krediten und Energielieferungen Beihilfe leisteten. Gemeinsam mit kirchlichen Gruppierungen verlangten wir die Einhaltung der UN-Sanktionsbeschlüsse – zum Ärger der Unternehmen. Der Vorstand von Shell Deutschland hielt es für nötig, beim damals noch in Bonn residierenden Entwicklungshilfeministerium auf einen Stopp der Zuschüsse für medico zu drängen.

Kurdistan – Die Republik der Staatenlosen

Auch in der Kurdistan-Hilfe, die medico 1986 mit der Unterstützung für kurdische Flüchtlinge aus dem Iran begann, spielte die Auseinandersetzung mit deutschen Unternehmen eine herausragende Rolle. Im März 1988 ließ Saddam Hussein die kurdische Stadt Halabja mit Giftgas überziehen. 5.000 Menschen fanden den Tod. Auch hier die Beteiligung deutscher Firmen, die dem Irak die Anlagen zur Produktion der international geächteten Chemiewaffen geliefert hatten. Doch nicht die „Händler des Todes“ wurden später rechtlich belangt, sondern medico, das wegen der Bereitstellung eines mit Ausfuhrverbot belegten Antidots, das Menschen vor Giftgasattacken schützt, zu einem Ordnungsgeld verurteilt wurde.

Das Bild änderte sich, als 1991 die USA im Irak intervenierten. Nun galt die Sympathie den Kurdinnen und Kurden, deren Aufstand Saddam Hussein blutig niedergeschlagen hatte. Binnen weniger Monate kamen Spenden in zweistelliger Millionenhöhe zusammen, selbst RTL beteiligte sich. medico leistete umfangreiche Nothilfe und stand schließlich dem Wiederaufbau von 70 Dörfern zur Seite. Im medico-Büro Suleymania waren zeitweise über 20 Mitarbeiter tätig. Sie kümmerten sich um die Wiederankurbelung der Landwirtschaft, den Bau von Schulen, Gesundheitszentren und Verwaltungsgebäuden, die Ausbildung von Personal. Das in aller Welt geachtete Buch „Where there is no Doctor“ ließ medico ins Kurdische übertragen. Gesundheitsexperten aus dem Libanon gaben Kurse in Primary Health Care. Ein funktionierendes Sozialwesen entstand, das längst aus eigener Kraft seine Existenz sichern kann.

In all den Jahren der Arbeit im Nordirak ließ medico nie die prekäre Lage der kurdischen Bevölkerung im Iran und in der Türkei aus den Augen. Wir organisierten internationale Beobachterdelegationen in die Türkei, unterstützten die dortigen Menschenrechtsvereine und halfen beim Aufbau der „Kurdistan Human Rights Foundation“ in London. Letztere trug maßgeblich dazu bei, dass es immer wieder erfolgreich gelang, beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Beschwerde zu führen.

Aber noch etwas änderte sich mit dem medico-Engagement für Kurdistan. Die Arbeit war näher an das eigene Land herangerückt – und wurde nicht zuletzt von Kurdinnen und Kurden in Deutschland getragen. Konsequent rückte auch die Beschäftigung mit Fragen des Asyls, der weltweiten Migration und der Ausländerfeindlichkeit in den Blickpunkt. medico half bei der Erstellung von Asylgutachten und veröffentlichte noch heute lesenswerte Thesen zur Weltflüchtlingsbewegung.

Debattenkultur – die schwarze medico-Reihe

Ein kleiner Verlag, zur Unterstützung der Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit gegründet, publizierte eine viel beachtete Reihe von Studien u.a. über die Verstrickung deutscher Firmen mit Südafrika, die Menschenrechtslage in Kurdistan, die Ausbildung von philippinischen Krankenschwestern für den Weltmarkt. Report 20, der im Juli 1997 erschien, trug den Titel „Schnelle Eingreiftruppe: Seele“ und kompilierte Texte für eine kritische „Trauma-Arbeit“.

Längst hatte sich die psychosoziale Arbeit von medico global ausgeweitet und vernetzte Projekte zur Betreuung von Kindersoldaten in Mosambik mit chilenischen Psychotherapeuten, denen medico half, ihre Erfahrungen bei der Behandlung von Folteropfern beispielsweise in Angola zur Verfügung zu stellen. So mancher Krieg war zwar zu Ende gegangen, die Menschen aber noch immer gezeichnet von seelischen Erschütterungen. Es galt, das Leiden, das gesellschaftlich verursacht worden war, jedoch privat erfahren wurde, wieder zu „entprivatisieren“. Das Ziel war eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Schrecken von Krieg und Diktatur, ein gesellschaftlicher Prozess der Bearbeitung von Vergangenheit, der alleine Versöhnung bringt und am Ende auch die individuellen Wunden heilt.

Friedensnobelpreis

Zum prekären Erbe der Kriege in Mittelamerika, im Südlichen Afrika, Indochina und dem Mittleren Osten zählten auch Millionen von Minen und minenähnlicher Waffen. In all diesen Regionen unterstützte medico Kriegsversehrte mit Prothesen und sozialen Wiedereingliederungshilfen, half bei der Minenräumung – und drängte vor allem auf Prävention. Gemeinsam mit den Vietnam Veterans of America Foundation initiierte medico 1991 die „Internationale Kampagne zum Verbot von Landminen“, die sich rasch zu einer der machtvollsten internationalen Bewegungen entwickelte und schließlich das erste Waffenverbot aufgrund öffentlichen Drucks durchsetzen konnte. Im Dezember 1997 unterzeichneten 123 Länder das Internationale Abkommen zum Verbot von Antipersonen-Minen, und im gleichen Monat erhielt die Kampagne in Oslo den Friedensnobelpreis. Als Mitgründer der ICBL zählte medico zu den Organisationen, die den Preis stellvertretend entgegennahmen.

Die Erfahrungen, die medico mit und in der Kampagne sammeln konnte, die weltweite Vernetzung von entwicklungspolitischen NGOs, Menschenrechtsinitiativen, lokalen Praxiszusammenhängen und vielen engagierten einzelnen Personen zu einer unabhängigen transnationalen Öffentlichkeit waren damals das Neue und wurden zugleich prägend für die kommenden Jahre.

Thomas Gebauer

Lesen Sie hier über die Arbeit von medico in den Jahren 1998-2008: „Globale Solidarität“

Veröffentlicht am 27. September 2008

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