Zur gegenwärtigen Situation der Psychoanalyse

Eine Gruppe von Freunden der Freudschen Psychoanalyse aus verschiedenen Ländern appelliert an die organisierten Psychoanalytiker, ihre politische Abstinenz aufzugeben und die psychoanalytische Ausbildung zu reformieren.

Ich kann die Wünsche heuer gut brauchen, denn alle bösen Geister sind gegen mich losgelassen, aber ich kenne sie schon seit vielen Jahren und fürchte mich vor ihnen wenig.“ S. Freud (1913)*

*Freud an Max Eitingon, 7. 1. 1913. Freud, S., und M. Eitingon (2004): Briefwechsel 1906-1939. (Hg. von Michael Schröter.) Band 1, Tübingen (edition diskord), S. 81.

Rückblick

Joseph Breuer und Sigmund Freud sprengten den Rahmen der naturwissenschaftlich-technischen Medizin ihrer Zeit, indem sie die befremdlichen hysterischen Phänomene (somatische Leiden ohne organischen Befund) nicht als „Simulationen“ abtaten, sondern ihre Patientinnen (vor allem Bertha Pappenheim und Anna von Lieben) und ihre Patienten als Partner und Auskunftsgeber ernstnahmen und sich auf einen anamnestischen Dialog mit ihnen einließen. Freud wurde darüber, wie vor allem seine Briefe an Wilhelm Fließ zeigen, von einem Objekt- zu einem Subjektwissenschaftler, genauer: zu einem Kritiker der „zweiten“ oder Pseudo-Natur der lebens- und der sozialgeschichtlich konstituierten Institutionen. Mit der Entdeckung, dass die Übermacht der neurotischen Produktionen (oder „Privatreligionen“) der von der Domestizierungs-Kultur überforderten Individuen ebenso wie diejenige der kulturellen Institutionen vom Typus der etablierten Kollektiv-Religionen darauf beruht, dass deren Bildungsgeschichte vergessen (oder „verdrängt“) worden ist, wurde die Psychoanalyse zur Sozialwissenschaft. Freud beharrte freilich (vermutlich in Erinnerung an Francis Bacon) darauf, auch (und gerade) das von ihm entwickelte Verfahren, das Rätsel von Institutionen zu lösen, die die (vergesellschafteten) Individuen einschränken und niederhalten, statt ihre Potentiale zur Entfaltung zu bringen, gehöre zu einer recht verstandenen Naturwissenschaft.

Der Zusammenhang der Therapie, die darauf abzielt, „Neurotiker“ wieder zu Autoren ihrer Lebensgeschichte zu machen, mit der in der Traumdeutung entwickelten neuartigen Psychologie des Unbewussten (also der „Metapsychologie“) und mit der Suche nach einer „Kultur, die keinen mehr erdrückt“ (Freud), erschien den freudianisch orientierten ÄrztInnen und PsychologInnen, die sich als TherapeutInnen in zunftmäßig organisierten Vereinen zusammenfanden, alsbald wenig plausibel. Vor allem das Junktim von Therapie und Kulturkritik (also das Verständnis der Therapie als einer praktischen Kulturkritik) galt ihnen – in der Ära der totalitären Bewegungen und Regime – als ein politisches Risiko und wurde stillschweigend fallengelassen. Die Therapie, als „Technik“ verstanden – und als solche vermeintlich für die unterschiedlichsten „Zwecke“ brauchbar –, verselbständigte sich gegenüber der sie fundierenden Freudschen Trieb- und Sprachtheorie. Diese wurde vor allem von SozialphilosophInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen aufgenommen und weiterentwickelt, was die organisierten Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen in ihrer Mehrheit ignorierten oder ablehnten.

Freud selbst versuchte, die Psychoanalyse (als Theorie und Organisation) durch Neutralisierung aus dem von ihm erwarteten europäischen Bürgerkrieg herauszuhalten. In den Jahren 1932/33 betonte er zum einen – in der letzten seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse – noch einmal deren anti-ideologisch naturwissenschaftlichen Charakter und leitete zum andern den Ausschluss von Wilhelm Reich, dem Exponenten der „Freudschen Linken“, in die Wege.

Ideologen wie Carl Müller-Braunschweig beeilten sich 1933, um der „Rettung“ der Psychoanalytiker-Organisation willen, ihre therapeutische Technik in den Dienst der „nationalsozialistischen Erhebung“ zu stellen. In den Jahrzehnten vor dem kampflosen Sieg der Hitlerbewegung, die 1933 sowohl die psychoanalytische als auch die (revolutionäre) Arbeiterbewegung zum Stillstand brachte, hatten sich die Freudianer als eine liberale, philanthropische, sozialpädagogisch-pazifistische, therapeutisch aktive Interpretationsgemeinschaft verstanden und sich im Parteienspektrum am ehesten der reformistischen Mehrheits-Sozialdemokratie nahe gefühlt. Die kulturkritische Grundtendenz, der wissenschaftstheoretische Status und der politische Gehalt der Freudschen Therapeutik wurden ihnen erst gegen Ende der Weimarer Republik zum Problem. Die Stilisierung zu einer „Naturwissenschaft“ und die Reklamierung politischer Neutralität gingen zu Lasten der sozialistischen Minderheit der Organisation. Fortan galt die „soziologische Interpretation psychoanalytischer Befunde“ (Ernest Jones, 1949) als Ketzerei und die politische Aktivität in „linken“ Organisationen als unstatthaft, weil sie den Bestand der psychoanalytischen Vereine gefährde. Nahmen freudianische TherapeutInnen den Antiautoritarismus der „freien Assoziation“ – des „Abbaus“ des Über-Ichs (Ferenczi) – ernst und wollten ihm auch außerhalb der psychoanalytischen Kur Geltung verschaffen, wandten sie sich also gegen den politischen Status quo, dann drohten ihnen (wie Wilhelm Reich) Isolierung und Ausschluss. Kooperierten sie hingegen mit Instanzen des totalitären Staats und fanden sie sich bereit, ihr ärztliches Wissen zur Heilung von Funktionären, zur Bekämpfung von Regimegegnern (oder gar zur Eliminierung von Missliebigen) zur Verfügung zu stellen, dann verstanden sie sich als Spezialisten und glaubten, sie seien weder für die jeweiligen Zwecke, für die sie ihre Technik einsetzten, verantwortlich, noch für das humantechnische Rahmenprogramm des faschistischen Menschenfresser-Staats, der sie tolerierte, sofern sie auf Kritik und Widerstand verzichteten, der Freudschen Aufklärung abschworen und sich um ihre verjagten oder umgebrachten Kolleginnen und Kollegen nicht weiter bekümmerten. Im Zuge des „Aufschwungs“ der „arisierten“ Psychotherapie(n) in den Vorkriegs- und Kriegsjahren wurde die „Medizinalisierung“ (Paul Parin) der Psychoanalyse zu ihrem verschwiegenen Programm.

Die organisierte Psychoanalyse war nie unpolitisch (oder „neutral“). Was ihre Sprecher als „politischen Missbrauch der Psychoanalyse“ verfemten, war eine Theorie und Praxis, die sich gegen den Status quo richtete, sich also – dem Freudschen Programm getreu – für die Überwindung einer Kultur der Kriege, der Massaker und des Aberglaubens engagierte. Die Politik im Dienste der bestehenden Ordnung (und der jeweils „stärkeren Bataillone“) hingegen – auch die Politikberatung der US-Regierung und des FBI nach dem Kriegseintritt der USA und, später, in den Jahren des „Kalten Krieges“ – wurde von den psychoanalytischen PraktikerInnen und FunktionärInnen gar nicht als „Politik“ wahrgenommen (und darum stillschweigend akzeptiert oder vom psychoanalytischen Establishment gebilligt).

Die ideologische Weichenstellung der frühen dreißiger Jahre – Neutralisierung der Psychoanalyse als „Naturwissenschaft“, Primat der therapeutischen „Technik“, Verpönung des politischen Engagements von Psychoanalytikern, sofern es sich gegen den Status quo richtet – hat in der Geschichte der organisierten Psychoanalyse Schule gemacht. Was zunächst eine Notmaßregel in schwieriger Zeit zu sein schien, verfestigte sich alsbald zu einer institutionellen Norm. Vor dem Hintergrund der unverstandenen und unbewältigten Vertreibung der jüdischen und sozialistischen PsychoanalytikerInnen aus den Bildungszentren Berlin, Wien und Budapest – ihrer Verfolgung und, in nicht wenigen Fällen, ihrer Ermordung –, der Diskriminierung und Marginalisierung der Psychoanalyse in der stalinistischen Sowjetunion (und ihren Satellitenstaaten) sowie der (späteren) Verfolgung von Psychoanalytikern in lateinamerikanischen Folter-Regimen hat diese innerverbandliche Normierung direkt und indirekt die Auswahl und die Ausbildung der nachfolgenden Generationen von PsychoanalytikerInnen bestimmt.

Anpassung heute

Das Problem der Psychoanalyse resultiert aus ihrer Stärke. Weil ihre Einsichten zu einem kritischen Verständnis der Lebens- und der Kulturgeschichte befähigen können, steht sie im Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen. Der anspruchsvolle Balanceakt, gleichzeitig in und gegen die Verhältnisse zu wirken, gelingt heute wohl noch weniger denn je. In dem Maße, wie die Psychoanalyse sich auf die bestehenden Verhältnisse eingelassen hat, ist sie von diesen selbst durchdrungen worden. Sie ist zum Opfer einer Ökonomisierung geworden, die das, was an ihr spezifisch ist, untergräbt. Im Wettbewerb mit „rentableren“, biomedizinisch orientierten Therapien erscheint sie als dysfunktional. Die anspruchsvolle psychoanalytische Therapie, die Symptome nicht unterdrückt oder verschiebt, sondern Individuen, die von den Anforderungen ihres Milieus erdrückt werden, ein Stück ihrer Souveränität zurückzugeben sucht, gerät auf dem Markt der tausend Heilsversprechen ins Hintertreffen. Die schwierige Situation, in der viele psychoanalytische Institutionen und TherapeutInnen sich derzeit befinden, macht sie für problematische Kompromisse anfällig; sie halten nach Verbündeten Ausschau, auch wenn es die falschen sind.

Um „allen Bevölkerungsschichten Zugang zu psychoanalytischen Behandlungen zu ermöglichen“, hatten die psychoanalytischen Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland darauf hingearbeitet, dass die psychoanalytische Therapie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wurde. Weil sie damit gesellschaftlich Einfluss nehmen wollten, drängten sie auf Anerkennung. Um den „Versorgungsbedarf“ zu sichern, musste eine große Zahl von AnalytikerInnen ausgebildet werden, die von „Kassenbehandlungen“ abhängig wurden, mithilfe deren sie ihren Lebensunterhalt sichern.

Die Ausbildung von psychoanalytisch orientierten PsychotherapeutInnen verlangt aber mehr denn je Strukturen, die sich von herkömmlichen Unterrichtsmodellen stark unterscheiden und auf die die kurrenten Lernkontrollen nicht passen. Psychoanalytisches Wissen kollidiert – wie dasjenige, das andere kritische Sozialwissenschaften vermitteln – mit dem Commonsense der Ausbildungskandidaten. Es erzeugt nicht nur eine kognitive, sondern vor allem eine affektive Dissonanz. Dies „Überraschungsmoment“ kann zu einer Änderung des hergebrachten Referenzschemas führen. Dabei handelt es sich aber nicht um einen einfachen Lernprozess, sondern um einen Bildungsprozess, der Zeit erfordert und sich darum gegen seine Ökonomisierung sperrt.

Die vorherrschende Entwicklungstendenz ging freilich in eine ganz andere Richtung. Alsbald glaubte man sich gezwungen, die eigene Praxis sowie die psychoanalytische Aus- und Weiterbildung mit den Anforderungen von Krankenkassen und Ärztekammern in Einklang zu bringen, das heißt, eine Ökonomisierung der Psychoanalyse – über die Fremd-Begutachtung der Kostenübernahme-Anträge, Stundenzahlbegrenzungen etc. – in die Wege zu leiten. Dadurch änderten sich das Selbstverständnis, die Praxis und die Forschung. Seither schreiben PsychoanalytikerInnen keine „Novellen“ mehr, sondern Bewilligungsanträge. In ihren Diagnosen werden nicht mehr Triebkonflikte benannt, sondern die Buchstaben und Ziffern des ICD 10 aufgeführt, eines Diagnose-Systems, das Konfliktdynamiken durch isolierte Krankheits-Phänomene und Symptom-Cluster ersetzt. Sie folgen damit einem Verständnis von Krankheit, das der tayloristischen Zerlegung biografisch entstandenen und gesellschaftlich verursachten seelischen Leidens entspricht. Dies Diagnose-System ist vorwiegend an der Verhaltenstherapie und an den Neurowissenschaften orientiert.

Seine Adoption durch psychoanalytische TherapeutInnen führt zu einer Art „Entkernung“ der psychoanalytischen Lehre, nämlich zur „Entsorgung“ der Trieb- und Konflikttheorie, der Theorie neuroserelevanter Interaktionsformen und der Organismus-Umwelt-, also Gesellschafts- oder „Kultur“-Beziehung. Im Zuge dieser Entwicklung wird die Psychoanalyse, die sich seit den siebziger Jahren auch in Lehre und Forschung der Universitäten etablieren konnte, aus ihnen wieder verdrängt. Diese neuerliche Marginalisierung erfasst zunehmend auch rein therapeutisch arbeitende Einrichtungen.

Diese Entwicklungen werden seitens der psychoanalytischen Kommunität zwar beklagt, stießen und stoßen jedoch nicht auf Widerspruch und Widerstand. Allmählich bildete sich der heute vorherrschende Typus von politisch abstinenten, timiden PsychoanalytikerInnen heraus, die mit den bestehenden Verhältnissen ihren Frieden gemacht haben und „brennenden Zeitproblemen“, so gut es immer geht, ausweichen. Gegenwärtig umfasst die freudianische Fraktion der Intelligenzija nicht mehr nur ein paar Hundert, sondern viele Tausende von TherapeutInnen, die freilich in den politischen Kämpfen unserer Zeit keine Stimme haben. Das Freudsche Junktim von Forschen und Heilen wird zugunsten der Übernahme „objektivistischer“ Forschungsstandards, die der Selbstrechtfertigung dienen, stillschweigend aufgegeben. Die von Seiten der staatlichen Wissenschaftspolitik betriebene Mittelverknappung zwingt zur Drittmittelforschung und überantwortet die psychoanalytische Forschung dem „Würgegriff der Ökonomie“. Die Mehrheit der PsychoanalytikerInnen tendiert dazu, sich mit den Gegnern der Psychoanalyse zu arrangieren, und versucht, das Freudsche Erbe mit der aktuellen Neurowissenschaft und der Kognitionspsychologie in Einklang zu bringen. Freud wird im Nachhinein zu einem Hirnforscher erklärt, die Psychologie des Unbewussten hingegen zu einem mehr oder weniger überflüssig gewordenen Notbehelf. Im Rahmen der „Neuropsychoanalyse“ wird der „Trieb“ zur Funktion eines pathologisch-anatomisch identifizierbaren „seeking systems“, das Unbewusste zum „impliziten Gedächtnis“; die Metapsychologie erscheint als obsolet, und in den Neurosen sieht man eine rein innerseelische Angelegenheit beziehungsweise die Folge von „Traumen“.

Realangst erzeugt die Tendenz, den „kommandierenden Bedürfnissen“ (Nietzsche) der Gegenwart nachzugeben: Angst vor finanziellen Einbußen, wenn man sich den Anforderungen der Krankenkassen nicht fügt, Angst vor dem Niedergang von Institutionen, denen Forschungsmittel gestrichen werden oder PatientInnen und AusbildungskandidatInnen davonlaufen, wenn sie sich dem herrschenden Ökonomisierungs- und Effizienzwahn zu entziehen suchen. Werden solche Ängste nicht thematisiert und in der „psychoanalytic community“ diskutiert, bleibt den Betroffenen nur die Flucht nach vorn – vorauseilender Gehorsam mit schlechtem Gewissen.

Gesellschaftlicher Kontext und Ausblick

Der analytisch begründete Einspruch gegen die fortschreitende Unterwerfung der Individuen und ihrer Lebenswelten unter die Interessen von Ökonomie und politischer Verwaltung ist dringend geboten, weil die äußeren und inneren Freiräume, deren gerade die Psychoanalyse bedarf, infolge von Ökonomisierung, biopolitischer Kontrolle und universeller Überwachung durch Geheimdienste ständig weiter eingeengt werden.

Kolonisierung und biopolitische Kontrolle

Der Erfolg des kapitalistischen Wirtschaftssystems beruht darauf, menschliches Leben in all seinen Regungen zu standardisieren, sodass es berechenbar wird und den Erfordernissen der Renditenwirtschaft untergeordnet werden kann. Längst geht es nicht mehr nur um die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, sondern um die Kapitalisierung aller Bereiche menschlicher Existenz – der Ernährung, der Bildung, der Gefühle (online-dating, Beratung, Therapie …), der sozialen Beziehungen (Kapitalisierung der Pflege etc.), der Kommunikation (durch soziale Netzwerke und die Massenmedien), des Teilens (mit Hilfe des Geschäftsmodells der „shared economy“), der Solidarität (durch die Privatisierung von Gemeingütern), ja sogar des Organismus (durch Gentechnologie, Reproduktionsmedizin und Organhandel).

Die zunehmende Durchdringung der Körper, Affekte, Institutionen durch das kalkulierende Denken geht mit der Einengung individueller Handlungs-Spielräume einher. Zum Ideal wird der Mensch als „Bioautomat“, der einen störungsfreien Produktionsprozess garantiert, keinem Sozialversicherungsträger zur Last fällt und bis ins hohe Alter Waren und Dienstleistungen konsumiert, darunter vor allem auch solche, die seiner Gesundheit und Ertüchtigung dienen. So wird aus dem „Recht auf Gesundheit“ die „Verpflichtung zur Gesundheit“. Der menschliche Leib gilt nicht mehr als etwas Privates, sondern als Objekt biopolitischer Kontrollen und bestmöglicher Verwertung.

Mit großem Tempo sind in der Medizin Techniken entwickelt worden, die nicht mehr nur der Verhaltenskontrolle dienen, sondern direkt normierend ins organische Substrat eingreifen: Vorgeburtliche Diagnostik, Transplantationsmedizin, Gen-Therapie. Mit der Tendenz, das Psychische auf neurophysiologisch fassbare Gehirnfunktionen zu reduzieren, korrespondiert die „Erfindung“ neuartiger oder die Uminterpretation altbekannter Pathologien (ADHS, Depressionen etc.), deren Eindämmung dann in großem Maßstab gewinnbringend mit Hilfe neu entwickelter Psychopharmaka betrieben wird.

Kulturelle Erosion

„There is no such a thing as society“, erklärte Margaret Thatcher Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts und umriss damit das Programm für die marktkonforme Umgestaltung unserer Lebenswelt. Um trotz nachlassendem Wirtschaftswachstum Rendite erwirtschaften zu können, drängte das Kapital auf die Senkung der Produktionskosten, die Deregulierung der „Märkte“ und auf eine Kapitalisierung von gemeinwirtschaftlichen Institutionen. Dass diese als gemeinnützige auch unrentabel arbeiten konnten, trägt ihnen nun nicht nur den Vorwurf ein, sie wirtschafteten verschwenderisch, sondern auch den, sie entmündigten ihre Klientel.

Die fatale frühkapitalistische Ideologie, wonach das private Interesse letztlich dem Allgemeinwohl förderlich sei, feiert fröhliche Urständ. Nicht mehr Solidarität und Gemeinwohl sind Trumpf, sondern „Eigenverantwortung“ und eine „unternehmerische“ Lebensführung. Auch die Habenichtse sollen wenigstens „Ich-AGs“ gründen. Von der Kita bis zum Seniorenheim herrscht die Konkurrenz aller gegen alle, angefeuert von den allgegenwärtigen Rankings, bei denen immer nur einer oder eine SiegerIn sein kann.

Über den Zugang zu Bildung, Gesundheit und Kultur wird immer weniger im Hinblick auf erkämpfte und kodifizierte Rechte entschieden. Stattdessen setzt sich der oder die Stärkere, setzt die private Kaufkraft sich durch. Nicht Schulen und soziale Sicherungssysteme gelten als systemrelevant, sondern Banken, zu deren Rettung jedes Mittel erlaubt ist, auch der soziale Kahlschlag und die „Freisetzung“ von „redundant“ und „homeless people“. Wo es um die Bewertung von Institutionen und Praktiken geht, werden traditionelle Werte durch betriebswirtschaftliche Kennziffern verdrängt. Quantifizierung ist das Gebot der Stunde: In Kliniken geht es um die möglichst hohe Bettenauslastung, in Kommunen um erfolgreich „gedeckelte“ Budgets, im Fernsehen um die Einschaltquoten, im Kino und in den Museen um die Maximierung von Zuschauer- und Besucherzahlen, in Schulen und Universitäten um die Vermehrung der durchgeschleusten SchülerInnen, StudentInnen und DoktorandInnen, in der Forschung um die eingeheimsten Drittmittel, Zitationsquoten und die Zahl der eingereichten Patente. Gesundheit wird zur Ware, ÄrztInnen und ProfessorInnen mutieren zu Unternehmern und Patienten und Studenten zu Kunden.

In und gegen die Verhältnisse

Die Psychoanalyse ist auf der Suche nach einem Ausweg aus kulturellen wie lebensgeschichtlichen Sackgassen entstanden. Einen Ausweg zu finden, scheint unter den gegenwärtigen Verhältnissen schwieriger noch als unter denjenigen, unter denen Freud seine neuartige Institutionenkritik formulierte.

Paul Parin schrieb, es komme darauf an, „in einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt Inseln von Vernunft zu schaffen“. Dazu gehört, dass die psychoanalytische Kritik sich gegen die Kolonialisierung der Lebenswelt wendet und den Auszug, den Exodus aus der Humantechnik befördert. Es ist an der Zeit, dass die PsychoanalytikerInnen sich wieder auf ihre Hauptaufgabe besinnen: Individuen und Gruppen Möglichkeiten zu eröffnen, sich der ökonomischen Standardisierung des Lebens zu verweigern und neuartige, autonome Lebens- und Arbeitsformen zu kreieren.

Unterzeichner:

Josef Christian Aigner; Hans Albert, Ismael Ahmadyan, Susi Anderle, Nina Arzberger, Giseta Bech, Josef Berghold, Ralf Binswanger, Gerd Böttcher, Mathis Bromberger, Markus Brunner, Martina Christlieb, Helmut Dahmer, Rainer Danzinger, Oliver Decker, Brigitte Demeure, Oliver Dietze, Götz Egloff, Albert Ellensohn, Sabine Emmerich, Karl Fallend, Ulrike Fuchs, Hans Füchtner, Thomas Gebauer, Michael Giefer, Jose Antonio Gimbernat, Albrecht Götz von Olenhusen, Kurt Grünberg, Ursula Hauser, Denise Heseler, Jens Ihnen, Gordana Jovanovic, Anne Jung, Helmut Jung, Tamara Jupiter, Dave J. Karloff, Anthony D. Kauders, Ulrich Kobbé, Stefan Köchel, Anna Koellreuter, Hans-Dieter König , Julia König, Ulrike Körbitz, Martin Kronauer, Wolfgang Leuschner, Henry Lothane, Gert Lyon, Sama Maani, Jordi Maiso, Peter Mattes, Konrad Mauth, Nadja Meisterhans, Gustav Melichar, Marieluise Melichar, Usche Merk, Emilio Modena, Angela More, Knuth Müller, Ulrich Müller, Bernd Münk, Peter Mulacz, Ruth S. Neumeister, Bernd Nitzschke, Eva Novotny, Michaela Okorn, Klaus Ottomeyer, Raúl Páramo-Ortega, Ingeborg Paß-Kosmath, Karl-Josef Pazzini, Andreas Peglau, Beatrice Piechotta, Rolf Pohl, Cornelia Puk, Johannes Reichmayr, Josef Rabenbauer, César Rodriguez Rabanal, Nele Reuleaux, Carl Rothenburg, Gerhard Rudnitzki, Elisabeth von Salis, Thomas von Salis, Elisabeth Sander, Manfred Sauer, Thierry Simonelli, Ekkehard Schröder, Christophe Solioz, Cornelius Textor, Helfried Tiemeyer, Jürgen Todt, Elisabeth Troje, Tom David Uhlig, Elisabeth Vykoukal, Andrea Weber, Erdmute W. White, Sebastian Winter, Siegtried Zepf, Mechthild Zeul, Markus Zöchmeister...

Für weitere Informationen oder wenn Sie das Memorandum ebenfalls zeichnen möchten, wenden Sie sich bitte an Helmut Dahmer, prof.helmut.dahmer@ gmail.com.

Veröffentlicht am 03. März 2014

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