Vorbild für eine gerechtere Welt

Stadt Frankfurt zeichnet medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer mit der Goethe-Plakette aus

24.09.14   Lesezeit: 11 min

Der Dichter als Entwicklungspolitiker, die faustischen Kräfte des Kapitalismus und ein Haus des Friedens am Main: Rede von medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer anlässlich der Verleihung der Goethe-Plakette im Frankfurter Römer. 1997 erhielt die Kampagne gegen Landminen, die er mit initiiert hatte, den Friedensnobelpreis. Die Stadt Frankfurt hat Gebauer jetzt mit der Goethe-Plakette ausgezeichnet. Hier seine Dankesrede leicht gekürzt:

Goethe war ja nicht nur ein herausragender Dichter und leidenschaftlicher Naturforscher, sondern auch – und das mag Sie überraschen – ein engagierter Entwicklungspolitiker. Als junger Mann hat er Frankfurt in Richtung Weimar verlassen, um – wie er es in Briefen hinterließ – zu prüfen, wie ihm die „Weltrolle zu Gesicht“ stünde.

Carl-August, der junge Herzog von Weimar-Sachsen-Eisenach, machte ihn zum Mitglied des Geheimen Konsiliums, der obersten Regierungsbehörde des Landes. Und so kümmerte sich der Genius fortan um die Modernisierung des Ilmenauer Bergbaus, um den Ausbau der Landstraßen, um die Ausbesserung von Marktbrunnen, mit anderen Worten: um die Entwicklung der Infrastruktur und die Ankurbelung der Wirtschaft, was heutigen Entwicklungspolitikern nicht unbekannt ist.

Als Finanzminister musste sich Goethe zudem mit Fragen der Haushaltssanierung herumschlagen, wobei ihm ein besonderes Anliegen ein „dunkler Plan zur Reduktion des Militärs“ war.

Nicht gerne gab Carl-August seine Zustimmung zum Truppenabbau, aber Goethe setzte sich durch. Die Infanterie, die aus 532 Mann bestand, wurde um mehr als die Hälfte reduziert; nur die Artillerie, deren acht Kanoniere noch für Salutschüsse gebraucht wurden, und die Reiterei, die man sich für künftige Jagdvergnügen sichern wollte, blieben unangetastet.

Etwas mehr als 500 Mann, das klingt nicht sonderlich viel, fast schon ein wenig operettenhaft – war es aber durchaus nicht. Denn gemessen an den Einwohnerzahlen entsprechen die 500 Infanteristen des damaligen Herzogtums Weimar in etwa den 300 000 Soldaten, über die das heutige Afghanistan verfügt. 300 000 Mann, ausgebildet und ausgerüstet auch mit deutscher Hilfe; 300 000 Mann, die für die afghanische Gesellschaft, der es an so vielem mangelt, heute ebenso falsch und unbezahlbar sind wie damals die 500 Soldaten in Weimar. Es wäre gewiss kein Fehler gewesen, wenn sich die deutsche Politik zu Beginn des Afghanistan-Einsatzes – wenn sie schon nicht auf unsere Warnungen hören wollte – an Goethes Skepsis gegenüber dem Militärischen erinnert hätte.

Können Sie sich Goethe im heutigen Kabul vorstellen? Es sträubt sich einiges gegen dieses Bild, zumal der Meister nicht auf den Ruinen der Antike Platz nehmen müsste, sondern auf den Ruinen der Moderne. Die Szene, wenn sie denn heute gemalt würde, hätte nichts von einem selbstbewussten Aufbruch in die Zukunft, umso mehr aber vom Scheitern heutiger Politik, das in Afghanistan offenkundig geworden ist.

Aber es sind nicht allein die Vorbehalte gegenüber dem Militärischen, die wir mit Goethe teilen. Es ist auch – und das mag fast noch überraschender sein – Goethes Engagement als Nothelfer. Ja, auch das ist überliefert. Als sich im Februar 1784 der Eisgang der Saale zu einer schweren Katastrophe für die Uferbewohner Jenas ausweitete, soll sich der Genius kurzerhand aufs Pferd geschwungen und – am Ort des Schreckens angekommen – sogleich die notwendigen Anweisungen erteilt, die Leute beruhigt und erste Hilfsmaßnahmen für die Geschädigten und Bedrohten veranlasst haben.

Ob die heroische Pose Dichtung oder Wahrheit ist, wird sich heute nicht mehr ergründen lassen. Um Nothelfer ranken sich bekanntlich immer Legenden. In seinen Tagebüchern aber hat Goethe insgesamt zehn Brände und drei Hochwassergefahren vermerkt, zu denen er geritten sei. Dabei seien ihm bedeutende, wenn auch nicht sonderlich poetische Ideen gekommen: die Idee für eine Landesfeuerlöschverordnung zum Beispiel oder die Regulierung der Flussläufe. „Disaster Preparedness“ würde man das heute nennen.

Goethe wusste um die Lage der Menschen

Goethe wusste übrigens sehr genau um die Lage der Menschen. Weniger gegenüber den Mächtigen, eher privat – in seinen Briefen – empörte er sich zum Beispiel über das Elend der Strumpfwirker, die von den Verlegern, den damaligen Textilunternehmern, systematisch übers Ohr gehauen wurden, über die Auspressung der Bauern, deren Arbeit nur ungenügend entlohnt wurde, über die schlecht geführten herrschaftlichen Güter, die zerschlagen werden sollten.

Die Zukunft der Menschheit aber sah Goethe nicht in sozialen Umwälzungen, sondern in der industriellen Entwicklung, im Aufschwung des Handels, im technisch-ökonomischen Fortschritt, der Eisenbahn, der Idee inter-ozeanischer Kanäle, mit anderen Worten: in dem, was wir heute die Entwicklung der Produktivkräfte nennen würden.

Goethe war davon überzeugt, dass nur so die Voraussetzungen für eine Welt geschaffen würden, in der die Menschen ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen können. Damit bildete er so etwas wie eine Brücke von der Aufklärung in die Industriegesellschaft, deren Rationalität er explizit willkommen hieß.

Wir dagegen sind da heute ein Stück weiter. Tagtäglich werden wir Zeuge, wie eben diese Rationalität ins Irrationale umschlägt, wie der Fortschritt sich nicht mehr in einer besseren Infrastruktur und wachsender sozialer Gerechtigkeit zeigt, sondern im Gegenteil all dessen – in vielfältigen negativen Folgen für Mensch und Umwelt.

Goethe erkannte Kehrseides Fortschritts

Es ist höchst unverständlich, wenn heutige Wirtschafts- und Entwicklungsexperten noch immer einem unkritischen Fortschrittsbegriff aufsitzen. Auf Goethe berufen können sie sich jedenfalls nicht. Der nämlich war empfindsam genug, um bereits vor 200 Jahren auch die Kehrseite des Fortschritts zu erkennen. Er spürte die Gefahren, die in der heraufkommenden Industriegesellschaft lagen. Und er rückte sie ins Zentrum seiner Dichtung.

Vor allem im „Faust“ schildert Goethe den Fortschritt als Ergebnis einer permanenten Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Gemeinwohl und persönlichem Ehrgeiz, zwischen Enthaltsamkeit und Streben nach Ansehen, zwischen dem Traum utopischer Erneuerung und zerstörerischen Eingriffen in bestehende Lebenswelten, wobei sowohl in dem, was als böse betrachtet wird, Keime des Guten stecken können, als auch das vermeintlich Gute nie frei davon ist, der Destruktion zu dienen.

Diese Dialektik des Guten und Bösen macht die Dramatik der Faustdichtung aus. Die Erkenntnis, die in ihr steckt, ist so weitreichend, dass sie selbst in der Arbeit von medico zu spüren ist. Ob der edle Gestus: die Hilfe für notleidende Menschen, der vergebene Mikrokredit, die in Eigeninitiative betriebene Schule, die sozialen Medien wirklich helfen oder nur die Verhältnisse stabilisieren, die für Elend und Abhängigkeit verantwortlich sind, ist nicht per se klar. Darüber entscheidet alleine die Funktion, die Hilfe in einem bestimmten historischen Kontext, unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen hat.

Die Konsequenz, die wir bei medico aus dieser Einsicht gezogen haben, ist ein ständiges Balancieren zwischen „Hilfe verteidigen, kritisieren und überwinden“. Ja, auch überwinden! Denn die Welt leidet ja nicht an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe notwendig machen.

Faust bietet Antworten

Wie aber sollten die Verhältnisse verfasst sein, damit Elend und Not vorgebeugt werden kann? Auch dazu finden sich in der Faustdichtung bedeutungsvolle Hinweise. Vielleicht haben Sie die Inszenierung des „Faust“ im letzten Jahr im Schauspiel gesehen: In den Schlussbildern des zweiten Teils der Tragödie schenkt der Kaiser als Dank für die Rettung der Staatsfinanzen Faust einen Landstrich an der Küste. Um das Areal zu entwickeln, um Deiche und Hafenanlagen anzulegen, muss zunächst das Schöne, das Glück des Augenblicks, die Idylle der Antike, symbolisiert in der Hütte von Philemon und Baucis, beiseite geräumt werden.

Goethe hat Faust am Ende des Dramas erblinden lassen. Während Faust noch von den großen Projekten träumt, die die Menschheit nach vorne bringen sollen, schaufeln die Totengeister bereits sein Grab.

Wer offenen Auges durch die Welt reist, weiß um die ungeheure Aktualität der Schlussszenen aus dem „Faust“. Ob in Afrika, Asien, Lateinamerika: überall kann man heute Zeuge eines Zerstörungsprozesses werden, bei dem Millionen von Menschen, deren Lebensentwürfe der globalen Entfesselung des Kapitalismus im Wege stehen, vertrieben und ihrer Existenzgrundlagen beraubt werden. Ganz offenbar ist der erblindete Faust zum Sinnbild der heutigen Ökonomie geworden. Eine Ökonomie, die das, was sie in ihrem Innersten ausmacht, aus dem Auge verloren hat.

„Wenn ich sechs Hengste zahlen kann / Sind ihre Kräfte nicht die meinen?“, lässt Goethe Mephisto fragen und verweist damit auf die spezifische Bedeutung des Geldes im Kapitalismus. Denn wenn jemand das ist, was er kaufen kann, dann ist eben auch nicht mehr der Mensch der Geist aller Dinge, sondern das Geld.

Humanität war vor allem Lebenskunst

Lange bevor der Skandal des Handels mit Derivaten, die Spekulation mit Nahrungsmitteln, der Ausverkauf von Krankenhäusern, die Preisexplosion bei Mieten und vieles andere die destruktive Seite des Kapitalismus offenkundig gemacht haben, schildert Goethe den damals aufkommenden Kapitalismus als etwas höchst Irrationales. Als Wertschöpfung, die sozusagen aus dem Nichts gelingt. Macht und Reichtum erzielt nur, wer seine Seele verkauft, wer sich dem abstrakten Prinzip des Geldes ergibt. Für Goethe war Humanität vor allem Lebenskunst. Das Menschenwürdige entstand für ihn weder aus dem Eigennutz noch aus irgendwelchen Pflichtgeboten, sondern allein aus dem Leben selbst.

Von der lateinamerikanischen „Buen Vivir“-Bewegung konnte Goethe selbstredend noch nichts gehört haben. Ebenso wenig von Kongressen, die sich mit Lebensentwürfen jenseits von Wachstum beschäftigen: Auf unserem „Be-yond Aid“ Kongress, zu dem medico zusammen mit dem Institut für Sozialforschung im Februar an die Goethe-Universität eingeladen hatte, haben sich Wissenschaftler und zumeist jüngere Leute mit dem auseinandergesetzt, was in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ bereits anklingt: mit Lebensentwürfen, in denen der Fortschritt nicht mehr Zerstörung meint und sich das Interesse auch nicht mehr am persönlichen Vorteil, sondern am Gemeinwesen ausrichtet.

In der globalisierten Welt erfordern Alternativen transnationale Lösungen, die von den Menschen selbst getragen werden. Das klingt naheliegend, erweist sich in der Praxis aber als überaus kompliziert. Denn eine transnationale Öffentlichkeit, die auf alternative Lösungen drängen könnte, gibt es noch nicht; der „kosmopolitische Geist“ Goethes befindet sich noch immer erst im Werden.

Eben daran arbeiten wir bei medico. Zusammen mit unseren Partnern in aller Welt sind wir darum bemüht, erst einmal eine gemeinsame Sprache zu finden. Menschenrechte, Solidarität, Gemeingüter, Hilfe und Fortschritt – für keinen dieser Begriffe gibt es a priori ein gemeinsames Verständnis, eines, das guatemaltekische Kleinbauern mit indischen Ärzten und Selbsthilfegruppen in Sierra Leone teilen. Was die Leute gegenwärtig eint, ist nicht unbedingt die klare Vorstellung einer anderen Welt, sondern zuallererst das Leiden, die Erfahrung permanenter Menschenrechtsverletzungen, das Unbehagen an der Globalisierung.

Leiden bildet das Kontinuum der Geschichte

Aus der Perspektive derjenigen, die um ihr Überleben kämpfen, die auf der Flucht sind, die für Veränderungen streiten, bildet nicht der Fortschritt, sondern das Leiden das Kontinuum der Geschichte. Und weil das so ist, zielt die Unterstützung, die wir unseren Partnern in aller Welt zukommen lassen, immer auch darauf, das Leiden selbst beredt werden zu lassen. Sie erinnern sich: Das war die Forderung Adornos.

Immerhin: Mit der Globalisierung ist die Idee weltbürgerlicher Verhältnisse, von der auch Goethe geträumt hat, erstmals zu einer konkreten Möglichkeit geworden. Eine solche Globalität aber wird ohne die Menschen, die sie konstituieren müssen, nicht zustande kommen.

Auch wenn der gegenwärtige Zustand der internationalen Beziehungen Anlass zu größtem Pessimismus gibt, wollen wir bei medico doch nicht von der Idee lassen, dass Verständigung über alle Grenzen hinweg gelingen kann. Selbst unter so polarisierten Umständen wie im Israel-Palästina Konflikt setzen wir auf Zusammenarbeit, zum Beispiel von israelischen und palästinensischen Ärztinnen und Ärzten – ein Zeichen von Hoffnung, die vielleicht paradox anmutet, aber letztlich ohne Alternative ist.

Und so ganz unbegründet ist diese Hoffnung nicht: Organisiert von israelischen Künstlern haben in den letzten Tagen über 180 Künstler, darunter Ai Weiwei und Thomas Bayrle, Werke versteigern lassen, um den Erlös via medico genau dieser Zusammenarbeit zukommen zu lassen.

Nicht im Zwang zum Bekenntnis für die eine oder andere Seite liegt die Chance für den Frieden, sondern in der Begegnung. So hat es Goethe im „West-östlichen Divan“ notiert, wo er eine Zukunft jenseits von Dogma und einengendem Lagerdenken entwirft. Es sind nicht die kulturellen Unterschiede, die einer Verständigung zwischen Orient und Okzident entgegenstehen, sondern die Unfähigkeit, sich auf das Grenzüberschreitende, das Vielfältige und Mehrdeutige einzulassen.

Ein Vorschlag zum Schluss

Wenn wir Goethes „West-östlichen Divan“, den „Wilhelm Meister“ und den „Faust“ ernst nehmen, führt das mit fast zwangsläufiger Stringenz zu einem Vorschlag, den ich Ihnen und der Stadt Frankfurt zum Abschluss meiner Ausführungen ans Herz legen möchte. Einem Vorschlag, den Sie mit Blick auf die bedrohlich aus den Fugen geratene Welt nicht als Träumerei abtun sollten, sondern als etwas, das gerade wegen seines utopischen Überschusses höchst realistisch ist.

Stellen Sie sich vor, dass Frankfurt – durchaus in der Tradition Goethes – ein Zeichen setzt und die Schaffung eines Zentrums für Frieden, Nachhaltigkeit und Entwicklung ermöglicht. Ein Zentrum, das dem praktischen Bemühen um eine andere, eine solidarische Globalisierung ebenso gewidmet ist wie der sozialökologischen und der Friedensforschung.

Ein Zentrum, in dem Politik, Forschung und humanitäres Handeln eine Verbindung eingehen könnten. Ein Zentrum, das mithelfen könnte, Goethes „kosmopolitischen Geist“ im Kontext der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte bis hin zu Überlegungen für eine künftige Weltverfassung weiterzuentwickeln. Ein Zentrum, das bewusst ein Gegengewicht zur herrschenden Monokultur des Geldes setzt, die gerade hier in Frankfurt so dominant ist.

Ein solches Zentrum müsste übrigens nicht teuer sein; es ließe sich mit relativ geringem Aufwand zum Beispiel in den Gebäuden des ehemaligen Biologischen Instituts der Goethe-Universität einrichten und könnte Frankfurts Beitrag zur Post-2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung sein, über die derzeit in den Vereinten Nationen verhandelt wird.


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