"Zu den Eigenschaften…, die dem Unternehmertum heute noch in bedauerlichem Maße fehlen", so äußert sich Direktor Karl Lange in einem kürzlich gehaltenen Vortrag "Wirtschaftsdemokratie als organisierte Wirtschaftsfreiheit?", "gehört das Selbstbewusstsein - ich meine hier nicht den persönlichen Stolz des Einzelnen, sondern das Selbstbewusstsein des Unternehmerstandes als solchen." Lange definierte das von ihm geforderte Bewusstsein als ein "weltanschaulich fundiertes Selbstbewusstsein, ohne das sich heute keine Gruppe im öffentlichen Kampf behaupten kann." Macht man sich diese Ausdrucksweise zu eigen, so darf angefügt werden, dass der Mangel an weltanschaulicher Fundierung nicht nur die Position des Unternehmertums, sondern auch die der Angestelltenschaft beeinträchtigt. Denn das Leben der Abhängigen verlangt nach einer zureichenden Begründung des auf ihm lastenden Zwanges und muss sich umso mehr verkehren, je mehr die herrschende Schicht der richtigen Begriffe enträt. Stummheit oben setzt Verwirrung unten. Es fehlt nicht an Argumenten für die freie Privatwirtschaft. Man bestreitet auf der Unternehmerseite, dass sie im heutigen Stadium noch die wirtschaftlichen Kräfte anarchisch verschwende; man erhärtet anhand von Beispielen und Gegenbeispielen, dass sie wie kein anderes System die wirtschaftliche Produktivität zu steigern vermöge; man schreibt ihr allein die Fähigkeit zu, die Lage der arbeitenden Klassen dauernd zu heben. Die unerlässliche Voraussetzung der freien Privatwirtschaft ist der selbständige Unternehmer; also steht die Verteidigung seiner Souveränität im Mittelpunkt.
Von welchen Beweggründen wird der Unternehmer geleitet? Nach der üblichen Lehrmeinung ist das Interesse der Gesamtheit weniger das Motiv als die Folge seines Handelns. Er muss vor allem über die Eigenschaften verfügen, die ihm zum Sieg im Konkurrenzkampf verhelfen, der angeblich von selber den materiellen (und damit unausgesprochener Überzeugung nach auch den ideellen) Anstieg der Massen bewirkt. Kein Wunder, dass das Gewinnstreben ein positives Vorzeichen erhält. Wie von alters her angenommen wird, dient es zugleich der Allgemeinheit, indem es egoistische Ziele verfolgt. Entscheidende Unternehmerqualitäten sind ferner die Initiative und die Selbstverantwortung; wozu noch etwa die Lust am eigenen Gestalten und an der ökonomischen Macht tritt. Der Bestand des gegenwärtigen Systems, das als das beste gilt, wird mithin auf bestimmte naturale Eigenschaften der führenden Schicht gegründet; nicht aber auf den ausdrücklichen Willen dieser Schicht, die Ansprüche der Massen zu befriedigen.
Sämtliche Argumente zugunsten des herrschenden Wirtschaftssystems beruhen auf dem Glauben an eine prästabilierte Harmonie. Nach ihnen erzeugt die freie Konkurrenz von sich aus eine Ordnung, die durch Einsicht nicht beschworen werden kann, sichern Gewinnstreben, Initiative und Selbstverantwortung der Unternehmer von sich aus das Gedeihen der Massen besser als der auf dieses Gedeihen gerichtete Wille. Man mag die wirtschaftlichen Vorzüge des heutigen Systems aus der Erfahrung abzuleiten trachten, mag bis ins Einzelne nachzuweisen suchen, dass das Gewinnstreben des Unternehmers im Verein mit der Konkurrenz das optimale Sozialprodukt gewährleiste - zur gewünschten weltanschaulichen Fundierung der prästabilierten Harmonie zwischen den naturalen Unternehmereigenschaften und einer wirklich gültigen Ordnung genügen die beigebrachten Argumente nicht. "Es ist schon so", bemerkt Adolf Weber in seinem Buch "Ende des Kapitalismus?", dass "die Handlungen im volkswirtschaftlichen Leben weitreichender sind als die Gedanken der Handelnden, die wirtschaftliche Vernunft bedient sich gewissermaßen menschlicher Begierden und Triebe, ja sogar menschlicher Schwächen, um wirtschaftlichen Notwendigkeiten gerecht zu werden." Aber genau in diesem Falle ist es schlechterdings verwehrt, sich bei einer über den Köpfen waltenden Vernunft zu beruhigen, deren List die der Hegelschen offenbar gewaltig übertrifft. Gewiss ergreifen Instinkt und Intuition, was dem Bewusstsein erst nachträglich zugänglich ist; darum gilt indessen noch lange nicht, dass Vernunft die Konstruktion des Wirtschaftssystems von vornherein der Rechtfertigung durch das Bewusstsein verweigern müsste oder gar irgendwelche menschliche Schwächen vornehmlich dazu berufen seien, sie gewissermaßen im somnambulen Zustand zu verwirklichen. Der Verzicht auf die Erklärung eines so wunderbaren Einklangs ist keine weltanschauliche Deutung, sondern ein Verdrängungssymptom. Er wäre allenfalls verständlich, wenn die Tragik des Auseinanderwachsens menschlicher Begierden und menschlicher Wohlfahrt dargetan werden sollte und bodenloser Pessimismus sich sträubte, den Abgrund zu schließen. Argumenten, die alle den Unternehmer mit der Fähigkeit ausstatten, kraft seiner keineswegs dem Wohlergehen der Massen zugewandten Absichten das allgemeine Wohlergehen doch herbeizuführen, werden Erklärungen angeschlossen, die den unbewusst sich auslebenden Unternehmer außerdem noch zum Träger der rechten sozialen Gesinnung erheben. Nicht so, als ob sie des guten Glaubens ermangelten; aber sie erwachsen nicht folgerichtig aus der kapitalistischen Logik. Denn gehört das Gewinnstreben oder die Freude an der ökonomischen Macht zu den Bürgen der Ordnung, so ist die soziale Gesinnung eine Dreingabe, die weltanschaulich im Leeren schwebt, wie versöhnlich immer sie auch gemeint sein mag. Man kann sie auf Grund der kapitalistischen Voraussetzungen nicht fordern, sie ist vielmehr eine Konzession an die Arbeitnehmer. Von ihrer Unverbindlichkeit zeugt, dass sie im Konkurrenzkampf mit den ursprünglicheren kapitalistischen Begierden oft genug zurückgezogen wird. Angemessener als der Anbau humanitärer Gefühle ist diesen Begierden doch wohl die verbreitete Theorie, die das Unternehmen als solches zum Selbstzweck macht. Seine Verklärung ist in der Tat die einzige Möglichkeit, die Souveränität des Unternehmers der Sphäre subjektiver Machtansprüche zu entheben und auf eine objektive Gegebenheit zu gründen. Durch die Lehre von der Selbstherrlichkeit des Unternehmens gerät er scheinbar in Abhängigkeit von einem Höheren; er wird der Diener seines Werks wie der preußische König der des Staats.
Es ist dunkel oben, die Spitzen leuchten nicht.
Von den Unternehmern wird häufig das Misstrauen bedauert, das Arbeiter und Angestellte ihren guten Absichten entgegenbringen. Sie sollten sich über den Argwohn der Massen nicht allzu sehr wundern. Er rührt keineswegs allein von politischen oder gewerkschaftlichen Einflüssen her, sondern hat seinen tieferen Grund in dem Gefühl der Abhängigen, dass Menschenführung tatsächlich nicht das letzte Ziel der herrschenden Schicht sei. Und zwar büßen die Unternehmerargumente dadurch ihre werbende Kraft ein, dass sie die Heraufkunft einer gehörigen menschlichen Ordnung dem automatischen Ablauf der freien Konkurrenz überlassen. Also ist das Menschliche nicht gemeint, sondern ergibt sich höchstens im Nebeneffekt; also kann es sich nicht einmal ergeben, denn es muss angesprochen werden, um der Antwort fähig zu sein.
aus: Siegfried Kracauer: Die Angestellten, 1930.