Symposium 2019

Verstecke

Politische Blockaden auf dem Weg zur universellen Solidarität. Von Thomas Seibert

Die Frage, der wir heute nachgehen, ist die älteste Frage allen politischen Denkens, dem es auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität ankommt. In der Einladung zu diesem Symposium stellen wir sie als Frage nach dem „Verharren in einer selbstgewählten Ohnmacht“, die Philosophie spricht etwas schärfer noch von einer „freiwilligen Knechtschaft.“ In ihr gründet die merkwürdige Distanz, die die Philosophie zur Demokratie als ihrem höchsten politischen Ideal wahrt: der Verdacht, dass Demokratie im eminenten Sinn des Begriffs vielleicht immer ein Ideal bleiben wird, weil der Souverän der Demokratie, der demos, zu ihrer Verwirklichung nicht fähig, schlimmer noch: nicht willens ist.

Unsere Referent Georg Seeßlen verortet beide, die selbstgewählte Ohnmacht und die freiwillige Knechtschaft, in der „Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven.“ Diese Geschichte ist unsere Geschichte, die Geschichte der freiwilligen und unfreiwilligen Erbinnen und Erben der Französischen Revolution. Deren politischen Führern Maximilien de Robespierre und Louis Antoine de Saint-Just verdanken wir zwei nähere Bestimmungen der Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven: eine Feststellung und eine Warnung. Die Feststellung stammt von Robespierre und lautet: „Die Hälfte der Revolutionierung der Welt ist bereits geleistet, die andere Hälfte muss noch geleistet werden.“ Die Warnung stammt von Saint-Just und lautet: „Diejenigen, die die Revolution nur zur Hälfte machen, schaufeln sich nur ihr eigenes Grab.“ Beide Sätze beziehen sich ausdrücklich nicht auf die blutige Gewalt, mit der Robespierre und Saint-Just wie viele andere Revolutionär*innen nach ihnen gescheitert sind. Sie beziehen sich auf ihre späte, zu späte Einsicht, dass Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die Losungsworte der Revolution, nicht einfach additiv oder sonstwie äußerlich zusammengestellt werden dürfen, sondern in eine innere Fuge, eine gemeinsame Verfügung gebracht werden müssen, und dass ihre eigene Revolution diese Fuge und Verfügung noch nicht erreicht hat, weil sie nur die Revolution der Bourgeois und nicht wirklich die Revolution der citoyens, also die Revolution von wirklich allen war. Deshalb formuliere ihre Sätze von der erst zur Hälfte vollbrachten Revolution einen Auftrag: endlich zu Ende zu bringen, was damals begonnen wurde. Diesem Auftrag nicht zu genügen, ihn nicht zu übernehmen heißt, weiter in der Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven zu verharren.

Mein besonderer Auftrag besteht darin, die Verstecke auszuleuchten, in denen wir uns vor dem uns erteilten Auftrag verkriechen. Um das zu tun, beziehe ich mich jetzt auf den Begriff der Hegemonie, wörtlich der Vorherrschaft. Er besagt, dass moderne Gesellschaften nicht mehr einfach durch Zwang beherrscht werden, sondern durch einen hegemonialen Konsens, eine hegemoniale Übereinkunft zwischen den herrschenden Verhältnissen und den Beherrschten. Diese Übereinkunft bindet die Beherrschten zwanglos, also nicht bloß durch Gewalt und Not, also freiwillig in die Herrschaft ein, sie sorgt dafür, dass die Beherrschten ihrer Beherrschung aktiv zustimmen. Allerdings wird Hegemonie immer auch aus hinzutretendem Zwang gesichert: zunächst dem stummen Zwang der durch Hegemonie gesicherten Verhältnisse, wann immer nötig aber auch durch mehr oder minder offene Gewalt: Hegemonie, sagt Gramsci, regiert uns nur, insofern sie sich mit Zwang „panzert“.

Die Hegemonie, der wir heute unterworfen sind, bezeichnen wir als neoliberale Hegemonie. Der Neoliberalismus hat, das macht seine Besonderheit aus, die aktive Mithilfe der Beherrschten an ihrer Beherrschung gleichsam zur Sache selbst der Übereinkunft gemacht: das Dabeisein, das Dabeisein aus freien Stücken und das Dabeisein in erster Person sind selbst der Gewinn, der den Beherrschten für ihr Mittun versprochen wird. Der neoliberale Appell zum Mitmachen lautet: „Sei ganz Du selbst! Werde ganz Du selbst! Steigere Dein Selbst, steigere Dein Dasein, steigere Dein Leben, optimiere Dich, mach Dein ganz eigenes Ding, mach ganz Dein eigenes Ding, werde zum Unternehmer Deiner selbst in einer Welt freier Selbstunternehmer!“ Alle diese Aufforderungen laufen in der einen fundamentalen Aufforderung zusammen: „Sei frei und verwirkliche nichts als Dich selbst – nötigenfalls jenseits von Gut und Böse!“ Anders gesagt: wenn hegemoniale Herrschaft im Unterschied zur Zwangsherrschaft auf einer Übereinkunft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten beruht, dann macht die Übereinkunft neoliberaler Hegemonie nichts Geringeres als die Freiheit zur Sache selbst der Übereinkunft.

An dieser Stelle müssen wir uns den Begriff der Hegemonie allerdings noch einmal näher ansehen. Denn auch wenn die Beherrschung von Menschen durch Menschen immer schon auf Übereinkünften und insofern immer schon auch auf freiwilliger Knechtschaft aufruhte, gibt es die systematische Beherrschung durch Hegemonie nur in modernen Gesellschaften, d.h. in Gesellschaften, die sich in der einen oder anderen Weise der Französischen Revolution verdanken: also in den bürgerlich-kapitalistischen, in den gewesenen realsozialistischen und in postkolonialen Gesellschaften. Weil das so ist, gewinnen ein politisches, ökonomisches und kulturelles Projekt und seine Träger*innen nur dann Hegemonie, wenn sie erstens glaubhaft machen können, im allgemeinen Interesse, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln: moderne politische Ordnungen sind normativ ausnahmslos auf das Gemeinwohl verpflichtet. Glaubhaft wird der Anspruch auf Vertretung des Gemeinwohls in hegemonial verfassten Gesellschaften aber immer nur dann, wenn er zweitens die drei Losungsworte der Revolution – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – in ein Verhältnis zueinander setzt, das Mehrheiten überzeugt.

Das jeweils vorgeschlagene Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Solidarität kann von den um Hegemonie kämpfenden Parteien nun aber nicht willkürlich ausgestaltet werden: seine Überzeugungskraft muss sich vielmehr in der jeweils gegebenen historischen Situation, im konkreten historischen Prozess bewähren.

In Bezug auf den Neoliberalismus aber heißt das: Wenn er im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hegemonial werden konnte und seine Hegemonie bis heute trotz allem aufrechterhalten konnte, dann liegt das nicht einfach am taktischen Geschick der neoliberalen Ideologen, nicht bloß an Pinochet, Thatcher, Reagan, Kohl, Blair und Schröder und auch nicht nur an seiner Funktionalität fürs Kapital. Es liegt vielmehr daran, dass das spezifisch neoliberale Verhältnis, die spezifisch neoliberale Fuge der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität, die radikale Bevorzugung der Freiheit selbst um den Preis der Auflösung von Gleichheit und Solidarität, für uns Menschen der Gegenwart fundamental überzeugend war und ist – so überzeugend, dass Millionen Menschen überall auf der Welt noch heute glauben, dass der Neoliberalismus das Gemeinwohl aller und darin auch unser jeweils eigenes Interesse vertritt.

Wie aber ist das möglich? Meine These ist, dass sich der Neoliberalismus der historischen Erfahrung bemächtigt hat, die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weltweit von der Mehrheit der Menschen geteilt wird. Diese Erfahrung bezieht sich auf das Ganze der modernen Emanzipations- und Revolutionsgeschichte. Hat sie an ihrem Anfang die Dreifaltigkeit von Freiheit, Gleichheit und Solidarität verbindlich gemacht, so stand die Dreifalt zunächst unter dem Primat der Freiheit vor der Gleichheit und der Solidarität. Die klassisch-liberale Fuge und Verfügung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität aber geriet schon 1848 und zuletzt 1917 unter den Druck einer globalen sozialistischen Alternative zum Ganzen des Bestehenden. Auf das Jahr 1848 geht zugleich die zweite Alternative zurück, die sich dem klassischen Liberalismus in den Weg stellte: die des Nationalismus.

Verfügt der Liberalismus Freiheit, Gleichheit und Solidarität unter dem Primat der Freiheit, kehrten die realen Sozialismen und Nationalismen diese Fuge jeweils zugunsten der Gleichheit wie der Solidarität um. Von besonderer Fatalität war dabei, dass Sozialismus und Nationalismus mehrfach unheilige Allianzen eingingen: zuerst in den Faschismen der ersten Hälfte des 20. Jhdts. und in noch einmal anderen Formen nach dem Zweiten Weltkrieg, in den nationalen Wohlfahrtsstaaten zugleich des Westens, des Ostens und des postkolonialen Südens. Ihr bei allen Unterschieden Gemeinsames war, dass sie die Gleichheits- und Solidaritätsansprüche der bis dahin Ausgeschlossenen in den hegemonialen Konsens einbauten. Dies gelang ihnen, indem sie sie erst am materiellen und dann auch am symbolischen Reichtum ihrer Gesellschaften beteiligten. Dies gelang aber auch, in dem sie die Freiheit auf den dritten Platz verwiesen: manchmal bis zu ihrer völligen Löschung.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geriet der nationale Wohlfahrtsstaat überall auf der Welt in die Krise. Das hatte im Westen, im Osten wie im Süden wieder jeweils ganz eigene Gründe, aber auch wenigstens einen gemeinsamen Grund. Überall nämlich waren es die hegemonialen Einbindungen über die Arbeit, den Konsum und die in beiden zugesprochene Anerkennung, die brüchig wurden und in der Fuge und Verfügung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität neuerlich einen Vorrang der Freiheit einforderten. Ihren finalen Höhepunkt fand die Krise mit dem Einsturz der realsozialistischen Staaten erst des Ostens, dann des Südens und zuletzt auch des Westens. Besiegelt wurde der neuerliche Umsturz durch den technologischen und zugleich mehr als nur technologischen Wandel in den Produktionsverhältnissen, dessen Dynamik sich bis zum heutigen Tag fortsetzt.

Damit schlug die Stunde des Neoliberalismus: Er kann sich schon in den 1970ern, schließlich in den 1980ern als Anwalt des Gemeinwohls empfehlen und wird in den 1990er Jahren weltweit hegemonial. Diese Hegemonie verankert sich so tief und wird so unangreifbar, dass ihre Ideologen überzeugend sogar das Ende der Geschichte proklamieren konnten. Dies wiederum führte zu einer Lähmung des Politischen selbst, die noch heute Teil unserer Ohnmacht ist.

Das neoliberale Ende der Geschichte aber, so ließe sich einwenden, ist nun seinerzeit lange schon vorbei, die neoliberale Hegemonie bröckelt aller Orten, hat sogar vereinzelt schon zu „Sozialismen des 21. Jahrhunderts“ geführt. Sie ist auch der Grund dafür, dass sich in den letzten Jahren im Verhältnis von Herrschaft durch Hegemonie und von Herrschaft durch Zwang und Gewalt eine deutliche Verschiebung hin zu Zwang und Gewalt ausmachen lässt: global gesehen schon seit 9/11, dem vermutlichen Ende des Endes der Geschichte.

Damit bin ich endlich bei den Verstecken angelangt, in denen sich diejenigen verborgen halten, die sich eigentlich vom Neoliberalismus befreien wollen und sollen: wir eingeschlossen, freiwillig und unfreiwillig. Von zwei solchen Verstecken – den meines Erachtens wichtigsten – will ich jetzt reden. Das eine Versteck meint gar nichts anderes als der Neoliberalismus selbst. Das andere aber ist der Antineoliberalismus, besser gesagt: eine seiner Varianten, leider die bislang noch hegemoniale Art des Antineoliberalismus – ich nenne sie den rückwärtsgewandten Antineoliberalismus, mit ihm fange ich an. Im rückwärtsgewandten Antineoliberalismus, deshalb heißt er so, verstecken wir uns vor dem, was eigentlich an der Zeit wäre.

Was aber ist der rückwärtsgewandte Antineoliberalismus? Grundsätzlich gesprochen geht es ihm um eine gegen die Freiheit gerichtete Wende zurück zur Gleichheit und Solidarität, und zwar zu der des nationalen Wohlfahrtsstaats der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darin liegt: er will zugleich zum Staat zurück und zu dem, was den Staat trug und trägt, zur Arbeit. Deshalb richtet er sich – so sagt er das selbst – an die „fleißige und hart arbeitende Mitte der Gesellschaft“, von der er annimmt, dass sie zugleich über den richtigen Pass verfügt, den deutschen, den französischen, den britischen, italienischen, polnischen und ungarischen oder amerikanischen Pass. Ihr, dieser Mitte, wird der Schutz des Staates versprochen, der zuerst und zuletzt als Schutz vor den Fremden verstanden, eigentlich aber als Schutz vor der Weite und Offenheit der Welt gedacht wird, als Schutz vor allem vor der Globalisierung und vor dem, was auch von uns hier niemand abweisen kann: dem Unbehagen in der Globalisierung. Realisiert werden soll diese Sicherheit wo nötig polizeilich-militärisch an den inneren und den äußeren Grenzen jedweder Art. Realisiert werden soll sie aber auch durch die Arbeit, und zuerst durch den Schutz der Arbeit vor ihrer Prekarisierung, wortwörtlich also vor ihrer Verunsicherung. Das ist natürlich, ich möchte hier keinen Zweifel zulassen, an sich nicht falsch: bildet die rückhaltlose Prekarisierung der Arbeit doch den Kern aller neoliberalen Politiken. Falsch – rückwärtsgewandt – wird die Forderung nach einer Wieder-Versicherung der Arbeit erst im mehr oder minder offen gemeinten Zusammenhang: dem der nationalen Arbeit, zu schützen vor dem Zugriff von Fremden mit falschem oder gar keinem Pass, zu schützen aber auch vor der Konkurrenz der anderen nationalen Arbeiten und zu schützen schließlich vor der Infragestellung ihres Zwecks: vor der Frage nämlich, ob es richtig sein kann, all das zu produzieren, mit dem die nationale Arbeit seit so langer Zeit die eigenen und die Weltmärkte überschwemmt.

Schauen wir auf den Ernstfall, schauen wir auf den Sommer des Jahres 2015, den Sommer der Migration, und auf die auf ihm folgenden Debatten. Sie haben uns gezeigt, dass der Unterschied zwischen den bekennend rechten und den gewollt linken Varianten des rückwärtsgewandten Antineoliberalismus zuletzt, d.h. eben im Ernstfall, verschwimmen: Als es darum ging, die Grenzen dicht zu machen, als es darum ging, den Merkel-Satz „Wir schaffen das!“ zu bestreiten und zu denunzieren, da sammelten sich rechte und „linke“ Antineoliberale auf derselben Seite: auf der Seite derer, die die Grenzen dicht und das „Wir schaffen das!“ vergessen machen wollten. Und: Schauen wir auf die letzten Gründe, die dafür aufgerufen wurden, die Gründe, mit der die Schließung der Grenzen und die Verleugnung des „Wir schaffen das!“ zur Sache des Gemeinwohls erhoben wurden, dann waren es Ansprüche auf Gleichheit und Solidarität, reserviert allerdings auf die Gleichheit und Solidarität der jeweils eigenen nationalen Staatsbürger und auf die Gleichheit und Solidarität der jeweils eigenen nationalen Arbeit im Schutz vor weiterer Prekarisierung – im Schutz, das muss hier gesagt werden, vor einem Übermaß an Freiheit und Freizügigkeit. Ihr, der Freiheit und der Freizügigkeit, sollen Obergrenzen gezogen werden, im Namen der Solidarität der Gleichen des Staates und der Arbeit.

Damit bin ich beim zweiten Versteck angelangt, in dem sich nicht wenige vor der Herausforderung verstecken, den Neoliberalismus zu überwinden. Dieses Versteck ist der Neoliberalismus selbst. Genauer gesagt: es sind die Momente, die Züge an den neoliberalen Verhältnissen, in denen trotz allem Freiheitsfortschritte realisiert wurden. Das führt wieder auf den Satz vom „Wir schaffen das!“ Dass eine konservative deutsche Regierungschefin einen solchen Satz in einer solchen Situation ausspricht, wäre in vor-neoliberalen Zeiten undenkbar gewesen. In ihm kommt sehr viel zusammen, voran die Zustimmung zum Faktum selbst eines Wohnens in einer globalisierten Welt – wie ungerecht auch immer sie beschaffen sei. Dazu gehört, allem voran, die Zustimmung zur europäischen Einigung. Dazu gehört alles, was an der zutiefst ambivalenten Individualisierung und Modernisierung der neoliberalen Epoche als endliche Einlösung jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertealter Emanzipationsansprüche erfahren werden kann. Das konkretisiert sich in einer zumindest prinzipiellen Zustimmung zu allem, was seit den 1960er und 1970er Jahren nicht nur anders, sondern besser geworden ist. Die endliche Überwindung des postfaschistischen Nachkriegs. Die fundamentale Veränderung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Die prinzipielle Zustimmung zu einer demokratischen Regierungsform in einer stets neu auszuhandelnden Fuge der Ansprüche auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität: eine Zustimmung, die historisch niemals so stark war wie heute, trotz allem. Dazu gehört schließlich die nicht unbedingt theoretisch ausgearbeitete, doch ethisch, moralisch und auch politisch gefestigte Einsicht, nach der die Freiheit das übergreifende Moment in der Dreifalt von Freiheit, Gleichheit und Solidarität ist, das Moment, von dem her diese Dreifalt mehr als eine bloß zusammengerechnete, bloß additive Dreifalt ist, sondern innere Fuge und Verfügung in ein Gemeinsames.

Zum Sich-Verstecken in der neoliberalen Einhegung all dieser Freiheitsfortschritte aber wird diese Zustimmung zum historisch trotz allem Erreichten, wenn sie sich im Erreichten bloß einrichtet. Ohne Einzelnen hier zu nahe treten zu wollen, findet dieser faule Kompromiss, dieses Sich-Verstecken vor der eigentlichen Herausforderung seinen politischen Ausdruck in der Zustimmung zu schwarz-roten oder schwarz-grünen Koalitionen. Etwas allgemeiner gefasst drückt sie sich im bedingungslosen Sicheinhausen in eine Realpolitik aus, die sich den Blick aufs Ganze und auf die Notwendigkeit, die Dinge im Ganzen zu verändern, prinzipiell untersagt: ein Sicheinhausen im bloß Pragmatischen, das zuletzt ein Sicheinhausen ins Ende der Geschichte ist: diesmal von links.

Was die eben umrissene Haltung eines Sich-Versteckens im Neoliberalismus mit der offenen Zustimmung zum Neoliberalismus verbindet, ist das reduzierte Verständnis der Freiheit, die den Neoliberalismus kennzeichnet. Zu sagen, dass der Neoliberalismus die Dreifalt von Freiheit, Gleichheit und Solidarität unter einen bedingungslosen Vorrang der Freiheit stellt, ist tatsächlich nur die halbe Wahrheit. In Wahrheit hat der Neoliberalismus die derart erhöhte Freiheit zuvor zutiefst erniedrigt. Die Freiheit des Neoliberalismus ist genau besehen nur die Freiheit des seine Wünsche, Bedürfnisse und Interessen verfolgenden privaten Einzelnen. Es ist die Freiheit des homo oeconomicus. Sie ist das, was die Philosophie als negative Freiheit bezeichnet: die Freiheit, ohne äußere Zwänge das zu tun, was man will, ohne diesen Willen selbst wieder aus Freiheit zu bearbeiten.

Wenn die Philosophie von der negativen Freiheit spricht, dann tut sie das, weil sie auch eine positive Freiheit kennt. Ihre noch heute verbindliche Formulierung findet sie in der von Immanuel Kant geprägten sog. „Menschheitsformel“:

„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person einer jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1984: 79) Unter „Menschheit“ versteht Kant nicht die Gesamtmenge aller Menschen, sondern das, was uns Menschen zu Menschen macht. Dies, was uns zu Menschen macht, in unserer eigenen Person und in der Person aller anderen nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln, ist gar nichts anderes als die Freiheit selbst, und dieser Einsicht im Denken wie im Handeln zu folgen, ist die positive Bestimmung der Freiheit, die positive Freiheit. Mit ihr kann der Neoliberalismus so wenig anfangen wie der rückgewandte Antineoliberalismus. Dabei ist die positive Freiheit der Grund, warum tatsächlich gesagt werden kann, dass die Freiheit das übergreifende, das Zusammenhang und Einheit stiftende Moment in der Dreifalt von Freiheit, Gleichheit und Solidarität ist: Positiv frei zu sein heißt immer auch, die Gleichheit dieser Freiheit in allen Menschen anzuerkennen. Und: Es heißt, die Gleichheit in der Freiheit brüderlich, geschwisterlich, solidarisch zur sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Infrastruktur der Gesellschaft zu machen – weltweit. Man kann das auch anders herum ausführen, von der Gleichheit und der Solidarität her. Revolutionär, demokratisch, emanzipatorisch verstanden haben sie nämlich nichts mit der Gleichheit der einander sowieso schon Gleichen und schon gar nichts mit der Solidarität der Brüder, der Blutsbrüder zu tun, weil sie die Gleichheit wirklich aller und die Solidarität wirklich aller meinen. Die aber, das ist die erste Lektion der Geschichte, ergeben sich nie von selbst, nie auf natürliche Weise: sie ergeben sich immer nur aus einer freien Entscheidung zu ihrem revolutionären, demokratischen und emanzipatorischen, d.h. zu ihrem wortwörtlich abstrakten, von allem bloß Gegebenen, bloß Natürlichen abgezogenen: abstrahierten Sinn.

Wenn diese freie Entscheidung zur Gleichheit und Solidarität in der Freiheit nun aber unsere Aufgabe ist – die Aufgabe eines nach vorne gewandten Antineoliberalismus –, dann ruft sie uns in die Geschichte zurück, die noch lange nicht zu Ende ist. Sie ruft uns in den auch ganz handfesten Kampf um Hegemonie, d.h. um Herrschaft und Knechtschaft, Macht und Ohnmacht zurück. Wer hegemonial werden will, muss in diesem Kampf glaubhaft machen, das Gemeinwohl zu vertreten, und er oder sie muss dazu einen Vorschlag machen, wie genau denn nun Freiheit, Gleichheit und Solidarität aufeinander zu beziehen wären. Dieser Vorschlag muss die konkrete historische Erfahrung, die Erfahrung der Kämpfe um Freiheit, Gleichheit und Solidarität reflektieren, und er muss auch die Nöte reflektieren, denen diese Kämpfe entspringen. Ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung um die neoliberale Hegemonie ist aber nun die Behauptung, dass der Neoliberalismus sich des Mai 68 bedient, dass er an den Mai 68 angeknüpft und die Angriffe des Mai 68 auf die nationalen Wohlfahrtsstaaten nur zu ihrem Ende geführt habe. Diese Behauptung wird heute von rechts erhoben, prominent von der AfD, sie wird aber auch von „links“ erhoben, vom „linken“ Flügel des rückwärtsgewandten Antineoliberalismus.

Diese Behauptung ist falsch. Der Neoliberalismus hat nicht an den Mai 68 angeknüpft, sondern er hat umgekehrt an die Unterbrechung seines Laufs, auch an die Erschöpfung des Mai 68 angeknüpft. Dass eine historische Emanzipationsbewegung ihren Lauf unterbricht, dass sie sich erschöpft – das kann, das muss von allen historischen Bewegung gesagt werden: das habe ich gleich zu Beginn mit den Worten Robespierres und Saint-Justs erinnert.

Was aber war der Mai 68 – nicht nur seiner Philosophie, sondern seiner wirklichen, ganz materiellen Bewegung nach? Er war zunächst einmal mehr als der Pariser Mai: er begann in den 1950ern mit der Algerischen und der Kubanischen Revolution, und er dauerte bis zum Aufbruch der polnischen Solidarnosc in den 1980ern. In dieser Zeit war er der Versuch, die in den nationalen Wohlfahrtsstaaten erstarrte Emanzipations- und Revolutionsgeschichte in einer neuen Fuge und Verfügung der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität wieder in Gang zu setzen. Deshalb markiert der Mai 68 heute den wirklichen, höchst konkreten, ganz materiellen Ausgangspunkt eines Antineoliberalismus, der die neoliberale Hegemonie zu Fall bringen könnte: weil er dem Neoliberalismus nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Freiheit vorwirft: die Reduktion der Freiheit auf die negative Freiheit des zugleich borniert und verängstigt nur auf sich und sein Eigeninteresse vernagelten Privatindividuums. Sie ist die Form und der Inhalt unserer selbstgewählt Ohnmacht und unserer freiwilligen Knechtschaft, und sie resultiert aus nichts anderem als einer Angst vor der Freiheit – der positiven Freiheit, in der wir uns selbst frei und gegenseitig als Wesen anerkennen, die sich nie nur als Mittel, sondern immer auch Zweck behandeln sollen. Diese positive Freiheit hatten Marx und Engels im Sinn, als sie im Manifest der Kommunistischen Partei schrieben: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung einer jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ So rum, und nicht andersherum. Raus aus den Verstecken.

Veröffentlicht am 12. Juni 2019

Jetzt spenden!