Überleben Glückssache

Mittelmeer: MigrantInnen werden gezielt dem Tod überlassen

Das Projekt „Watch the Mediterranean Sea“ versucht unterlassene Hilfeleistungen nachzuweisen und die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer zu bekämpfen.

Von Hagen Kopp, Kein Mensch ist illegal (Artikel aus dem Rundschreiben 4/2013)

„Unser Boot sinkt, uns steht der Tod bevor, hier sind mehr als 100 Kinder an Bord. Bitte, helfen Sie uns, bitte!“ Als Dr. Mohamad Jammo am 11. Oktober 2013 mit diesen Worten per Satellitentelefon die italienische Küstenwache alarmierte, hoffte er noch auf eine rechtzeitige Rettung. Das Boot mit über 400 mehrheitlich syrischen Flüchtlingen war in der Nacht zuvor aus Libyen gestartet und bereits von einer Grenzpatrouille mit scharfer Munition beschossen worden. Der Notruf erfolgte um 11 Uhr vormittags etwa 100 Kilometer vor Lampedusa, doch trotz zwei weiterer Anrufe und exakter Positionsangabe taten die italienischen Behörden einfach nichts. Nach zwei Stunden verwiesen sie lediglich auf die Zuständigkeit Maltas, über 230 Kilometer entfernt. Das Boot sank um 17 Uhr, erste Rettungskräfte trafen eine halbe Stunde später ein und bargen 196 Überlebende. Über 200 Menschen, darunter viele Kinder, ertranken. Sie könnten leben, wenn sofort nach dem ersten Notruf Hilfe losgeschickt worden wäre. Mohammad Jammo arbeitete als Arzt in Aleppo, bevor er mit seiner Familie aus Syrien flüchten musste. Er selbst, seine Frau und ein Kind überlebten, zwei seiner Kinder ertranken. Zwei Kollegen waren ebenfalls an Bord und verloren ihre Liebsten. Alle drei haben einem italienischen Journalisten den Ablauf präzise beschrieben und suchen damit die Öffentlichkeit: „Wegen dieser unentschuldbaren Verzögerung haben wir unsere Familien verloren. Es hat keinen Sinn, still zu bleiben und damit zu riskieren, dass sich solcherart Tragödien wiederholen.“

Das Unglück dieser syrischen Bootsflüchtlinge ist nur eine Geschichte von tatsächlich 7.000 Flüchtlingen, die in den letzten Jahren allein im Kanal von Sizilien, dem Meer zwischen Libyen, Tunesien und Lampedusa, ihr Leben lassen mussten. Die jüngste Katastrophe fand nur acht Tage nach dem 03. Oktober statt. Da waren über 360 Flüchtlinge direkt vor der Insel Lampedusa ertrunken. Ein Aufschrei ging durch Politik und Medien. Doch während der Papst Fähren für die Bedürftigen forderte, entschieden sich die politisch Verantwortlichen in Brüssel für den Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex durch das zusätzliche elektronische Überwachungsnetz Eurosur. Also noch mehr Kontrolle. Aus 20 Jahren „Grenzmanagement“ wissen wir, dass dies nur noch mehr Tod und Leid bedeutet. Und wie der Ablauf vom 11. Oktober unmissverständlich zeigt: „Left to die“, das Sterbenlassen auf See, bleibt offenbar ein Element der europäischen Abschreckung und des unerklärten Krieges gegen Flüchtlinge.

Die Kontrolleure kontrollieren

Dieser Abschottungspolitik möchte in näherer Zukunft das unlängst gegründete Monitoring-Projekt „Watch The Med“ ein alternatives Alarmsystem entgegensetzen. Ein ambitioniertes Ziel, denn „Watch the Mediterranean Sea“ – so die Langfassung – soll auf einer interaktiven Karte basieren. Daten über die unterschiedlichen geographischen Verantwortungsbereiche der Seenotrettung sowie Einsatzzonen wären verzeichnet sowie mit weiteren Informationen, beispielsweise über Windbewegungen und Strömungen, kombinierbar. Verknüpft mit Satellitenfotos und Notrufaufzeichnungen oder – in Küstennähe – auch Handydaten sowie insbesondere mit den Zeugenaussagen von überlebenden Flüchtlingen können so Bewegungsbilder von Flüchtlingsbooten erstellt werden und gegebenenfalls auch unterlassene Hilfeleistung nachgewiesen und vor Gericht gebracht werden. Mit dieser im Aufbau befindlichen zivilgesellschaftlichen Geodatenbank sollen die üblich gewordene Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen auf See eingeschränkt und die Grenzkontrolleure kontrolliert werden. Dazu werden Informationsmaterialien für Migranten und Flüchtlinge wie auch für Fischer und Seeleute erstellt.

Informationen für Betroffene

Das Projekt will nicht nur exemplarisch Todesfälle und Verantwortlichkeiten rekonstruieren, sondern auch den rechtswidrigen Push-Back-Operationen nachgehen. Das sind die lebensgefährlichen Abdrängaktionen der griechischen Küstenwache, wie sie in der Ägäis an der Tagesordnung sind. Noch utopisch, aber technisch denkbar, sind sogar Echtzeitinterventionen, um sofortige Rettungseinsätze - wie sie im oben beschriebenen Fall unterblieben - durch rasche Öffentlichkeitsaktionen zu erzwingen. Aber das setzt nicht nur ein unabhängiges Notrufsystem, ein funktionierendes Kontaktnetz sowie eine entsprechende Ausrüstung der betroffenen Migranten voraus, sondern auch ein handlungsfähiges zivilgesellschaftliches Netzwerk auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Gegenwärtig sind die Kapazitäten und Kontakte dafür noch zu schwach. Aber in einer Folge von steten Treffen diesseits und jenseits des Mittelmeers wurden zwischen antirassistischen Netzwerken aus Europa und maghrebinischen Angehörigen von auf dem Meer Verschwundenen erste Verabredungen auf den Weg gebracht.

Wendepunkt Lampedusa?

Eine Woche nach der Tragödie vom 03. Oktober hat der Kölner Rockmusiker Wolfgang Niedecken in einer ARD-Talkshow einen bemerkenswerten Vergleich formuliert: Er hoffe, dass der grausame Tod der Boatpeople vor Lampedusa zum „Fukushima der Flüchtlingspolitik“ werde und die Abkehr von der grausamen europäischen Grenzpolitik einleite. Noch ist es leider längst nicht soweit. Aber nicht nur der ungewohnt kritische öffentliche Diskurs gibt Hoffnung, auch die anhaltenden selbstorganisierten Proteste von Flüchtlingen und Migranten, von Lampedusa bis Hamburg, machen Mut. Erleben wir doch eine neue und anhaltende transnationale Vernetzung der Kämpfe für das Recht auf Bewegungsfreiheit aller Menschen in Europa, die für die jüngere Geschichte der Migration einmalig sind. Nach den Toten vor Lampedusa wurde die Kritik an Europas unerbittlicher Grenze nachhaltiger. Und nicht erst seit Edward Snowdon und dem NSA-Skandal wissen wir, dass auch die Überwachenden ihre Spuren hinterlassen, ob sie wollen oder nicht. Diesen Umstand will sich das Projekt „Watch The Med“ zunutze machen, dass seine Initiatoren als einen Akt der „forensischen Ozeanographie“ bezeichnen. Es geht um die Rechte und den Schutz der Schutzlosen, die über das Meer zu uns fliehen. medico unterstützt Watch the Med bei der technischen Weiterentwicklung der Karten und für Recherchereisen zu Überlebenden.

Veröffentlicht am 25. November 2013

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