Als am 30. März 2018 der „Große Marsch der Rückkehr“ mit Protestzügen zu dem Zaun, der Israel vom Gazastreifen trennt, begann, flackerte bei der Bevölkerung Hoffnung auf. Die Stimmung war fast euphorisch, schien mit der von zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Gaza initiierten Aktion endlich ein Weg gefunden, jenseits der periodischen militärischen Eskalationen und auch jenseits der Kontrolle durch die Hamas politisch handeln zu können. Selbstbestimmt und gewaltfrei wollte man auf das Unecht der anhaltenden Abriegelung aufmerksam machen. Natürlich hofften die Menschen darauf, dass die Welt – wer auch immer dies ist – die israelische Regierung dazu bewegen würde, die Blockade des Gazastreifens wenn nicht aufzuheben, so doch wenigstens zu lockern und die Lebensbedingungen zu verbessern. Die Hoffnungen wurden doppelt enttäuscht. Zum einen beantwortete die israelische Armee die weitgehend friedlichen Proteste mit dem Einsatz von Scharfschützen. Laut dem Bericht der von der UNO berufenen unabhängigen Untersuchungskommission wurden im Laufe des Jahres durch scharfe Munition 183 Menschen getötet und weitere 6.106 verletzt, darunter 79, die als Gesundheitspersonal und Presse erkennbar waren. Ein Opfer war die sichtbar als Ersthelferin gekennzeichnete 21-jährige Razan Al-Najjar des medico-Partners Palestinian Medical Relief Society (PMRS), die sich zum Zeitpunkt ihrer tödlichen Verwundung etwa 100 Meter vom Zaun entfernt aufhielt.
Zum anderen waren viele davon enttäuscht, wie sich alle politischen Parteien in Gaza, allen voran die Hamas, der Proteste bemächtigten. Mögen das Hohe Nationale Komitee, bestehend aus allen Fraktionen, und die zwölf Unterkomitees, die die Organisation der Demonstrationen übernommen hatten, bis heute gemischt besetzt sein: Kein medico-Partner in Gaza zweifelt daran, dass die Hamas schnell die Kontrolle über die Proteste, den Zugang zu den Protestcamps und zum Zaun weitestgehend übernommen hatte.
Am Tiefpunkt: Keine Unterstützung, keine Vision
Weshalb zahlreiche Menschen, die selbst keine Hamas-Anhänger sind, bis in den Herbst 2018 dennoch immer wieder mitdemonstrierten, resümierte ein in Gaza lebender palästinensischer Freund der israelischen Journalistin Amira Hass: „Wir sind ein Volk ohne Ressourcen, und jetzt auch ohne eine Vision oder einen Plan, am absoluten Tiefpunkt, was internationale Unterstützung und interne Organisation angeht. Aber wir gingen demonstrieren, um die Feierlichkeiten zum Umzug der US-Botschaft zu sprengen. Wir gehen protestieren, um nicht still und leise in unseren Häusern zu sterben.“ Jener 14. Mai 2018, als US-Präsident Donald Trump seine Verachtung für das Völkerrecht zur Schau stellte, indem er nach der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels das dortige Konsulat feierlich zur US-Botschaft aufwerten ließ, wurde für die Protestierenden in Gaza zum verlustreichsten Tag des Jahres.
Palästinensische und israelische Partnerorganisationen von medico engagierten sich im Gazastreifen seit Beginn der Demonstrationen. Die PMRS leistete nicht nur erste Hilfe in der Nähe der Sperranlagen, sondern kümmert sich auch um die medizinische Nachversorgung Verwundeter. Für Verletzte, die bleibende Schäden zurückbehalten oder Gliedmaßen verloren haben, bietet der medico-Partner Physiotherapie und die Ausstattung mit orthopädischen Hilfsmitteln an. Das Al Mezan Menschenrechtszentrum (Gaza) und Adalah (Haifa) legten beim Obersten Gerichtshof Beweise dafür vor, dass getötete und verletzte Personen in vielen Fällen keine akute Bedrohung für irgendwen dargestellt hatten, und forderten eine Revision der Einsatzregeln für die israelische Armee. Auch fünf ehemalige Scharfschützen, die mit dem medico-Partner Breaking the Silence verbunden sind, sprachen in einem offenen Brief von „Scham angesichts von Befehlen, die frei von Moral und ethischem Urteilsvermögen“ seien. Die Organisation kritisierte den Einsatz öffentlich. Die Physicians for Human Rights–Israel schließlich brachten medizinische Ausstattung, Medikamente und Bedarfsmaterialien mit einer fachärztlichen Delegation nach Gaza. Zudem wurden Verwundete dabei unterstützt, die notwendigen israelischen Genehmigungen zu erwirken, um den Gazastreifen zwecks weiterführender Behandlungen verlassen zu können. In vielen Fällen war dies nur durch die Intervention von Anwälten möglich, in einigen Fällen selbst dann nicht.
Auf dem Weg zur Ethnokratie
In der Bevölkerung von Gaza ging die Enttäuschung über die eigene politische Führung weit über die Aneignung des Großen Marschs hinaus. Sowohl 2018 als auch im März 2019 zeigte sich in friedlichen Demonstrationen Tausender Menschen die massive Unzufriedenheit mit den Machthabern. Ihre schlichte Forderung lautete: „Wir wollen leben.“ Die Hamas ließ die Proteste gewaltsam auseinandertreiben und Hunderte verhaften. Trotz der dringenden Aufforderung durch zehn palästinensische Fraktionen, die Rechte der Demonstrierenden zu respektieren, unterdrückte die Hamas das Aufbegehren der Bevölkerung gewaltsam. Protest wird im Gazastreifen nur dann geduldet bzw. ermutigt, wenn er sich gegen Israel als Besatzungsmacht richtet.
In Israel hingegen nutzten Benjamin Netanjahu und seine Regierungskoalition den Rückenwind aus den USA und brachten im Juli das Nationalstaatsgesetz durch die Knesset, das den jüdischen Charakter des Staates festschreibt. Für die Protestierenden im Gazastreifen war das eine klare politische Absage an ihre zentrale Forderung, ihr Recht auf Rückkehr. Auch die Diskriminierung der palästinensischen Staatsbürgerinnen und -bürger Israels wird damit weiter festgeschrieben. Die seit Jahren von der Rechten propagierte Schaffung einer jüdischen Ethnokratie in Israel wird in den Rang eines Grundgesetzes erhoben, das zum Beispiel die Verwirklichung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung exklusiv dem jüdischen Volk zuspricht, Arabisch als Amtssprache abschafft und den Ausbau jüdischer Städte zur nationalen Priorität erklärt. Diesseits und jenseits des Zaunes haben sich die politischen Verhältnisse 2018 weiter verfinstert.
Im Nahostkonflikt besteht medico an der Seite grenzüberschreitender Initiativen darauf, dass das Recht auf menschenwürdige Lebensverhältnisse für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan gilt. Für die Unterstützung unserer israelischen und palästinensischen Partnerorganisationen bitten wir um Ihre Unterstützung unter dem Stichwort: Israel/Palästina