Sackgasse der Verzweiflung

Die mauretanische Hafenstadt Nouadhibou war schon immer ein Ziel- und Sehnsuchtsort afrikanischer Migranten. Hier ist das Tor zu den Kanarischen Inseln, und hier begann der Sprung über das Meer in ein erhofftes besseres Leben. Nouadhibou, mit Fischerei- und Erzhafen das Wirtschaftszentrum des Landes, hat heute ca. 160.000 Einwohner, davon geschätzte 10.000 - 40.000 Migranten, von denen ca. 70% letztendlich nach Europa oder Nordamerika weiterreisen wollen. Die meisten von ihnen kommen aus West- und Zentralafrika, unter ihnen immer mehr Frauen und Familien.

War die Stadt früher ein Ort des Transits nach Europa, ist sie heute eine Sackgasse der Verzweiflung. Das europäische Grenzregime presst hier Tausende in eine feindliche Umgebung, in der sie gezwungen sind zu verweilen, die zum Sterben zu viel, aber zum Leben umso weniger bietet. Seit 2003 leitet der nigerianische Pater Jerome die über 60 Jahre alte Mission, deren Gemeinde nur aus Migranten besteht. Teil der Seelsorge des neuen medico-Partners ist nicht nur eine Rechtsberatung, sondern auch Gesundheitsversorgung, die sich als lebensrettend erweist.

Europas langer Arm bringt hier den Tod – Ein Interview mit Pater Jerome, der in Mauretanien Migranten betreut

Wie ist die Situation der Migranten in Nouadhibou? Mauretanien ist ein zu 99% muslimisches Land?

Das Leben der Migranten hier ist außergewöhnlich. Wenn ich von Migranten spreche, dann meine ich subsaharische Afrikaner. Sie sind angreifbar, weil sie schwarz, weil sie Afrikaner und weil sie Migranten sind - und, wenn auch nicht alle, den christlichen Glauben praktizieren. Wir hören jenen zu, die hierher kommen und versuchen ihnen auch spirituell beizustehen.

Die Stadt war schon immer ein Ort der Arbeitsmigranten und nicht allein ein Transitraum auf dem Weg auf die Kanarischen Inseln und nach Europa…

Nouadhibou war immer ein Ort vieler Wünsche. Menschen kamen um zu arbeiten, um ein besseres Leben zu finden, manche nahmen ein Boot nach Europa. Aber längst ist die Stadt eine Sackgasse, die die Migranten nicht mehr verlassen können. Europa will diese Menschen nicht und nur die allerwenigsten können zurück. So stehen sie auf einem Grat zwischen zwei Abgründen. Ohne jemanden, der ihnen zuhört, verlieren diese Unglücklichen jedes gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl. Wir versuchen, ihnen auch praktisch zu helfen. An erster Stelle steht die Gesundheitsversorgung. Der mittellose Migrant, der niemanden kennt, ist Krankheiten schutzlos ausgeliefert. Deshalb bieten wir eine Basisgesundheitsversorgung an, leisten Erste Hilfe und haben einige Medikamente vorrätig. All dies geschieht so weit als möglich kostenlos.

Seitdem die europäische Grenzschutzagentur Frontex in Nouadhibou präsent ist, wird es für schwarze Menschen fast unmöglich, sich am Strand aufzuhalten, weil sofort eine illegale Überfahrt nach Europa vermutet werden kann…

Nouadhibou ist mittlerweile ein „Vorhof“ Europas, und Frontex übt einen solchen Druck aus, dass es für Afrikaner inzwischen sogar schwierig ist in afrikanischen Ländern zu leben. Heute verfolgen dich in einer Stadt wie Nouadhibou, von der du denkst, dass du da zumindest überleben kannst, de facto europäische Gesetze - egal ob du bleiben oder ein Boot nach Europa nehmen willst. Früher war die Arbeit der Migranten erwünscht, ob nun im Fischereihafen oder bei der Erzverladung; heute sollen sie möglichst unsichtbar bleiben. Selbst ich wurde dreimal eingesperrt, schikaniert und getreten, weil ich schwarz bin, nicht von hier komme und die Polizisten meine Identität nicht kannten.

Die Leute sind um die 20 Jahre alt, wenn sie hier ankommen, dann beginnt das Warten und fast alle verlieren ihre Zukunft. Wie gehen Sie als Priester damit um?

Tatsächlich wurde mein Glaube erstmals in Nouadhibou wirklich geprüft. Zu Anfang wollte ich nur fort, weil ich diese hoffnungslose Welt nicht aushalten konnte. Jeden Tag sah ich die Menschen sterben und es laugte mich unendlich aus, sie zu begraben, anstatt ihnen zu helfen. Dann entschied ich mich, gegen dieses Sterben zu kämpfen. Ich begann, in meinen Gottesdiensten über die Probleme der Migration zu sprechen. Ich versuche Mut zu machen, benenne aber auch die Verantwortlichen und besuche dafür Seminare und Tagungen, auch in Europa. Die Not resultiert aus wirtschaftlichen Interessen. Europa interessiert sich für Absatzmärkte und die mauretanische Regierung verkauft das Schicksal von Menschen, die noch nicht mal ihre Staatsbürger sind, in lukrativen Verträgen an Europa. Europas langer Arm bringt hier den Tod.

Wenn Gemeindemitglieder auf ein Boot nach Europa wollen, was sagen Sie ihnen?

Ich spreche über die Schmerzen und die Gefahren der Überfahrt, aber ich überlasse jedem die freie Entscheidung. Nur wer ein kleines Kanu nehmen will, den versuche ich davon abzuhalten.

Leiden Frauen besonders unter den Umständen?

Ihre Situation ist entsetzlich, weil Frauen so angreifbar sind. Viele werden zur Prostitution gezwungen. Da sie massiv von Aids bedroht sind, bieten wir ihnen Kondome an. Es wäre ziemlich lausig von mir, ihnen nur zu predigen, dass sie sich nicht prostituieren sollen. Sie tun es, weil sie es tun müssen. Zumindest die Ausbreitung von Aids versuchen wir einzudämmen. Denn wir haben schon oft Menschen begraben müssen, die an dem Virus starben.

Gibt es Aussicht auf Besserung?

Die Hoffnung ist das tägliche Brot des Glaubens. Wir dürfen nicht nur anklagen, sondern müssen etwas tun. Laut unseren Aufzeichnungen haben wir im letzten Jahr 380 Migranten aufgenommen; ich denke, wenn eine Gemeinde von nur 150 Mitgliedern das Leben von 380 Menschen retten kann, dann kann die globale Welt weitaus mehr tun.

Das Interview führte Martin Glasenapp.

Projektstichwort

Eine Krankenschwester, Medikamente, Sensibilisierungskurse über sexuell übertragbare Krankheiten, aber auch gelegentliche Kostenübernahme bei gesundheitsbedingten Rückführungen bzw. im Todesfall in die Heimatländer: Auf Empfehlung unserer langjährigen lokalen Partner der Assoziation der Menschrechtler in Mauretanien (AMDH) unterstützt medico seit diesem Jahr die Gesundheitsdienste der Mission in Nouadhibou. Das Stichwort der Solidarität heißt: Migration.

Veröffentlicht am 01. Dezember 2011

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