General Assembly

Revolutionstheater

In Berlin tagte die erste Generalversammlung des Globalen Dritten Standes.

Von Thomas Seibert

Seit Anbeginn der Moderne suchen und fliehen sich Politik und Kunst. Weil die auf das Jahr 1789 folgenden Revolutionen ihre Versprechen nicht realisieren konnten, bewahren Gedichte, Gemälde, Theaterstücke oder Filme ihr Unabgegoltenes, aber auch ihre Abgründe auf. Jedem neuen „Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte“ (Benjamin) gehen künstlerische Revolutionen voraus. Was im 20. Jahrhundert erst der Dadaismus, dann der Surrealismus und zuletzt die Situationisten versuchten, ist heute die Tradition geworden, in die sich das Theater des „Globalen Realismus“ stellt. Sein Regisseur Milo Rau rief deshalb vom 3. bis 5. November 2017 aus allen Kontinenten der Welt 60 „Abgeordnete“ nach Berlin, die sich dort zur ersten „Generalversammlung des Globalen Dritten Standes“ trafen. Mit von der Partie: drei medico-Partner aus Pakistan und Simbabwe.

Eine Art Weltparlament von unten

Tagungsort war der große Saal der Schaubühne am Lehniner Platz. Vorne saßen das Sitzungspräsidium, die Protokollanten und die „politischen Beobachter“: Intellektuelle wie die Politikwissenschaftlerinnen Chantal Mouffe und Ulrike Guérot oder der Philosoph Armen Avanessian. Vom Rednerpult aus wandten sich Abgeordnete oder politische Beobachter im strengen Fünf-Minuten-Takt ans Plenum. Das wiederum setzte sich aus den Abgeordneten und den Zuschauern zusammen: Der Saal war an allen Tagen ausverkauft. Diskutiert wurden die drängendsten Probleme der kapitalistischen Globalisierung und die Forderungen, die ihr überall auf der Welt in den Weg gestellt werden. Nach teils heftigen Debatten fassten die Abgeordneten bindende Beschlüsse. Nicht alle Anträge, die vorgelegt wurden, fanden Zustimmung. In den nächsten Wochen wird daraus eine „Charta des 21. Jahrhunderts“ entstehen, sie soll das Programm der Kämpfe dieses Jahrhunderts umreißen. Natürlich wird die „Charta“ nur ein papiernes Dokument von zwei, drei Seiten sein. Mehr aber war zu ihrer Zeit auch die „Allgemeine Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger“ nicht, die 1789 von den „Generalständen“ des französischen „Dritten Standes“ verabschiedet wurde.

Tatsächlich knüpfte die Generalversammlung in der Schaubühne unmittelbar an ihr französisches Vorbild an. Auch die „États Généraux“ waren kein legitimes Verfassungsorgan, sondern mussten sich selbst erst dazu machen. Nicht entscheidungsbefugt war auch der französische „Dritte Stand“. Er hat sich 1789 zur Entscheidung ermächtigt, in einem Akt, der zu seiner Zeit illegal und darin eben revolutionär war. Der Globale Dritte Stand ist heute in keiner besseren, er ist sogar in einer schlechteren Position. Wäre seine Generalversammlung eine rein politische Aktion gewesen, hätte sie Kopfschütteln und Achselzucken hervorgerufen. Doch fand sie auf der Bühne statt und war insofern eine Aktion der Kunst – eifrig debattiert und kontrovers kommentiert von allen wichtigen Zeitungen der Republik. Per Livestream war die Versammlung zeitgleich in mehreren Theatern Europas und auf der Webseite von medico zu sehen. Da der französische „Dritte Stand“ zur Legitimierung seiner Selbstermächtigung auch die Abgeordneten des Ersten und des Zweiten Standes – des Adels und des Klerus – eingeladen hatte, lud der Globale Dritte Stand die Mitglieder des Deutschen Bundestages zur Teilnahme ein – ein Ruf, dem immerhin mehrere Abgeordnete Folge leisteten.

Auf der Eröffnungssitzung am Freitagabend rechtfertigte die bangladeschische Sitzungspräsidentin Kushi Kabir den höchst prekären Akt der revolutionären Anmaßung mit eindringlichen Worten: „Die Frage ist nicht, wer euch das Recht gegeben hat, eure Rechte einzufordern, sondern wie ihr so gedankenverloren, ja so verrückt sein konntet, das nicht längst getan zu haben.“ Die Veteranin des bangladeschischen Unabhängigkeitskriegs von 1971 – eine weitere Revolution, die hinter ihrem Versprechen zurückblieb – benannte dann auch, wer der Globale Dritte Stand eigentlich sein soll. Zunächst gehören ihm Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika an, allesamt Betroffene deutscher Politik, die in Deutschland aber nicht das Recht haben, gehört zu werden: „Es ist nicht so, dass wir, die Vertreterinnen und Vertreter von Millionen Opfern dieser Welt, keine Stimme hätten. Das Problem ist, dass ihr uns nicht zuhört“, sagte die Ökonomin, Autorin und Aktivistin Ala’a Shehabi, Abgeordnete aus Bahrain. Ab jetzt aber werden all diejenigen zum Globalen Dritten Stand gehören, die die Beschlüsse der Generalversammlung als für sich bindend anerkennen. „Ist das noch Kunst – oder schon Politik?“, fragte sich da eine Zuschauerin.
 

Auf der Eröffnungssitzung wie auf den sechs „Plenarsitzungen“ am Samstag und Sonntag wurde deutlich, warum der heutige „Dritte Stand“ nur ein globaler sein kann. Ob es um die Militärinterventionen in Jugoslawien oder Afghanistan, um die Verwüstung ganzer Landstriche durch den Anbau von Soja oder Palmöl, um die mörderischen Arbeitsbedingungen der südasiatischen Textilproduktion, um die Massenvertreibungen von Kleinbäuerinnen in Afrika oder Lateinamerika, um das Abholzen der Regenwälder oder das Leerfischen und die Verschmutzung der Meere, um das Abschmelzen des Eises am Nordpol oder die Massaker an streikenden Arbeitern in Brasilien oder Südafrika ging: In jedem einzelnen Fall legten die Abgeordneten überzeugend dar, dass Politik im 21. Jahrhundert stets Weltinnen- oder Weltsozialpolitik sein muss. Der Nationalstaat hat, das wurde immer wieder gesagt, jedes Potenzial verloren, um Freiheit, Gleichheit und Solidarität voranzubringen.

Zusammenhänge globalen Unrechts

Dabei oblag es dem medico-Partner Nasir Mansoor von der pakistanischen National Trade Union Federation (NTUF), auf dem inneren Zusammenhang der verschiedenen Berichte vom Unheil und Unrecht der Weltverhältnisse zu bestehen. Deshalb verwies er zunächst darauf, nicht nur für die Textilarbeiter zu sprechen, die am 11. September 2012 in einer Fabrik in Karatschi verbrannten – einer Fabrik, deren wichtigster Auftraggeber der deutsche Discounter KiK und dessen Kundinnen und Kunden in deutschen Einkaufszentren waren: „Der Name in meinem Personalausweis tut nichts zur Sache. Nennen Sie mich Nasir Mansoor, bei dem Namen, unter dem ich als Aktivist bekannt bin. Ich bitte Sie um diesen Gefallen, weil ich hier für alle diejenigen das Wort ergreifen möchte, die man wie mich als Aktivisten und Aktivistinnen bezeichnet. Weltweit geht unsere Zahl in die Millionen. Viele von uns tragen einen selbstgewählten Namen – aus Sicherheitsgründen, aber auch zur Bewährung der im politischen und sozialen Aktivismus errungenen Freiheit.“

Die Gemeinsamkeit der Aktivisten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, aber auch Nordamerikas und Europas sah Mansoor in der Forderung, der Globalisierung der Märkte endlich eine Globalisierung der Demokratie entgegenzusetzen. Natürlich wusste auch Nasir Mansoor nicht zu sagen, wie genau eine solche Demokratie verfasst sein wird. Umso entschiedener aber bat er um Unterstützung für ihren nächsten Schritt. Wenn die Einheit der Welt heute zunächst durch die globalen Liefer- und Produktionsketten des Kapitals und den freien Fluss der Waren hergestellt wird, dann sei es höchste Zeit, das Handeln der transnationalen Konzerne den politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Menschenrechten zu unterstellen. Deshalb rief er die Generalversammlung zur Unterstützung des sogenannten „Treaty“-Prozesses auf, in dem die UNO genau das erreichen will. Zugleich forderte er die Versammlung auf, die Blockadepolitik der deutschen Regierung in diesem Prozess deutlich zu kritisieren. Darum müsse, so sein Antrag, der Ruf nach Durchsetzung des Menschenrechts in den Liefer- und Produktionsketten ausdrücklich in die Präambel der „Charta des 21. Jahrhunderts“ aufgenommen werden.

Grenzen der Versammlung

Bezeichnenderweise geriet die Generalversammlung gerade mit dieser Forderung an eine ihrer Grenzen. Nicht, dass sie keine Unterstützung fand, im Gegenteil. Doch meldeten sich zugleich Abgeordnete zu Wort, denen es um die Rechte der Tiere, die Rechte von Cyberorganismen und zuletzt um die Rechte der Lebenden geht, die niemals in diese Welt geboren werden wollten. Strittig blieb dabei immer auch die Generalversammlung selbst. Wer eigentlich, so wurde gefragt, hat vorab über die Anträge entschieden, die den Abgeordneten zur Abstimmung vorlagen? Wer hat über die Einladungen entschieden, die den sechzig Abgeordneten zugingen – nicht aber den mindestens sechzig anderen, die an ihrer Stelle hätten eingeladen werden können? Warum konnte ein türkischer Abgeordneter gleich mehrmals seinen Präsidenten Erdogan verteidigen? Besonders in diesem Fall schlugen die Wellen der Empörung hoch und unterbrachen den Fortgang der Versammlung. Doch so unerträglich es war, Zeuge einer Leugnung des Genozids an den Armeniern zu werden: Wäre ein Ausschluss dieses Abgeordneten eine gute Antwort auf die Frage der Grenzen der Demokratie gewesen? Sind frühere Revolutionen nicht gerade an ihren Ausschlüssen gescheitert – und an der Gewalt, mit der sie durchgesetzt wurden?

Den Abschluss der Generalversammlung bildete eine Aktion, der ihr Regisseur Milo Rau den Namen „Sturm auf den Reichstag“ gegeben hatte. 200 Aktivisten stellten das Foto nach, das den Angriff der Bolschewiki auf das Winterpalais zeigen soll. Wir wissen, dass dieses Foto gestellt war und die Szene so nie stattgefunden hat. Wie die ganze Generalversammlung des Berliner Novembers 2017 blieb deshalb auch der Sturm auf den Reichstag ein Bühnenspiel – wenn auch ein global realistisches. Es liegt an uns, den globalen Realismus der Kunst zum Realismus einer endlich globalen Politik, einer Politik der globalen Demokratie zu machen: von jetzt an.


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2017. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 28. November 2017

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