Projekte der Emanzipation fördern

02.12.09   Lesezeit: 4 min

Warum ich mich als Umherreisender mit einer Hilfsorganisation in Frankfurt verbunden fühle. Von Michael Obert.

Manchmal erhalte ich erboste Zuschriften, die mir vorwerfen, aus Ländern wie Afghanistan, Sudan, Somalia oder Irak gäbe es wohl Wichtigeres zu berichten, als von den »Banalitäten des heimischen Gärtchens«, von den »Hirngespinsten irgendwelcher Bauern« oder vom »Budenzauber und Hokuspokus, dem ein paar Primitive anhängen«. Wenn ich nachhake, stellt sich meist heraus, dass als die wirklich wichtigen Dinge in diesen Ländern deren Probleme angesehen werden: Elend, Hunger, Terrorismus, Chaos, Krieg. So sehr haben die Massenmedien unsere Sicht auf die Welt verengt, dass wir das Wesen krisengeschüttelter Regionen auf jene Aspekte reduzieren, die uns von den sensations- und profithungrigen Bringdiensten der Welt rund um die Uhr ins Wohnzimmer geliefert werden. Bei all den Selbstmordattentaten und Raketeneinschlägen könnte man fast vergessen, dass auf der »Achse des Fremden« auch ganz normale Menschen leben: Bauern, Bäcker, Fleischer, Fischer, Apotheker, Lehrer, Taxifahrer – Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Töchter, Söhne. Menschen mit ihren Problemen, sicher, aber eben auch mit ihren Freuden, mit ihren Hoffnungen und Träumen. Menschen wie wir.

Bei meinem Unterwegssein und Schreiben geht es vor allem darum, diesen Menschen zu begegnen. In ihrem Alltag, in ihrer gelebten Normalität. Ich möchte mit ihnen – und anschließend mit meinen Leserinnen und Lesern – neben ihrem täglichen Kampf auch ihre Lichtblicke und ihr Lachen teilen, ihre Würde, ihr Menschsein. Dieses Anliegen ist es, was mich im Kern mit medico international verbindet. medico unterstützt sozialmedizinische, psychosoziale und menschenrechtliche Projekte nicht als allwissender Helfer, der vorgibt, was, wann, wo und wie zu geschehen hat, sondern auf Augenhöhe. Zuhören, sich einfühlen, solidarisch handeln, Projekte der Emanzipation fördern, die Öffentlichkeit – hier wie dort – aufklären, um für menschenwürdige Lebensverhältnisse einzutreten und Opfern ein Gesicht zu geben, einen Namen, eine Stimme.

Vor einigen Jahren kam ich von einer sieben Monate langen Reise von der Quelle bis zur Mündung des Niger zurück und wollte etwas von der Hilfsbereitschaft und Offenheit, die ich dort erfahren hatte, zurückgeben. Ich wollte etwas für diejenigen tun, die mich unterwegs in ihre Welt eingeführt, Augenblicke des Glücks mit mir geteilt und mir mehrfach aus lebensbedrohlichen Situationen herausgeholfen hatten. Als ich mich damals auf der Suche nach einem passenden Partner in die Philosophien internationaler Hilfsorganisationen einarbeitete, schlugen mir unverhüllt koloniales und missionarisches Gedankengut entgegen. Und sehr bald wurde mir klar, dass ich es mit einer milliardenschweren Industrie zu tun hatte, deren mitunter perfide Geschäftsmodelle sich ausgerechnet auf jene stützen, die ganz unten angekommen sind. Unter dem Deckmäntelchen des Samaritertums wuchert ein Ekel erregendes Business mit der Not und Verzweiflung von Menschen, die auf diese Weise gleich mehrfach zu Opfern globaler Verflechtungen werden.

Seit meiner Rückkehr vom Niger arbeite ich mit medico international zusammen. Denn medico grenzt sich entschieden vom Filz der Hilfsindustrie ab. Davon konnte ich mich in den vergangenen Jahren immer wieder überzeugen. Nicht zuletzt auch als Journalist vor Ort. In den Diamantengruben von Sierra Leone. In den Minenfeldern Afghanistans. In palästinensischen Flüchtlingscamps. Dort erschöpft sich Hilfe – dieses große Wort, diese Aufforderung zum Handeln – nicht allein darin, eine Region mit den notwendigen humanitären Pflastern zu verarzten. In unserer globalisierten Welt ist es nicht damit getan, die Opfer einer Katastrophe mit Nahrung für den nächsten und übernächsten Tag zu versorgen. medico hat richtig erkannt und als einen weiteren Schwerpunkt seiner Arbeit definiert, dass es immer wichtiger wird, Öffentlichkeiten zu schaffen, die herkömmlichen und verkrusteten Meinungsbildern entgegenwirken. Also Räume und "Sprechorte" für Notleidende, Ausgegrenzte und Akteure, die sich für eine Veränderung einsetzen. Dieses Anliegen ist eng mit meinem eigenen Unterwegssein und Schreiben verbunden. Weil die Medien den Menschen in Krisenregionen zunehmend unterschlagen und ihn meist nur noch als Erfüllungsgehilfen ihrer Bilder benutzen, werden die Opfer von Gewalt unsichtbar. Es ist, als existierten sie gar nicht. Sie nicht wahrzunehmen und zu schweigen ist eine weitere Form der Gewalt, der wir sie aussetzen. Nur wenn wir diese inhumane Kruste aufbrechen und die Menschen darunter wieder zum Vorschein kommen lassen, kann die globale Apathie einer echten Teilnahme weichen – an den Schicksalen, aber auch an der Schönheit dieser Welt.

Ohne Teilname keine Aktion. Ohne Aktion keine Veränderung. Und dass es nicht so weitergehen kann, spüren wir alle. Für medico bedeutet das: entschlossen weitermachen. Dabei auf die eigene Unabhängigkeit achten und weiterhin auf schönfärberische Spendenwerberei verzichten. Für mein Schreiben bedeutet das: in Bewegung bleiben, unterwegs, um auf den Straßen von Kabul, Bagdad oder Khartum, am Managua-See, im Sahel oder am Ganges ganz normalen Menschen zu begegnen, sie zu Wort kommen, sie wehklagen, aber auch träumen und lachen zu lassen. Den Hirten im Hindukusch ebenso wie den Scherenschleifer im irakischen Taurusgebirge. Und den Lehrer, der mich auf einer Fähre über den Nil bat, meinen Leuten – Euch – zu sagen, dass die Sudaner keine Terroristen sind.

Michael Obert ist freier Journalist und Reiseschriftsteller. Zuletzt erschien von ihm: Die Ränder der Welt. Patagonien, Timbuktu, Bhutan & Co (Malik Verlag). Website: www.obert.de


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