Palästina: Von welchem Inferno wollen Sie hören …

… Es betrifft ja doch nicht Sie

Moustafa Barghouti, Arzt und Gründer der Palestinian Medical Relief Society, über die Teilnahmslosigkeit des Westens gegenüber dem palästinensischen Drama und über den Zusammenhang von Fundamentalismus und Autokratie.

 

Exodus im Heiligen Land

Wie kann man an einem Ort und in einem Konflikt politisch handeln, der eigentlich keinen Raum für freies, selbstbestimmtes und kritisches Denken lässt, das doch dem Tun vorausgeht? Wie will man die "Themen der Emanzipation ausarbeiten und ihre Kraft bewahren", wenn das "kollektive Wir", die Bipolarität des Konfliktes alles einzuebnen droht? Solche Bedingungen für eigenes politisches Handeln kennen die israelische Psychotherapeutin Ruchama Marton und der palästinensische Arzt Moustafa Barghouti. Ihre Weigerung, sich dem politisch Opportunen zu beugen, führte vor 20 bzw. 30 Jahren zur Gründung zweier sozialmedizinischer Menschenrechtsorganisationen, mit denen medico seit vielen Jahren verbunden ist: die Pysicians for Human Rights – Israel und die Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Die "Perspektive des Auszugs, der Trennung, des Exodus", von der Toni Negri im vorangegangenen Text schreibt, findet sich in der Zusammenarbeit beider Organisationen, die seit über 15 Jahren gemeinsame mobile Kliniken in der Westbank durchführen, palästinensische Kranke zur Behandlung nach Israel holen und Menschenrechtsverstöße im gesundheitlichen Bereich in die Öffentlichkeit und vor Gericht bringen. Welche emotionale und intellektuelle Haltung dahinter steht, wird aus dem nachfolgenden Interview mit Moustafa Barghouti und dem Porträt von Ruchama Marton deutlich.

Trotz jahrelangem CNN-Schauen stellte ich ausgerechnet die naivste Frage: Was denken Sie von den Israelis - und warum? Sentimentalerweise erwartete ich von diesem Mann, der "Mandela des mittleren Orients" genannt wird, ein leises Wort des Verständnisses, des Friedens, der Zukunft. Aber ich erhalte einen Blick, der unüberwindliche Gräben zwischen uns aufreißt: "Nichts", sagt er, "ich denke nichts." Im markanten Schweigen des Muezzin höre ich zum ersten Mal die Detonationen des Krieges, sehe die Krater der Verletzungen. Er sieht mich an, undurchdringlich, ohne Entgegenkommen. "Ich hasse Unrecht, aber nicht das der einzelnen Individuen, sondern die größeren Zusammenhänge, aus denen heraus es entsteht, und die Verantwortlichen dahinter." Moustafa Barghouthi redet ruhig und ohne Rhetorik, jeden Gedanken bringt er auf den Punkt. Die Bewegung, die er führt, heißt al-Mubadara, das arabische Wort bedeutet "Die Initiative" [al-Mubadara al-Wataniyya al-Filistiniyya, Palästinensische Nationalinitative]. Das sind bescheidene Worte für große Gedanken. Der Name kommt ursprünglich von Hannah Arendt. Die Politik, sagte sie einmal, verlangt den Impuls der Initiative und dazu fast ein poetisches Talent: Vorstellungsvermögen.

Die erste Frage ist zwingend: Sie waren in Annapolis.

Annapolis? Warum fragen Sie mich nicht nach Gaza? Gaza ist die unumgängliche Frage. In Paris feiern die Geberländer ihre beschlossene Nothilfe, aber wir haben nicht Mildtätigkeit nötig, wir brauchen Gerechtigkeit und offene Grenzen. Gaza ist ein Lager, und Israel wütet darin immer noch mit Angriffen, Überfällen und Besetzung. In den letzten sechs Monaten sind 5 Israelis, aber 218 Palästinenser getötet worden, und das waren nur die Soldaten, nicht die Zivilisten, die zufälligen Opfer, die Kollateralschäden des Krieges. (Das Interview wurde vor den jüngsten Auseinandersetzungen geführt. Allein Ende Februar kamen fast 200 Palästinenser im Gaza-Streifen ums Leben. Auf israelischer Seite starb ein Mann in Sderot bei Raketenangriffen der Hamas und 5 israelische Soldaten, d. Red.) Ich könnte ihnen unendliche Zahlenreihen aufzählen, Statistiken liefern, vom Wasser reden, vom Durst, von Medikamenten, vom Benzin, vom Sterben, weil eine Glühbirne im Operationssaal fehlt, vom Überleben durch humanitäre Hilfe, den Demütigungen durch internationale Almosen, und einem Kollaps, der jederzeit kommen kann, weil die Bauern nichts mehr zu säen und die Arbeiter nichts mehr zu arbeiten haben. Nur: Israel schießt. Wählen Sie selbst, von welchem Inferno Sie hören wollen! Es betrifft ja doch nicht Sie!

Das Schlimmste ist nicht das Drama selbst, sondern die Teilnahmslosigkeit. Sie sind Italienerin, wie Gramsci. Er hat gesagt: Das, was geschehe, geschehe nicht, weil einige wollen, dass es geschieht, sondern weil die Mehrzahl der Menschen ihren Willen ausschaltet und es geschehen lässt. Gleichgültigkeit ist die träge Masse der Geschichte. Die Geschichte wird eines Tages die Rechnung fordern für Gaza. Sie wird euch alle fragen: Wo seid ihr gewesen, als Gaza verschwand? Das ist die einzige notwendige Frage: Wo seid ihr?

Im Westen schreibt man "Hamas" und liest "Terrorist". Sollte man den Dialog suchen? Oder sollte man sie boykottieren?

Frieden macht man mit denen, die da sind, nicht mit denen, die man gerne hätte. Die Hamas ist nur in euren Stereotypen ein einziger Block. Sie hat ihre Gemäßigten und ihre Pragmatiker. Und vielleicht auch ihre Extremisten. Aber es ist nötig, die Gemäßigten zu organisieren, wie damals in der Regierung der Nationalen Einheit (Von September 2006 bis Juni 2007 – Barghouti war darin Informationsminister, d. Red.) Die Regierung der Nationalen Einheit war die beste palästinensische Regierung. Sie hat Israel eine völlige und gegenseitige Feuereinstellung angeboten. Und sie plante innere Reformen. Diese Regierung ist nicht wegen unserer Unfähigkeit gestürzt, sondern weil die Europäer bei der Einstellung ihrer Wirtschaftshilfe geblieben sind und Israel unsere Steuereinnahmen einbehielt. Mit was sollten wir regieren, mit Spielgeld? Die Blockade blockiert auch alles andere, was nicht Hamas oder Fatah ist. Und dann beschweren sich die Blockierer, dass Hamas und Fatah eine so große Rolle spielen.

Einer der Gründe für die große Akzeptanz der Hamas sind ihre funktionierenden sozialen Einrichtungen. Sie selbst haben die "Palestinian Medical Relief Society" gegründet, eine Gesundheitsorganisation, die einem Drittel der Palästinenser medizinische Versorgung garantiert. In einem gewissen Sinn ist das eine Politik des Fakten-Schaffens. Sie helfen den Leuten, dort zu bleiben, wo sie sind, denn das bedeutet: Wenn sie bleiben, hat Israel verloren.

Nur konkrete Tatsachen sind subversiv. Die Hamas konnte mächtiger werden, weil der Westen in Oslo (1992) entschieden hatte, alle finanziellen Unterstützungen auf die palästinensische Zentralverwaltung zu konzentrieren. In Deir Ghassaneh, einem Ort hier in der Nachbarschaft mit 2.000 Einwohnern, hatte eine Frauengruppe in Zusammenarbeit mit einem Verein in Genf einen Kindergarten eröffnet. Eine kleine Wohnung, fünfzig Kinder. Dann wurden von Genf aus die Mittel an die Zentralverwaltung geschickt, und der Kindergarten musste zumachen. Geblieben ist nur der islamische Kindergarten, der natürlich nach den Regeln des Korans verwaltet wird. Alles was sie in Deir Ghassaneh brauchten, waren 3.000 Dollar im Jahr.

Das ist Palästina. Das sind unsere Bedürfnisse, das sind auf lange Sicht unsere Möglichkeiten, Dollar für Dollar, Kind für Kind. Leider ist die einzige Sicherheitsperspektive, um die man sich kümmert, die militärische. Aber Sicherheit besitzt grundsätzlich eine soziale Dimension. Man erhält Sicherheit dann zurück, wenn man die Bedürfnisse der Leute in den Mittelpunkt stellt.

Der Fundamentalismus bei uns entsteht nicht nur durch die israelische Unterdrückung, sondern auch durch die palästinensische Zentralverwaltung, durch ihre Ineffizienz, durch ihr Versagen. Wenn man die Autokratie unterstützt, unterstützt man auch den Fundamentalismus, der auf die Autokratie reagiert. Die Hamas ist ein Produkt des Westens. Jetzt erleben wir einen neuen Kollaps der weltlichen Einrichtungen. Aber der Westen kann ruhig schlafen. Die Hamas hat andere Finanzierungsquellen. Erinnern Sie sich an das Gedicht des griechischen Dichters Kavafis: "Der Westen wird seine Fundamentalisten bekommen, seine Terroristen, denn, auf der anderen Seite, was täte er ohne die Barbaren vor seinen Türen?"

Der palästinensische Philosoph Edward Said sagte, die erste Herausforderung für die Palästinenser ist, sichtbar zu werden. Gemeinsam mit Said, der nie einen arabischen Verleger gefunden hat, haben Sie Mubadara gegründet.

Und zusammen mit Haidar Abdel Shafi, dem Leiter der Delegation bei den Verhandlungen von Madrid, den ersten Nahostverhandlungen 1991. Er gehörte einer palästinensischen Verhandlungsgruppe an, die ausschließlich aus Fachleuten und Intellektuellen bestand. (Diese Gruppe, u.a. mit Hanan Ashrawi, veränderte maßgeblich die Wahrnehmungsmuster über "Palästinenser", d. Red.). Mubadara ist als eine Alternative zur Korruption der Fatah und zum Extremismus der Hamas entstanden. Aber wir wollten nicht "gründen" sondern "verknüpfen", keine Partei sondern eine Koalition bilden. Politik ist für mich nicht Macht und Wille zur Herrschaft, sondern die Fähigkeit, Verbindungen zu schaffen. Allem voran steht die Einheit, denn Israel will unsere Zerstückelung und Spaltung - nicht nur physisch mittels Mauern und Barrieren, sondern auch politisch - bis hin zum Bürgerkrieg. Und deshalb ist unsere Antwort Gewaltlosigkeit, nicht, weil wir das Recht nicht hätten, zu reagieren, sondern weil Gewaltlosigkeit die beste Reaktion ist. Wir sind uns aber bewusst, dass auf Dauer die einzige Möglichkeit, ein konkretes Friedensabkommen zu erreichen, in den Verhandlungsführern liegt, die uns vertreten. Denn diese sollen zusammen mit jenen entscheiden, die später unter ihren Entscheidungen leben müssen. Deshalb ist Mubadara eine Bewegung zur Demokratie. Demokratie hat dabei nicht nur einen politischen, sondern auch einen sozialen Aspekt. Ich will nicht irgendein Palästina, ich will nicht nur Frieden, sondern auch Freiheit, ebenso Gerechtigkeit. Palästina ist auch durch viele Untaten diskriminiert worden, die nicht auf das Konto der israelischen Besatzung gehen. Das Ende der Besatzung wird nur der Anfang einer anderen Geschichte sein. Ich will Palästina modernisieren, was – um die Frage vorwegzunehmen, die ich Ihrem Gesicht ablese – nicht "Verwestlichung" heißt.

Sie haben in Stanford studiert. Viele Palästinenser halten inzwischen das Gefängnis für ihre Universität. Sie leben in keinem Flüchtlingslager. Sie riskieren nicht jede Nacht, sich in einem Sabra und Chatila aufzuhalten (Anspielung auf das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern in Beirut während der israelischen Besatzung, 1982, d. Red.). Ist Gewaltlosigkeit nicht ein Luxus?

Ich habe zwei Projektile in meinem Rücken, ich kenne angenehmeren Luxus. Mich haben sie sechsmal verwundet, ein Knie zertrümmert, eine Schulter ausgerenkt und mich so oft verhaftet, dass ich es nicht mehr zählen kann. Einen meiner Mitarbeiter haben sie erschossen, einen Millimeter von mir entfernt, mit einem Kopfschuss. Wissen Sie, wie das ist, wenn ein Kopf platzt? Jeder Palästinenser hat seine private Liste von Schrecken und Schmerzen. Gewaltlos sein bedeutet nicht, weniger heldenhaft sein. Es bedeutet sich selbst zu vertrauen, sich einzubringen, die Israelis mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen zu bekämpfen, jeden Tag ihre Tatsachen vor Ort mit unseren Tatsachen vor Ort zu konfrontieren, ihrer Gewalt nicht unsere Verzweiflung entgegenzusetzen, sondern unsere Schönheit. Das ist gleichzeitig eine Ethik und eine Strategie. Militäraktionen zu organisieren ist einfach: Elite- Kampfeinheiten anstelle von Menschenmassen. Die Ausführung eines Angriffs zu befehlen, wenn man im sicheren Ausland ist. Wo waren denn die Führer der PLO, während wir hier waren, hier umgebracht wurden? Ich habe niemals von jemandem verlangt etwas zu tun, an dem ich nicht direkt teilnahm. Das ist die erste Lehre von Ghandi: "We must become the change we want to see in the world." Unser Erfolg steckt in unserem eigenen Verhalten.

Madrid, Oslo, Annapolis. Sie sind ein Kosmopolit.

Mir fehlt Jerusalem (wie alle Bewohner der Westbank darf auch der Parlamentarier Barghouthi nicht nach Jerusalem, d. Red.). Annapolis war völlig überflüssig. Es basiert auf der Road Map. Und die Road Map ist eine Sache, bei der man die Palästinenser z.B. auffordert, Terrorangriffe einzustellen, und als Gegenleistung verspricht man, dass die Israelis keine Aktionen mehr unternehmen würden, die das Vertrauen der Parteien untergraben könnten, wie etwa – ich zitiere wörtlich – Angriffe gegen Zivilisten. Vertrauen der Parteien? Zivilisten zu töten untergräbt nicht Vertrauen, sondern untergräbt das Gesetz. Das ist nichts weiter als ein Kriegsverbrechen und keine Frage der Höflichkeit. Von den Palästinensern wird gefordert, Wächter ihrer eigenen Besatzung zu werden. Von der Mauer, von der Lage in Gaza, von den Flüchtlingen Jerusalems wird nicht gesprochen. Die Rede ist nur von der inneren Sicherheit. Das spiegelt sich in den Haushaltszahlen der palästinensischen Autonomiebehörde: 0,1 Prozent gehen in die Kultur, 4 Prozent in die Landwirtschaft, 1,8 Prozent in das Gesundheitswesen und 35 Prozent an die Polizei. Sie wollen die Palästinensische Autonomiebehörde gegen das eigene Volk militarisieren.

Wir Europäer behaupten, anders zu sein, zivile anstelle von militärischer Macht zu benutzen. Inwieweit sind wir Europäer anders?

Worin besteht der Unterschied? Ihr habt eine großzügige, unermüdliche Europa-Abgeordnete, Luisa Morgantini, die sich für die Palästinenser einsetzt. Aber ihr habt nur eine halbe Außenpolitik. Ihr seid jedes Mal paralysiert, wenn Einstimmigkeit verlangt wird. Führt ihr vielleicht Sanktionen gegen Israel aus? Nein. Von Israel kauft ihr Waffen. Sanktionen habt ihr gegen uns entschieden. Eure Politik besteht in nobler Rhetorik und suggestiven Vorschlägen, eine unendliche Wiederholung von Kolonialismus im neoliberalen Korsett. Dialog, Partnerschaft, gemeinsame Entwicklung – ihr seid Dichter, einfacher gesagt, ihr macht eure Kooperation von der Einbindung Israels abhängig, davon überzeugt, dass die Ökonomie auch die Politik kaufen wird, nach dem Motto: ›Wir sehen die Besatzung im Namen des freien Zucchini-Handels.‹ Aber der Frieden steht nicht zum Verkauf. Ihr seid nur Zuarbeiter der Vereinigten Staaten. Ihnen die Politik, euch die Wirtschaft. Und ihr wisst gar nicht, wie nötig wir ein europäisches Europa brauchen, ein mediterranes Europa, das Mäßigung kennt, das eine andere Vorstellung von Welt-Expansion hat.

Das Interview wurde geführt von Francesca Borri.

Übersetzung: Susanne Schmidt / Sven Severin.

 

Projektstichwort

"Während wir und unsere Partner in Ramallah noch beratschlagen, wie wir dennoch unseren Auftrag erfüllen und die Schwächsten im ohnehin verarmten Gazastreifen versorgen können, bombardiert Israel momentan den Gazastreifen unaufhörlich fort", schreibt der medico-Repräsentant für Israel-Palästina, Tsafrir Cohen in seinem Blog auf der medico-Website. Täglich kommen neue Meldungen über die sich ständig verschärfende Situation im Gaza-Streifen. Medico unterstützt die palästinensischen Kollegen vom PMRS mit dem nötigsten medizinischen Material. Die israelischen Kollegen der Physicians for Human Rights schaffen es zwischendurch, dass wenigstens die israelisch-palästinensischen Kollegen in den Gaza-Streifen dürfen, um dem PMRS Medikamente und anderes zu liefern. Gemeinsam versuchen beide, Schwerstkranke, die aufgrund des Boykotts durch Israel nicht medizinisch versorgt werden können, aus dem verschlossenen Gaza-Streifen zu bringen. Mit Ihrer Spende können Sie diese Arbeit genauso unterstützen, wie die politischen Initiativen, die wir gemeinsam mit unseren Kollegen vor Ort und internationalen NGOs gestartet haben, um dieser kriegerischen Eskalation Einhalt zu gebieten. Weitere Informationen dazu unter: www.medico.de in dem Jerusalem-Blog von Tsafrir Cohen und den aktuellen Pressemitteilungen. Das Spendenstichwort lautet: Nahost.

 

Veröffentlicht am 01. April 2008

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