Sri Lanka

Offene Zukunft

Die Ära des Despoten Rajapaksa ist zu Ende. Nach dem Machtwechsel setzen medicos Partner weiter auf Demokratisierung und Gerechtigkeit.

Von Thomas Seibert

Die medico-Partner aus Colombo sitzen in fröhlicher Runde im Traditionsrestaurant Pagoda gleich neben dem 1844 eröffneten Großkaufhaus „Cargill’s“. Das Lokal serviert heute Asia-Fast-Food, das Kaufhaus verramscht Plastiknippes in Holzvitrinen aus dem 19. Jahrhundert. Wir sind mitten in Colombo Fort, dem von kolonialer Architektur geprägten Zentrum der sri-lankischen Metropole. Bis vor Kurzem war es noch eine „verbotene Stadt“, die man nur mit einem Passierschein des Verteidigungsministeriums betreten konnte. In der Aussperrung der Bürger verdichteten sich die Angst des singhalesisch-buddhistischen Staates vor den „Tiger“-Rebellen der tamilisch-hinduistischen Minderheit und die Selbstherrlichkeit der autoritär herrschenden RajapaksaFamilie. Doch Anfang des Jahres ist Mahinda Rajapaksa bei der Präsidentschaftswahl nach elfjähriger Herrschaft nicht zuletzt mit den Stimmen der Minderheiten des Landes abgewählt worden. Seitdem ist das Fort wieder geöffnet – und es herrscht Aufbruchstimmung.

„Die Ära Rajapaksa ist zu Ende, der Krieg ist vorbei“, sagt der singhalesische Anwalt Sudarshana Gunarwardene. Er freut sich auf die unmittelbar bevorstehenden Parlamentswahlen, bei denen Ex-Präsident Rajapaksa auf ein Comeback hofft. „Er wird scheitern“, meint Sudarshana, „seine Zeit ist abgelaufen.“ Doch nicht alle von uns sind so hoffnungsvoll. Die größten Zweifel hat Qadri Ismail, ein Literaturwissenschaftler und Journalist tamilisch-muslimischer Herkunft. Er hat vor Jahren nur knapp ein Attentat überlebt, ging ins Exil und ist vor Kurzem erst auf die Tropeninsel zurückgekehrt.

„Nach jahrhundertelanger Kolonialherrschaft haben wir uns Befreiung nur unter zwei Ideen vorstellen können, die uns Europa vererbt hat: die Vorstellung der Demokratie als einer Herrschaft der Mehrheit, und die Vorstellung des Staates als eines nationalen Staates. An beidem haben wir jahrzehntelang gelitten. Neu anzufangen heißt, jenseits der Mehrheit und jenseits der Nation zu beginnen, von den Minderheiten her. Und Minderheit sind auf Sri Lanka nicht nur die Tamilen, von denen es solche des Nordens, des Ostens, des Hochlands und die Tamilen Colombos gibt. Hier leben Tausende Muslime, Tausende Christen und natürlich die Buddhisten des Südens, alle getrennt nach Klasse, Kaste und Geschlecht.“ Sudarshana sieht das nicht anders: „Tatsächlich haben wir bislang nur erreicht, dass die Dinge offen sind. Verlieren wir das Vertrauen zueinander, kann sich das schnell ändern.“

Im Land der Verlierer

Wie groß die Herausforderungen sind, zeigt sich im tamilischen Norden. Mit Vasuky Rajendra, Geschäftsführerin des medico-Partners SEED, besuche ich die Dörfer Kallikulam und Chemamadu unweit Vavuniyas, die mit vielleicht 300.000 Einwohnern zur Metropole der Flüchtlinge und Vertriebenen geworden ist. In den beiden Dörfern kämpfen 600 Menschen um die Wiederaneignung ihres im Krieg verlorenen Landes, medico und SEED unterstützen sie dabei. Ihre Häuser, Brunnen, Kirchen, Tempel und Schulen wurden von der Armee zerschossen, das Vieh ging verloren, die Wege, Brunnen, Gärten und Felder hat sich das Buschland zurückgeholt. Neu anzufangen heißt, dem wuchernden Dickicht Lebensraum abzuringen: Minen zu räumen, Felder zu roden, Brunnen zu graben, Wege anzulegen, erste Behausungen zu mauern. SEED hat dafür gesorgt, dass sich die Rücksiedler von Anfang an selbst organisieren, Komitees für den Wege-und Brunnenbau, Landwirtschaftskooperativen sind entstanden, Frauengruppen und Sparvereine wurden gegründet.

Die Hauptlast der Arbeit ruht auf den Frauen. Wie überall im Norden werden viele Familien von Kriegswitwen oder von Müttern geführt, deren Männer in Haft oder „verschwunden“ sind, vom Militär verschleppt. Auch viele Jugendliche sind gegangen, lungern jetzt in den Straßen Vavuniyas herum oder versuchen ihr Glück in Colombo. Von den Männern, die geblieben sind, brechen die meisten schon im Morgengrauen in die Stadt auf, wo sie auf einen Tagelöhnerjob hoffen, der die Rupien für die offene Arztrechnung oder das Schulgeld der Kinder bringen soll. Streit und Gewalt bleiben nicht aus, es wird viel billiger Palmschnaps getrunken. Immerhin: Nach der Abwahl Rajapaksas hat die neue Regierung das Militär sofort in die Kasernen zurückbeordert. „Jetzt kann über all das offen gesprochen werden“, sagt Vasuky, „vorher wurde jede Versammlung von mehr als fünf Personen auseinandergetrieben. Wollten wir über Vergangenheit oder Zukunft sprechen, mussten wir das als Sportveranstaltung tarnen.“

In der großen Runde vor dem Gemeinschaftshaus wird auch über die Schulden gesprochen, unter denen viele Familien leiden. „Solange die Tamil Tigers den Norden kontrollierten“, sagt eine Kollegin von SEED, „lebten wir in einem geschützten, aber auch in einem geschlossenen Land: in einem riesigen Funkloch. Heute haben alle ein Handy, es gibt Fernsehen und Internet, überall stehen bunte Reklametafeln, an jeder Straßenkreuzung hat eine Bankfiliale eröffnet.“ Die Banken haben allen, die nicht Reißaus nahmen, einen Mikrokredit aufgeschwatzt, zu scheinbar winzigen Raten. Bald stellte sich heraus, dass die Rückzahlung trotzdem nicht zu leisten war. Erst wurde der Fernseher, dann das Moped wieder abgeholt, nicht wenige mussten den kleinen Laden wieder schließen, der ihnen die Zukunft bedeutete.

„Jetzt ist das Gejammer groß“, sagt ein alter Bauer, „und wir müssen aufpassen, dass wir den Zorn nicht gegen uns selbst richten.“ Das gilt auch und besonders für die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Generationen. „Wie halten die Dörfer zusammen“, fragt eine junge Frau, „wenn wir Frauen uns endlich selbst zu Wort melden? Wenn die Sitten ihre Kraft verlieren, die uns so lange niedergehalten haben? Früher war eben nicht alles besser und nicht an allem ist das Militär schuld.“ Trotzdem sind sich alle einig, dass die Kasernen geräumt werden müssen und noch immer kommt auf fünf Tamilen ein singhalesi-scher Soldat. Einmütig bestätigt sich die ganze Versammlung, dass bei den bevorstehenden Wahlen die Stimmen beider Dörfer an die Tamil National Alliance (TNA) gehen.

Zurück in Vavuniya treffe ich Singham Ponnambalam, den Gründer von SEED, und Shreen Saroor, eine tamilisch-muslimische Feministin. Shreen wurde als Kind zusammen mit Tausenden anderen Muslimen von den Tamil Tigers vertrieben, die in ihrem eigenen Staat auch nur der eigenen Nation Raum geben wollten. Singham arbeitet heute im Tamil Civil Society Forum, das im Norden eine vielstimmige politische Kultur schaffen will, Shreen reist von Frauengruppe zu Frauengruppe und wirbt für die Wahl der Regenbogenkoalition.

Beide sind seit dem Tsunami 2004 medico-Partner, Singham und SEED haben damals Rücksiedlungsprojekte von Tsunami-Überlebenden und Kriegsvertriebenen initiiert, Shreen an der Fact Finding Mission teilgenommen, die das Scheitern der internationalen Tsunami-Hilfe untersucht hat. In der Bewertung des Neubeginns sind sie sich nicht ganz einig. Singham fordert den schnellen Rückzug der Armee, die Freilassung aller Gefangenen und die Anerkennung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen der singhalesischen Sieger. Shreen stimmt dem zu, besteht aber auf der Untersuchung auch der Verbrechen der Tigers – und glaubt, dass das alles viel mehr Zeit kosten wird. „Auf gleiche Rechte warten wir schon über sechzig Jahre“, sagt Singham.

Ende und Anfang

Auf der Rückfahrt entlang der gewundenen Ostküste halten wir in Mullaithivu und Mullivaikkal. In Mullaithivu lagen die Tsunami-Dörfer von SEED, der Krieg hat sie wieder zerstört, nichts ist geblieben. Im Nachbarort Mullivaikkal kesselte die singhalesische Armee 2009 auf einem schmalen Küstenstreifen zwei Monate lang 300.000 tamilische Kriegsvertriebene und die letzten Tiger-Rebellen ein; nach Schätzungen der UNO starben im Dauerbeschuss der Armee und im Gegenfeuer der Tigers 40.000 Menschen. Valarmadi, eine junge Tamilin, führt mich an den Strand, dem nichts mehr von dem Massaker anzusehen ist, das hier stattfand. Sie hat den Tod ihrer Mutter und ihres Bruders mit ansehen müssen, während ihr Mann zu den ungezählten „Verschwundenen“ gehört. Viel mag sie davon nicht erzählen, sie fragt mich stattdessen, ob und wie man nach Deutschland reisen und Arbeit finden könne. Während des Krieges seien viele nach Europa gegangen, hätten Asyl erhalten. Ich muss ihr sagen, dass Sri Lanka wieder als „sicheres Herkunftsland“ gilt.

Inzwischen hat die Parlamentswahl stattgefunden. Der Versuch des Ex-Präsidenten Rajapaksa, über das Parlament an die Macht zurückzukehren, ist klar gescheitert. Die Regenbogenkoalition des Neubeginns hat fünf Jahre gewonnen, um die Hoffnung auf ein „Yaha Palaanaya“, ein gutes Regieren, nicht zu enttäuschen. Die TNA ist zur landesweit drittstärksten Partei geworden und wird die neue Regierung aus der Opposition unterstützen. Am Abend vor dem Abflug besuche ich Nimalka Fernando, auch sie medico-Partnerin der ersten Stunde. Die Menschenrechtsaktivistin hat über Jahre hinweg die Regenbogenkoalition vorbereitet. „Wir haben Rajapaksa besiegt, weil wir die künstliche Trennung von Zivilgesellschaft und Politik eingerissen haben: das ist der Kern des guten Regierens.“

medico unterstützt die Arbeit des Projektpartners SEED zur Wiederansiedlung zurückgekehrter Bürgerkriegsflüchtlinge in Kallikulam und Chemamadu. Seit vielen Jahren arbeitet medico auch mit den im Beitrag erwähnten Menschenrechtsaktivistinnen Sudarshana Gunarwardene, Shreen Saroor und Nimalka Fernando im Netzwerk „Sri Lanka Advocacy“ zusammen. Spendenstichwort: Sri Lanka

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 28. September 2015

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