Öffentlichkeit und Demokratie

Kommentar von Thomas Gebauer

Demokratie bedarf der Öffentlichkeit. Ohne einen öffentlichen Raum, wo aus privaten Ansichten begründete Urteile werden, wo Interessenkonflikte ausgetragen und politische Entscheidungen getroffen werden können, gibt es keine Demokratie.

Gesellschaften, denen der öffentliche Raum abhanden kommt, verwandeln sich in totalitäre Gesellschaften. Und so ist Öffentlichkeit nicht irgendeine Begleiterscheinung von Demokratie; sie ist der Ort, an dem Demokratie sich konstituiert.

Auf bedenkliche Weise aber ist die Entwicklung in den zurückliegenden Jahrzehnten in die entgegengesetzte Richtung gegangen: in Richtung totalitärer Verhältnisse. Dabei ist der Totalitarismus, der sich breitgemacht hat, keiner, der eines starken Führers bedürfte. Der gegenwärtige Totalitarismus gründet seine Macht nicht alleine auf Formen staatlicher Einschüchterung, sondern umgibt sich gerade mit Expertenwissen und der Aura öffentlicher Erörterung. Er predigt Demokratie und Parlamenta rismus und tut doch zugleich alles, um deren Grundfesten umzuwerfen.

Der US-amerikanische Soziologe Sheldon Wolin sprach von einem „umgekehrten Totalitarismus“: einem, der sich in der Anonymität eines von machtvollen Verbänden und Interessengruppen kontrollierten Staates entwickelt hat.

Schon beim morgendlichen Blick in die Zeitung ist zu verstehen, was damit gemeint ist. Unter Umgehung demokratischer Willens bildung bestimmen Energiekonzerne die Richtlinien der Politik, diktieren Pharmalobbyisten Gesetzestexte und „schönen“ Bürokraten profitträchtige Großprojekte bereits bei ihrer Planung so, dass sie gegen vernunftgeleitete Einwände möglichst unangreifbar werden. Solche Verhältnisse sind nicht neu; sie erinnern an die von Max Horkheimer beschriebenen „Rackets“, mit denen er jene „verschworenen Cliquen“ aus Managern, Politkern und Regierungsbeamten meinte, die sich nach außen abschotten und mit Methoden des organisierten Verbrechens den Rest der Gesellschaft dominieren. Dass die Aushöhlung der demokratischen Institutionen bislang weitgehend widerspruchslos hingenommen wurde, ist nicht zuletzt einer vom Boulevard dominierten Medienwelt geschuldet.

Statt aufklärende Debatten über brennende Fragen der Zeit zu organisieren, sorgt sie für Ablenkung. Statt Förderung politischer Kompetenz geht es um eine Berieselung mit „junk politics“, deren Ziel es einzig ist, dass alles so bleibt, wie es ist. Was Wunder, dass sich die fatale Botschaft, zur Herrschaft der ökonomischen Sachzwänge gebe es keine Alternative, tief ins Bewusstsein vieler Menschen, ja selbst ins Denken von Intellektuellen eingegraben hat. Dabei hat sich ein antiutopischer Pragmatismus herausgebildet, dem theoretische Analysen ebenso überflüssig erscheinen, wie die Abschätzung von Langzeitwirkungen. Nicht die systematische Produktion von Armut und Hunger gilt als verwerflich, sondern der kritische Einspruch, der als „theoretische Debatte“ abgetan wird.

Es ist gut, dass die erschreckende ideologische Uniformität, die maßgeblich zur Anonymisierung von Herrschaft beigetragen hat, im Zuge der Finanzkrise erschüttert wurde. Die ungerechte Lastenteilung, die wachsenden Einkommensunterschiede, die Selbstgefälligkeit der Eliten und eine Politik, deren Angebote an Beliebigkeit kaum noch zu überbieten sind, haben das öffentliche Unbehagen an den Institutionen des Staates stark anwachsen lassen. Es ist die Bürgergesellschaft selbst, die sich radikalisiert und dabei vor jener fast unlösbaren Aufgabe steht, die schon Theodor W. Adorno beschäftigt hat, nämlich sich „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen“.

Die politischen Herausforderungen, sind groß, deutlich größer als die Frage, wie in Stuttgart ein unsinniges „Bahnhofsprojekt“ oder im Wendland Castor-Transporte verhindert werden können. Wer sich den Blick für die Verhältnisse nicht verstellen lässt, erkennt, dass „Stuttgart 21“ dem gleichen Kalkül folgt, das auch hinter dem skandalösen „Hartz IV“-Beschluss steht, die Einführung der „Kopf pauschale“ antreibt, den Studierenden das „Bologna-Studium“ brachte und letztlich auch für die EU-Agrarsubventionen verantwortlich ist, die afrikanischen Kleinbauern systematisch die Lebensgrundlagen raubt: die Sicherung der Rendite privater Kapitalanleger.

Es ist gut, dass die Stuttgarter Proteste über Stuttgart hinaus Resonanz gefunden haben. Viele, die sich für lange Zeit ins Private zurückgezogen hatten, engagieren sich heute wieder öffentlich. Eine Chance auf nachhaltige Veränderung aber besteht nur dann, wenn sich öffentliches Engagement – dem erreichten Globalisierungsgrad entsprechend – von einer globalen Perspektive leiten lässt. Solange sich der Einspruch gegen die Atomenergie auf Deutschland konzentriert, bleibt er auch dort begrenzt; und solange die Armut in Deutschland wächst, gelingt auch ihre globale Bekämpfung nicht. Öffentlichkeit, die sich den heutigen Problemen stellen will, muss sich als transnationale Öffentlichkeit neu konstituieren. So sehr sich die Lebensumstände der Stuttgarter Bürgergesellschaft von denen afrikanischer Migrantinnen und Migranten unterscheiden mögen, gibt es unterdessen doch eine alle verbindende gemeinsame Sprache.

Es ist die „Sprache der Menschenrechte“: das Drängen auf eine emanzipierte Gesellschaft, die nicht den Einheitsstaat meint, sondern, so Adorno, „die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenz“.

Veröffentlicht am 29. November 2010

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