Gaza-Krieg

Nie wieder, für alle!

Für die Bundesregierung gilt das Völkerrecht offenbar nur noch dann, wenn es eigenen Interessen dienlich ist.

Mehr als 100 Tage nach den Angriffen der Hamas und dem Beginn der israelischen Bombardierung von Gaza hat sich die deutsche Öffentlichkeit offenbar an den nächsten Krieg, an das nächste Grauen gewöhnt. Doch die Macht der Gewohnheit ändert nichts an Tatsachen, die kaum noch bestritten werden können: Die deutsche Bundesregierung, wie der Westen insgesamt, beteiligen sich durch politische Rückendeckung, Waffenlieferungen und die Blockade völkerrechtlicher Mechanismen an schwerwiegenden Völker- und Menschenrechtsverbrechen der israelischen Armee in Gaza. Sie machen sich seit über drei Monaten in mehrfacher Hinsicht mitschuldig. Die Rückseite der öffentlich eingeübten militärischen Solidarität mit Israels Regierung ist das Totalversagen deutscher Außenpolitik.

Das hat erhebliche Folgen: Die deutsche Politik und ihre offensichtliche ethische Inkohärenz, die selbst mit dem Wort Doppelstandards nicht mehr angemessen beschrieben werden kann, werden weltweit von Intellektuellen, Regierungen, der Zivilgesellschaft und antikolonialen Bewegungen aufmerksam registriert und scharf kritisiert. Der schon jetzt entstandene Schaden, der nicht nur auf geopolitischer und zwischenstaatlicher Ebene, sondern auch im Alltag von Stiftungen, Kultureinrichtungen und globalen zivilgesellschaftlichen Kooperationen erzeugt wird, ist dramatisch. Die Langzeitfolgen sind unabsehbar. Die westliche Unterstützung für den Krieg gegen eine seit bald zwei Jahrzehnten eingeschlossene Bevölkerung in Gaza, aber auch die autoritären, obrigkeitsstaatlichen Maßnahmen in Deutschland gegen palästinensische und zunehmend auch linke jüdische Stimmen, markieren einen Einschnitt, dessen historische Dimension schon jetzt nicht mehr bestritten werden kann.

Der jüngste Höhepunkt ist die skandalöse Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Verfahren gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Im Friedenspalast, der dem Gericht als Sitz dient, haben die südafrikanische Jurisprudenz und Regierung bereits jetzt Geschichte geschrieben. Vertreter:innen ihres Rechtswesens, ausgestattet mit dem tiefen Wissen um Apartheid und Rassismus, haben vor dem UN-Gericht den Staat Israel wegen des Vorgehens seiner Armee im Gazastreifen angeklagt. Die Rolle Südafrikas ist wegen des formellen Endes der Apartheid vor 30 Jahren in hohem Maße symbolisch: Südafrika verkörpert in der Den Haager Rollenverteilung auch die Hoffnung der Welt auf ein Ende des Rassismus, auf ein Ende kolonialer Bevormundung sowie auf historische Gerechtigkeit und den gemeinsamen Horizont des Menschenrechts schlechthin.

Drei Stunden lang sprachen die Jurist:innen aus, legten dar und zeigten Aufnahmen von dem, was die Welt nicht sehen und so schnell wie möglich vergessen soll: Die Zahl der Toten, die mittlerweile zu einer täglich steigenden und vorhersagbaren Statistik geworden ist. Die Schonungslosigkeit des israelischen Vorgehens gegen Kinder, Alte, Kranke. Die Zerstörung aller Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Das gezielte Aushungern und Verdursten lassen. Die Vertreibung von zwei Millionen Menschen, deren Rückkehr angesichts der Zerstörung und zurückgelassener, nicht detonierter Explosivmunition auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte unmöglich erscheint. Israel hingegen verteidigte sich vor dem Gericht so wie auf dem Schlachtfeld. Seine „Sicherheit“ wird definiert über die Aufrechterhaltung totaler Überlegenheit über die palästinensische Bevölkerung. Wann diese Übermacht angesichts der politischen Perspektivlosigkeit in Ohnmacht umschlägt, ist eine Frage der Zeit.

Ein Schlag ins Gesicht des Völkerrechts

Die deutsche Ankündigung, im Fall eines vollumfänglichen Verfahrens zugunsten Israels zu intervenieren, ist ein deutliches Signal an Südafrika, den Internationalen Gerichtshof und an die Welt: Das Völkerrecht liegt entweder in der Deutungshoheit des Westens – oder es darf kein Völkerrecht geben. Damit sind alle Sätze der Bundesregierung über eine werte- und rechtebasierte Außenpolitik nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Das zunehmende Glaubwürdigkeits- und Legitimationsproblem eines von vielen als westlich und parteiisch empfundenen internationalen Rechts und seiner Institutionen wird weiter vertieft. So weist die Botschaft weit über den Gaza-Konflikt hinaus: Das Recht soll offenbar nur noch dann gelten, wenn es das Recht des Stärkeren absegnet. Und Deutschland stellt sich auf die Seite des Rechts des Stärkeren und verkleidet dies noch als einen Beitrag zu einem erinnerungspolitisch verkleideten „Nie wieder“. Dieser Widersinn macht die Einsamkeit Deutschlands und großer Teile des Westens in der heutigen multipolaren Welt aus.

Es war zwar ein Zufall, dass das Den Haager Gericht die Anhörung am 120. Jahrestag des Aufstands der Herero im heutigen Namibia begann. Doch stellt sich unmittelbar ein erschütternder Zusammenhang her. In Reaktion auf einen verlustreichen Überfall auf deutsche Siedler:innen durch Herero-Kämpfer am 12. Januar 1904 und in den Tagen danach beging die „Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika“ den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Aus namibischer Sicht legt sich die Geschichte des Herero-Aufstands und seiner Folgen, trotz aller Unterschiede, wie eine Folie auf die grauenvollen Geschehnisse seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober. Die Regierung Namibias kritisierte die deutsche Reaktion entsprechend unmittelbar und scharf.

Die Verbissenheit jedenfalls, mit der die deutsche Politik sich weigert, die an koloniale Geschichte erinnernden Anteile der israelischen Siedlungs- und Unterdrückungspolitik zur Kenntnis zu nehmen, hat unzweifelhaft auch mit der fehlenden Aufarbeitung eigener Verbrechen zu tun. Dabei müsste doch Deutschland im Stammbuch stehen haben: Ein Land, das zwei Völkermorde der modernen Geschichte verantwortet, hat mit äußerstem Ernst und Demut jeden seriös vorgetragenen Vorwurf einer genozidalen Absicht zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen.

Dennoch: Ein Hoffnungsschimmer

Der Auftritt Südafrikas vor dem internationalen Gerichtshof hat jedoch auch ohne Unterstützung Deutschlands gezeigt, dass es eine Alternative gibt. Das ist und bleibt die Kraft des Völker- und Menschenrechts. Dafür wurden nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts Institutionen wie der Internationale Gerichtshof und später der Internationale Strafgerichtshof geschaffen. Sie können mit dem Weltrecht im Rücken ein Ende des Grauens verlangen und Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen. Und zwar für alle, denen das Grauen angetan wird und wurde, auf beiden Seiten der Grenze. Die Region wird nur eine Zukunft haben, wenn die Straflosigkeit beendet und Gerechtigkeit hergestellt wird.

Das zur deutschen Staatsräson erklärte Bekenntnis der politischen Elite zum herrschenden israelischen Sicherheitsverständnis hingegen, das seit jeher auf das Recht des Stärkeren setzt, enthüllt sich als das, was es ist: eine Politik des Zwangs, die keine andere politische, juristische, philosophische oder historische Position zulässt. Von Demokratie ist in dieser Hinsicht nur noch schwer zu reden. Erst recht nicht von Politik, wenn man sie im unbedingten Sinne Hannah Arendts als Entscheidung des kollektiven freien Willens begreift.

Die Gleichgültigkeit der deutschen Politik gegenüber dem Geschehen in Gaza, in dessen Windschatten zusätzlich das Projekt zur weiteren israelischen Besiedlung radikal vorangetrieben wird, macht die Bundesregierung zu einem unglaubwürdigen Akteur in der Region. Niemals wirkte der appellhafte Rückgriff auf die Zwei-Staaten-Lösung so leer wie jetzt. Hinter all den Floskeln bleibt die Absicht kaum verborgen, das ohnmächtige Publikum an Verbrechen zu gewöhnen, die zum Bestandsschutz Deutschlands und des Westens nötig scheinen.

medico international am 18. Januar 2024
 

Veröffentlicht am 18. Januar 2024

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