Afghanistan

Kein sicheres Herkunftsland

Gebrochene Versprechen nach dem Krieg und ein neuer Aufbruch der ersten Nachkriegsgeneration. Besuch aus Kabul.

Von Thomas Seibert

Anfang Februar 2016 reiste Bundesinnenminister de Maizière nach Kabul. Er forderte die Afghanen auf, im Land zu bleiben, und verhandelte über eine schnellere Rücknahme abgelehnter Asylbewerber. Pressefotos zeigen ihn mit Stahlhelm. Nicht ohne Grund: Am Tag, da der Minister und seine Leibgarde durch die Hauptstadt fuhren, sprengte sich vor einer Polizeiwache ein Selbstmordattentäter in die Luft und nahm 29 Menschen mit in den Tod. Afghanistan, sicheres Herkunftsland.

Zwei Wochen später empfingen wir Besuch aus Kabul: der Mittdreißiger Hadi Marifat und der Mittfünfziger Mohammad Sharif, den alle den „Doktor“ nennen. Sie sind Gründer der Afghan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO), des medico-Partners in Afghanistan.

Wir sprachen über den Besuch de Maizières, über die Flucht Zehntausender aus dem kriegsverwüsteten Land, über die geplanten Massenabschiebungen und die Nachrichten vom griechisch-mazedonischen Grenzort Idomeni, den Afghanen nicht mehr passieren können. „11.000 Menschen sind bei uns im vergangenen Jahr der Gewalt zum Opfer gefallen, über 7.000 wurden verletzt, über 3.000 starben“, sagt Hadi, „mehr als im Jahr zuvor, doppelt so viele wie 2009. Wenn ich mich morgens von meiner Mutter verabschiede, weiß ich nicht, ob ich sie abends wiedersehe.“

„Oh ja, es ist etwas besser geworden: Wir haben den ersten gewaltfreien, gesetzmäßigen Regierungswechsel unserer Geschichte hinter uns“, wendet der Doktor schmunzelnd ein. Dann ernsthaft: „Die Leute haben unter Lebensgefahr ihre Stimme abgegeben, manche mussten dazu über Stunden durch unsicheres Gelände gehen. Jetzt gibt es eine sogenannte Regierung der nationalen Einheit. Dabei handelt es sich um ein Kabinett von Warlords, deren größtes Interesse darin besteht, sich von aller Verantwortung freizusprechen. Die internationalen Truppen ziehen sich zurück , Zehntausende Jobs sind verloren. Sicher ist hier nur der Opiumanbau.“ Hadi erinnert daran, dass de Mazière von „sichereren Zonen“ sprach. Das sei, so Hadi, nicht ganz falsch. „In manchen Gegenden herrscht Krieg, andere stehen unter Kontrolle von Warlords, Taliban oder IS und sind vorerst befriedet.“

Doch die ethnischen und religiösen Spannungen dauerten an. „Hazaren oder Usbeken können sich nicht einfach in paschtunischen Gebieten ansiedeln, Paschtunen nicht in Dörfer von Hazaren oder Usbeken ziehen.“ In den letzten dreißig Jahren seien alle abwechselnd zu Tätern und Opfern geworden. Die Kriege haben Afghanistan, eigentlich ein koloniales Konstrukt, entlang ethnisch-religiöser Trennlinien neu geordnet.

Menschen abladen wie Müll

Die Äußerungen de Mazières haben bereits Folgen. Erste Afghanen wurden nach Afghanistan geflogen. „Ich weiß von Leuten, die sich nach der Rückkehr umgebracht haben oder den Taliban in die Hände fielen,“ erklärt Hadi. „Man kann Menschen doch nicht wie Müll abladen.“ Der Doktor ergänzt: „Das Problem sind nicht allein die Taliban, sondern das Fehlen gesicherter rechtsstaatlicher Verhältnisse, die alles durchdringende Korruption, die allgegenwärtige Unsicherheit. Wer in die nächste Stadt zum Arzt oder auf den Markt geht, riskiert entführt zu werden. Allein auf dem Weg von Kabul nach Kandahar sind 2015 über 50 Menschen verschwunden.“

Hadi lebt erst seit wenigen Jahren in Kabul. Seine Eltern sind Anfang der 1980er Jahre mit Millionen anderen Afghanen nach Pakistan geflohen. Er ist nahe der Grenze in Quetta aufgewachsen und zur Universität gegangen. Dank eines Stipendiums konnte er sein Studium in den Niederlanden abschließen. Wie viele andere Kinder des Exils ist er freiwillig zurückgekehrt, um sich an Wiederaufbau und Demokratisierung zu beteiligen. Er wurde Mitarbeiter einer internationalen NGO, stieß sich aber schnell daran, von außen erdachte „Programme“ umsetzen zu müssen. In den Mittagspausen traf er andere junge Heimkehrer, die genauso unzufrieden waren.

Irgendwann kündigten einige ihre Jobs und gründeten AHRDO. Seitdem stellt sich AHRDO in den Dienst der Menschen, die in den letzten fast vierzig Jahren zu Opfern einer oder mehrerer der Kriegsparteien geworden waren. Frauen, die ihre Männer verloren haben und jetzt allein für ihre Familie sorgen müssen. Männer, die in Folter und Gefangenschaft gerieten, darunter auch solche, die selbst zu Tätern geworden waren. Gelingt es, sie als Überlebende der Gewalt aller Seiten zusammenzubringen, hat man Menschen versammelt, für die ein Ende der Gewalt die erste Bedingung einer Gerechtigkeit wäre, die niemanden ausschlösse.

Überlebende der Gewalt

Mohammad Sharif, der Doktor, war einer der ersten, der zu AHRDO stieß. Als Aktivist der Studierendenbewegung der 1970er Jahre promovierte er zwar noch zum Arzt, konnte seinen Beruf aber nie ausüben, weil er erst von der sowjetischen Armee, dann von den Mudschaheddin und zuletzt von den Taliban verhaftet wurde. Er verlor mehrere Brüder, verbrachte zehn Jahre in einem pakistanischen Flüchtlingslager, kehrte nach Kabul zurück. Nachdem AHRDO begann, mit der in Lateinamerika entwickelten Methode des „Theaters der Unterdrückten“ zu arbeiten, wurde er zum „Joker“ unzähliger Aufführungen. Der seriöse Mann eröffnet das Spiel, indem er seine Geschichte in Wort und Geste mitteilt und den anderen die Angst nimmt, von sich zu berichten. AHRDO initiiert solche Schauspiele nicht nur in Kabul, sondern an vielen Orten des Landes.

Zugleich aber sorgt der medico-Partner dafür, dass es nicht bei einem Theaterstück bleibt, sondern die Mitspieler sich danach zu „Schuras“ zusammentun. Nach afghanischer Sitte sind das Ratsversammlungen, in denen ein Gemeinwesen seine Angelegenheiten regelt. Die Schuras der Kriegswitwen und Kriegsversehrten sind Zusammenschlüsse zur gegenseitigen Hilfe in den alltäglichen Nöten wie im Versuch, politisch das Wort zu ergreifen. So im Streit mit der Stadtverwaltung von Kabul um die Umbenennung einer Hauptstraße in „Straße der Kriegsüberlebenden“ – ein Streit, den AHRDO gewonnen hat.

„Ich bin Angehöriger einer Generation, die unter dem Protektorat der internationalen Truppen erwachsen geworden ist“, sagt Hadi. „Das Versprechen, das man uns gegeben hat, wurde nicht gehalten. Viele haben sich deshalb auf den Weg nach Europa gemacht, andere werden folgen. Aus Enttäuschung, angesichts völliger Perspektivlosigkeit. Wir gehören zu denen, die um das uns gegebene Versprechen und um unser Überleben kämpfen.“

Nicht nur in Kabul hat es erste Demonstrationen dieser Generation gegeben, zugleich gegen die Taliban, die Warlords und die Regierung gerichtet, mit Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es gibt Lesezirkel, in denen Schüler und Studierende ihren Anschluss an die politischen Debatten suchen, die heute überall auf der Welt geführt werden. AHRDO übt gerade ein neues Stück ein, das kein Laien-, sondern ein Schauspielerstück sein wird. Es trägt den Titel „Die Achse des Bösen“ und bringt einen Taliban zusammen mit dem Piloten einer amerikanischen Drohne auf die Bühne. Der Doktor wird den Taliban spielen.

Im September 2015 hat AHRDO mit dem Projekt „Die Reisen“ begonnen: Aus vier Provinzen besuchen sich jeweils sechs junge Frauen und Männer gegenseitig und spielen ihren Gastgebern Theaterstücke mit Szenen ihres Alltags vor. Die Stücke werden im Verlauf der Reise stetig überarbeitet. Eingebettet werden die 24 Aufführungen in mehrtägige Aufenthalte mit einer Vielzahl weiterer Aktivitäten. Die Erfahrungen werden in Reistagebüchern und in einem Dokumentarfilm festgehalten, der selbst auf Reise gehen und an 16 Orten vorgeführt werden wird. Die Tagebücher sollen zuletzt auf einer Ausstellung in Kabul präsentiert werden, die den Schwierigkeiten, aber auch Chancen eines multiethnischen Afghanistans gewidmet ist. medico unterstützt „Die Reisen“ mit Mitteln des Auswärtigen Amtes. Außerdem fördern wir aus Spenden AHRDO institutionell.

Spendenstichwort: Afghanistan

Veröffentlicht am 22. März 2016

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