"Im Scheitern lag ein Anfang"

Warum der Fußballspieler Romeo Boukar aus Kamerun eine Initiative für abgeschobene Migranten in Mali gründete.

Auch wenn Migranten zumeist mit nicht mehr als sich selbst unterwegs sind, tragen sie doch eine ganze Welt in sich, die sich nicht nur aus der Erfahrung erlittener Ungerechtigkeit und Ausgrenzung zusammensetzt, sondern zugleich ihre Kämpfe um Anerkennung, Lebenssicherheit und Glück umfasst. Ein Interview mit Romeo Boukar, der nach seiner Abschiebung die Selbsthilfeorganisation ARARCEM (Association des Refoulés d'Afrique Centrale au Mali) Bamako (Mali) gegründet hat.

Ein großes Problem der Migranten ist, dass sie oft im Transit stecken bleiben oder direkt abgewiesen werden und dies dann als individuelle, persönliche Schuld wahrnehmen. Kannst du ein Beispiel nennen?

Boukar: Diese Erfahrungen habe ich als Migrant selbst gemacht. Als ich vor fünf Jahren nach Mali kam war ich lustlos und hatte keinerlei Perspektive. Meine Versuche nach Europa zu migrieren, waren gescheitert und ich in suchte den Grund für die verweigerte Migration bei mir selbst. Erst durch die Arbeit mit ARACEM konnte ich meine Probleme in etwas Positives umwandeln. Dabei stellte ich fest, dass es nicht die einzelnen Europäer sind, die uns die Einreise verweigern, sondern die europäische Politik. In Zusammenarbeit mit europäischen Partner/innen versuchen wir bei ARACEM den anderen Migranten zu erklären, dass es nicht ihre eigene Schuld ist, die zum Scheitern ihrer Migrationsversuche führt, sondern die der europäischen Migrationspolitik.

Die Polizei soll gerade in jüngster Zeit massiv gegen Migranten vorgehen, auch in Mali.

Das kann ich bestätigen. Ich selbst wurde schon sechs Mal von der Polizei aufgehalten. Grundproblem ist aber vor allem die latente Fremdenfeindlichkeit. Immer, wenn sich an einem Ort mehrere Ausländer/innen versammeln, macht sich unter der einheimischen Bevölkerung Angst breit und die Polizei wird gerufen. Das liegt aber auch an den mangelnden Integrationsbemühungen gegenüber den Migranten.

Kannst du dir erklären, weshalb die Polizei so häufig und rabiat gegen Migranten vorgeht?

Gerade in letzter Zeit hat die Zahl der Migranten vor allem in den Städten sehr schnell und sehr stark zugenommen. Da werden bestehende Vorurteile und Ängste schnell größer und die Migranten noch stärker ausgegrenzt. Dann ist es einfacher, sie hinter Gitter zu bringen als sie zu integrieren, zumal sich die Polizist/innen durch Bestechungsgelder ein Zubrot verdienen können.

Welche Erfahrungen hast du selbst als Migrant gemacht bis du in Mali gelandet bist und die ARACEM gegründet hast?

Nachdem mein Vater ein Jahr zuvor gestorben war, habe ich 2004 die Schule aufgegeben und Kamerun mit meinem Bruder verlassen. Als professioneller Fußballer habe ich dann zunächst bei einem Erstligaverein in Benin gespielt. Über ein kurzes Engagement bei einer Fußballmannschaft in Niger kamen mein Bruder und ich schließlich nach Algerien. Dort ist uns dann die Idee gekommen, nach Europa auszuwandern. Deshalb sind wir nach Marokko gefahren und haben dort 2005 mit vielen anderen Migranten versucht, die spanische Exklave Melilla zu stürmen. Von den Verletzungen, die ich mir bei dieser Aktion an den Stahlzäunen zuzog, sind heute noch immer die Narben an Armen und Beinen zu sehen. Nach zwei Monaten im Gefängnis wurden mein Bruder Patrice und ich schließlich aus Marokko nach Mali abgeschoben und mit ein- bis zweitausend anderen Migranten an der Grenze ausgesetzt. Zu Fuß sind wir in kleinen Gruppen ins 265 Kilometer entfernte Kita gelaufen und von dort mit Lastwagen nach Gao gefahren. Von den 30 Personen unserer Gruppe, sind am Ende nur 17 angekommen. Die anderen haben wir entweder verloren oder sind gestorben.

Was geschah dann nach deiner Ankunft in Gao?

In Gao angekommen, wurden wir alle von der Polizei registriert. Unsere Namen wurden auf Zettel geschrieben, mit einem Stempel versehen und für jeden kopiert. Mit diesen Behelfsausweisen sind wir weiter nach Bamako, wo wir, nach knapp zwei Monaten auf der Straße, ein verlassenes Haus gefunden haben, das sich bereits andere Migranten als Unterkunft genommen hatten. Auf einem Forum, das zum Gedenken der toten Migranten abgehalten wurde, habe ich viele Europäer getroffen, die mir empfahlen, eine Organisation zu gründen, die die Interessen der Migranten gebündelt vertritt. Zusammen mit Patrice habe ich schließlich 2006 ARACEM gegründet, die nach einigen formalen Querelen 2007 auch vom Staat als legale Organisation anerkannt wurde. Damals war ich 17. Seitdem widmen wir uns den Problemen von Migranten in und um Bamako. Das heißt, wir sorgen für Unterkunft, Ernährung und medizinische Versorgung. Nach sieben Monaten hatten wir bereits 1.300 Migranten betreut. Wir haben einen Ort geschaffen, an dem die Menschen aufgefangen werden können.

Das Interview führte Martin Glasenapp während des Weltsozialforums 2011 in Dakar, Senegal.

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Projektstichwort

Die Selbsthilfegruppe ARACEM kümmert sich in Bamako, der Hauptstadt Malis, um die zahlreichen Migranten aus den zentralafrikanischen Ländern, die oftmals auf dem Weg nach Nordafrika und dem Mittelmeer den Transitraum Mali durchqueren, oder die aus Europa abgeschoben wurden. Der Flughafen Bamako ist das Drehkreuz für fast alle, die aus dem frankophonen Europa nach Westafrika abgeschoben werden. Erschwerend für diese Unglücklichen kommt hinzu, dass nur wenige zentralafrikanische Länder (Kamerun, beide Kongos, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Gabun) in Bamako eine Botschaft unterhalten. Wer also mittellos nach Mali abgeschoben wurde, ist auf die Solidarität anderer angewiesen. Die ARACAM gründete sich auch in Reaktion auf die Geschehnisse in Ceuta und Melilla im Jahr 2006, wo bei einer Massenflucht nach Europa Hunderte Menschen verletzt wurden und Dutzende ums Leben kamen. Seitdem betreibt die ARACEM ihr Haus der Solidarität, in dem Migranten mit Lebensmitteln und dringend benötigten Medikamenten versorgt werden. Aktuell ist angesichts des Krieges in Libyen der Bedarf besonders hoch, mussten doch viele Migranten aus Zentralafrika fliehen und sitzen nun erneut in Bamako fest. medico unterstützt die ARACEM seit 2009 mit einem jährlichen Zuschuss zum Gesamtbudget - damit unser Partner ohne bürokratischen Aufwand da handeln kann, wo die Hilfe schnell gebraucht wird. Das Stichwort lautet: Migration.

 

Veröffentlicht am 29. Juni 2011

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