Von den Märchen der Fundraiser und den Sünden der Spendenwerber. Gastkommentar von Stephan Hebel anlässlich des alljährlichen Fundraising-Kongresses.
1.
Es gibt einen Werbespot von Renault, in dem kein einziges Auto zu sehen ist. Im Crashtest treten gegeneinander an: eine Weißwurst, ein Sushi, ein Knäckebrot und ein Baguette. Während alle anderen Delikatessen in Einzelteile aufgelöst durch die Gegend fliegen, knautscht sich das Franzosenbrot beim Aufprall in Zeitlupe kurz zusammen und ist gleich wieder in Form. Die Botschaft: Niemand – nicht die Deutschen, nicht die Japaner, nicht die Schweden – baut so sichere Karosserien wie der "créateur d'automobiles" aus Frankreich. Das Besondere an diesem und manchen anderen Spots: Die werbliche Aussage löst sich in der Bildsprache fast vollständig vom Produkt. Der Spot funktioniert, die Assoziation "sicheres Auto" stellt sich beim Zuschauer zuverlässig ein. Man kann auch sagen: Renault erzählt uns ein Märchen, und die "Moral" von der Geschicht' kommt an.
Auf der Homepage der "Aktion Deutschland hilft" wurde vor Weihnachten 2006 ebenfalls ein Märchen erzählt. Es war die Geschichte der Gebrüder Grimm von den "Sterntalern". Von dem armen Waisenmädchen, das noch sein letztes Hemdchen hergab, um anderen zu helfen, "und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler". Und das Mädchen "war reich für sein Lebtag". Die Moral von dieser Geschicht' lieferte die "Aktion Deutschland hilft" gleich mit: "Spenden ist – ähnlich wie im Märchen – eine gänzlich uneigennützige Sache, denn wir haben selbst keinen Vorteil von unserer Gabe. Dennoch erhalten wir etwas zurück, leider nicht wie im Märchen, in dem das arme Waisenkind blanke Taler erhielt. Wir erhalten zurück, was materiell nicht messbar ist...". Nicht mal ein crashsicheres Auto, möchte man hinzufügen – es sei denn, bei der Spendengala gibt's ein Preisausschreiben. Aber immerhin: "Schenken Sie Sterntaler und bringen Sie Licht und Wärme in die Welt."
Die Frage, um die es hier gehen soll, ist die: Hat solche Spendenwerbung mehr mit guter Hilfe zu tun als ein Baguette mit einem guten Auto? Wenn nein: Ist es hilfreich, für humanitäre Anliegen genauso zu werben wie für ein x-beliebiges Konsumgut? Ist es egal, ob ich den "Kunden" das Gefühl von Sicherheit auf der Straße verkaufe oder das Gefühl, in einer Welt voller Katastrophen Gutes zu tun?
Ganz offensichtlich beantworten viele Fundraiser und PR-Leute diese Fragen mit Ja. Und um auch das vorweg zu sagen: Es gibt viele Journalisten, die sie gar nicht mehr stellen. Beides, die Entwicklung der Werbestrategien am Spendenmarkt und ihr mediales Echo, gibt Anlass zur Sorge um den eigentlichen Daseinszweck dieser Branche: die nachhaltige Hilfe für Menschen in Not.
Warum Sorge? Reichen die guten Ergebnisse der jährlichen Spenden-Akquise – und erst recht der reichhaltige Geldfluss nach dem Tsunami an Weihnachten 2004 – nicht aus, um die eingesetzten Werbemittel zu rechtfertigen? Ich behaupte: Nein. Es gibt genügend Anzeichen dafür, dass sich die Form der Spendenwerbung auf den Inhalt der Hilfe auswirkt, und das nicht zum Guten.
2.
Wer sich von einem noch so gut gemachten Werbespot verleiten lässt, ein bestimmtes Auto zu kaufen, ist erstens selbst schuld und trägt zweitens das Risiko. Kunden, denen ihr Geld und ihr Leben lieb ist, werden unabhängige Tests zu Rate ziehen; sie werden Probe fahren und vergleichen, bevor sie einem Produkt den Zuschlag geben. Sie möchten das Gefühl haben, das Beste zu kaufen.
Wer an eine Hilfsorganisation spendet, möchte helfen, möchte jenen, die schlechter leben, ein bisschen "Licht und Wärme" bringen. Er möchte sich nicht nur ein gutes Gewissen kaufen – was niemandem zu verübeln wäre -, sondern in der Regel auch ein Stück bessere Welt. Und das, wenn es gut geht, nicht nur aus falsch verstandenem Altruismus, sondern aus der Erkenntnis, dass das Elend in einer globalisierten Welt am Ende auch den Reichen schadet. Der Haken: Der persönliche Produkttest fällt aus. Ob sein Geld wirklich zum Gewünschten beiträgt, kann der Spender kaum beurteilen – und viele Formen von Fundraising und Charity-PR machen alles andere als den Versuch, der "Kundschaft" dieses Urteil zu erleichtern.
Natürlich darf Spendenwerbung auch – wohlgemerkt: auch! – Gefühle ansprechen. Das Spenden hat immer mit Emotionen zu tun. Doch zwischen diesen durchaus ehrenwerten Gefühlen und den realen Erfordernissen liegen die eigentlichen Aufgaben der Helfer. Jeder, der sich näher mit der Materie befasst, weiß: Gute Hilfe ist mehr als ein paar Euro für das dunkle Kind mit den großen, traurigen Augen. Sie findet im Rahmen gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Strukturen statt. Wer diese Strukturen und damit die Komplexität der Situation in den Empfängerländern missachtet, richtet womöglich mehr Schaden als Nutzen an. Er missbraucht das Mitleid seiner Spender – und beschädigt am Ende (dazu später mehr) die Hilfe selbst. Er missachtet eine fundamentale Erkenntnis: Geld mag die Welt regieren, aber retten kann Geld allein sie nicht.
Ein Beispiel wurde bereits genannt: die "Aktion Deutschland hilft" (ADH). In diesem Bündnis, gegründet nach dem Tsunami, sind zehn Hilfsorganisationen versammelt. Vier von ihnen wird, wer nachzufragen beginnt, nicht in der Liste der vom "Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen" (DZI) zertifizierten Organisationen finden. Das muss nicht heißen, dass sie unseriös sind – aber eine Erklärung findet der Internet-Surfer beim Blick auf die Seiten der "Aktion Deutschland hilft" nicht. Statt dessen nicht zu übersehen ist das Bild des Schirmherrn Richard von Weizsäcker. Promi-Faktor statt Fakten: Dieses PR-Prinzip ist neben der Banalisierung der Verhältnisse ("...ein bisschen Licht und Wärme...") als zweite Sünde der PR-Strategen festzuhalten.
Um nicht unfair zu sein: Auch die "Aktion Deutschland hilft" benennt in ihrem Werbematerial einige Kriterien moderner Hilfe: "Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur um den physischen Wiederaufbau geht, sondern auch um die Stärkung des Gemeinwohls, aus der heraus sich die Entwicklung der Gesellschaft vollziehen kann.", schrieb ADH-Geschäftsführerin Manuela Roßbach in ihrer Bilanz zwei Jahre nach dem Tsunami, und auch von der "Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Projekten" war die Rede. Löst das Bündnis diese Ansprüche ein? Kann schon sein. Wer es aber wissen will, muss beispielsweise in der Tsunami-Bilanz zwischen all den glücklichen Menschen mit neuen Häusern ziemlich intensiv suchen – und wird nur sehr begrenzt fündig. Die (kurze und oberflächliche) Benennung der Probleme und der komplizierteren Anforderungen an die Wiederaufbau-Hilfe überlassen die ADH-Leute einem Außenstehenden, der per Interview zu Wort kommt: Die internationalen Organisationen, sagt UN-Vertreter David Evans, hätten zu "unrealistischen Erwartungen" beigetragen, "indem sie sich schnell über alle Maßen zu Projekten verpflichtet haben, mitunter auf Gebieten, in denen es ihnen an Erfahrungen mangelte". Und: "Hinzu kam ein zu geringes Verständnis für die Komplexität der lokalen Verhältnisse." Welch ein Kontrast zur rituellen Betroffenheit in den Promi-Galas und der suggestiven Personalisierung von Problemen auf den Opferfotos der Spendenwerber!
"Aktion Deutschland hilft" ist nicht das einzige Beispiel. Als Meister der Banalisierung darf zum Beispiel RTL mit seinem "Spendenmarathon" gelten: "Wir schauen in die Gesichter von Kindern, denen wir mit unserer Hilfe wieder ein Lächeln schenken konnten", schrieb RTL-Geschäftsführerin Anke Schäferkordt nach der jüngsten Aktion 2006. Das, was seriöse Helfer "Evaluierung" nennen, beschränkt sich in der Propaganda der Fernsehleute auf die Zeugenschaft blutiger Laien: "Der Reporter, der Kameramann, der Fotograf, der prominente Pate und der Zuschauer – sie alle waren und sind Augenzeugen des Gelingens." Und die Kriterien für gute Entwicklungshilfe auf RTL-Niveau benennt Schäferkordt gleich mit: "Erfolg ist, wenn Kinder wieder lachen können. Denn das bedeutet, dass ihr Leben eine Zukunft hat." Ja, wenn die Welt so einfach wäre!
3.
Muss das sein? Und heiligt der Zweck die Mittel? Zu beiden Fragen ein klares Nein. Spätestens der Tsunami müsste uns gelehrt haben: Die anlassbezogene, auf medial verstärkte Reflexe bauende Form des Fundraising schlägt am anderen Ende der "Wertschöpfungskette", bei der Hilfe vor Ort, fast zwangsläufig negativ zu Buche. Sie läuft zwei entscheidenden Kriterien einer nachhaltigen und damit wirksamen Hilfe zuwider: erstens der notwendigen Kontinuität und zweitens der notgedrungenen Komplexität.
Kontinuität bedeutet: Hilfe braucht Zeit. Bekanntlich beschränken sich weder Naturkatastrophen noch die dauerhaften Entwicklungsprobleme der "Dritten Welt" auf die Zerstörung von Häusern oder Feldern. Sie zerstören auch Gemeinden, Traditionen, Produktionsweisen und vieles mehr. Entsprechend gilt: Ein neues Haus, schnell gebaut, wird bei den Bewohnern allemal ein fotogenes Freudestrahlen auslösen. Ihnen zu Arbeit zu verhelfen, zu stabilen sozialen Kontakten, gar zu einem selbstbestimmten Leben – das dauert gegenüber dem Bau eines Hauses geradezu unendlich lange. Und jeder, der dabei helfen will, braucht ebenso lange Geld – auch dann noch, wenn die Katastrophen-Konjunktur in der Region vorüber-, die Medienkarawane weitergezogen ist. Im Umkehrschluss: Wo – wie nach dem Tsunami – Tausende Hilfsorganisationen in gegenseitiger Konkurrenz ihre Claims abstecken und zum Teil nicht wissen, wohin mit dem vielen Geld, ist nachhaltige und integrierte Hilfe so gut wie unmöglich und die nächste Katastrophe programmiert, auch ohne Tsunami.
Der zweite Aspekt – Komplexität – hängt damit direkt zusammen. Ein Beispiel: Was nutzen neue Häuser für Tsunami-Opfer in Sri Lanka, wenn sie womöglich wenig später durch den wieder aufgeflammten Krieg zerstört werden? Nur wenige Helfer – zum Beispiel die Frankfurter Organisation "medico international" – hatten den Mut, die politischen Verhältnisse in ihre Arbeit – und ihre Werbung - einzubeziehen. "medico" verwendete einen guten Teil seiner Energie nach dem Tsunami darauf, im Umfeld der eigenen Projekte zwischen den örtlichen Führern der verfeindeten srilankischen Volksgruppen zu vermitteln, um Garantien für diese Projekte zu erhalten. Oder "Andheri", eine von dem Fernsehjournalisten Franz Alt unterstützte Organisation aus Bonn: Sie nahm die Tsunami-Hilfe in Indien zum Anlass, einen Keil in die starren Kastenstrukturen zu treiben: Die betroffenen "Kastenlosen" erhielten Unterstützung bei der Produktion eigener Baustoffe und bei der Renaturierung versalzener Böden, an denen sie sich nach langem Kampf auch Eigentumsrechte erwerben konnten. Ihr Projekt hat nicht nur die Häuser, sondern auch die soziale Lage dieser Leute auf ein vollkommen neues Fundament gestellt. Kann ich den Menschen in Thailand, Sri Lanka und Indonesien wirklich helfen, solange die Politik sich nur an den Bedürfnissen der Tourismuskonzerne ausrichtet? Kann ich gegen Aids in Südafrika kämpfen, ohne das Monopol der Pharmakonzerne auf Medikamentenpatente zu knacken? Kann ich Minenopfer versorgen und dabei ignorieren, dass ganze Landstriche immer neu mit Sprengsätzen – auch aus deutscher Produktion – verseucht und damit faktisch unbebaubar werden? Vielleicht erinnert sich mancher noch: medico international betrieb schon vor Jahren nicht nur Minenräumung und die Versorgung der Opfer mit Prothesen, sondern zugleich auf politischer Ebene das Verbot von Antipersonenminen. Mit Erfolg: Das Ergebnis war der Vertrag von Ottawa, der diese Waffen ächtete – und der Friedensnobelpreis, den "medico" dafür gemeinsam mit anderen Organisationen vor zehn Jahren erhielt.
Wenn Fundraising all diese Zusammenhänge auch in Zukunft so weitgehend ausblendet, dann stehen die Chancen schlecht für eine Hilfe, die mehr bringt als ein Lächeln, das schnell wieder vergeht. Erfolge wie die Minenkampagne von medico zeigen: Es gibt kein Naturgesetz, das es gebietet, die potenziellen Spender für dumm zu verkaufen, indem man Zusammenhänge ignoriert.
4.
Diese Kritik trifft allerdings nicht nur die Organisationen selbst, sie trifft in gleichem Maße uns, die Medien. Auch Fernsehen, Radio und Zeitungen erliegen allzu sehr den Katastrophen-Konjunkturen. Auch sie verfallen in die Sünden der Personalisierung – von der Bildsprache bis zum Promifaktor – und der Banalisierung. Wann kommt es schon vor, dass eine Zeitung über einen Zeitraum von zwei Jahren, im ersten Jahr monatlich, den Fortgang ausgewählter Hilfsprojekte recherchiert und beschreibt? Die "Frankfurter Rundschau" hat dies nach dem Tsunami getan – ist es zu viel des Selbstlobs, festzustellen, dass es sich da um eine seltene Ausnahme handelt?
Wie die Fundraiser ihre Zielgruppen, so unterschätzen auch viele Medien leider ihre Zuschauer, Hörer oder Leser. Auch in Redaktionen ist zu hören, man solle die schnelle Hilfe doch nicht mit komplizierten Zusammenhängen und politischen Betrachtungen belasten. Aber sollten wir nicht die Probe aufs Exempel machen? Die Fundraiser von Hilfsorganisationen und die Macher von Medien sollten sich mal zusammensetzen und eine pfiffige Kampagne erdenken, die Sri Lankas Fischer, Südafrikas Aidskranke oder Afghanistans Minenopfer in den gesellschaftlichen Zusammenhängen zeigt, die ihr Leiden verstärken und verlängern. Wetten, dass das der Spendenbereitschaft keinen Abbruch und der Hilfe gut täte?
Dieser Text erschien gekürzt in der Druckausgabe des medico-Rundschreibens 2/2007.