Flucht-Ursachen

Globalisierung der Verunsicherung

Was die Vorherrschaft des Westens mit der herrschenden Unsicherheit zu tun hat

Frieden ist nicht das Ergebnis von Sicherheit, sondern von Gerechtigkeit, argumentiert Thomas Gebauer am Beispiel Afghanistan.

Mehr als 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben vom 20. - 22. November 2015 an der Göttinger Konferenz zum Thema „Migration – Frieden – Human Security“ teilgenommen. medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer hielt den Eröffnungsvortrag, den wir hier dokumentieren.

Von Thomas Gebauer

I. Alle reden von Fluchtursachen

Der große thematische Bogen, den diese Konferenz spannt, ist angemessen. Für eine kritische Auseinander­setzung mit so bedeutenden Fragen wie dem gegenwärtigen Flucht- und Migrationsgeschehen, aber auch Hass und der Gewalt, die sich in der Welt breit machen, bedarf es unbedingt eines Blicks fürs Ganze.

Flüchtlingen beizustehen und zugleich der Gewalt zu begegnen, ist ohne Frage ein Gebot der Stunde, eines, das wir angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen in Europa gar nicht ernst genug nehmen können. Dennoch gilt es – über die Hilfsbereitschaft und das Bekunden einer generellen Entschlossenheit hinaus – sich auch darüber Klarheit zu verschaffen, wie denn die globalen Verhältnisse politisch zu gestalten wären, damit Menschen gar nicht erst verzweifelt umherziehen müssen und der Hass keine Chance hat.

Es sind in den letzten Wochen immer wieder Aufrufe erschienen, die uns an Werte wie Mitmenschlichkeit und Solidarität gemahnen. Die meisten dieser Appelle enden mit der Forderung, endlich auch die Fluchtursachen anzugehen. Eine Forderung, auf die sich, so scheint es, alle einigen können: sie schmückt Bundestagsreden ebenso wie die Spendenaufrufe von Hilfsorganisationen und die Flugschriften von Flüchtlingsinitiativen. Fragen wir aber nach, was denn mit „Fluchtursachen“ gemeint ist, wird die Sache fast immer vage, mitunter konfus. So wie es sich mir darstellt, verstehen die eilig einberufenen Krisenstäbe unter Bekämpfung von Fluchtursachen vor allem ein effektives Flucht- und Migrationsmanagement, das nicht die Ursachen der Flucht im Blick hat, sondern allein die Flucht selbst. Dabei scheint ihnen selbst die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen opportun zu sein. Solche fatalen Strategien brauchen dingend der Korrektur, und warum nicht durch engagierte Wissenschaft.

Die Aufgabe, die damit verbunden ist, aber sollten wir nicht unterschätzen. Es geht nicht um ein paar ideologische Scharmützel, sondern um die Auseinandersetzung mit hegemonialen Verhältnissen und – darin eingewoben – mit tiefgreifenden sozialen Verunsicherungen.

Ich will Ihnen das an einem Beispiel erläutern, zu dem kürzlich der Bundesinnenminister die Stichworte lieferte hat, am Beispiel Afghanistan:

"Wir sind uns mit der afghanischen Regierung einig, dass die Jugend Afghanistans und die Mittelschichtsfamilien in ihrem Land verbleiben sollen und dieses aufbauen.", so Thomas de Maiziere Ende Oktober: Deutsche Soldaten hätten das Land sicherer gemacht. Auch sei viel Entwicklungshilfe geleistet worden. „Da“, und ich zitiere wieder wörtlich, „da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben.“

Migration, Frieden, Sicherheit: Die drei großen Themen dieser Konferenz sind hier auf bemerkenswerte Weise miteinander in Beziehung gesetzt: bemerkenswert, nicht nur weil hier auf infame Weise die argumentative Grundlage dafür geschaffen wird, Afghanistan zu einem sichereren Herkunftsland erklären zu können. Bemerkenswert vor allem, weil hier ein eigentümlicher Begriff von Sicherheit auftaucht.

II. Afghanistan – ein sicheres Herkunftsland?

Schauen wir genauer hin:

Auch dem Minister dürfte nicht entgangen sein, dass in Afghanistan Krieg herrscht. Ein Krieg, der heute deshalb nicht zu Ende kommen will, weil die intervenierende NATO die Chance auf Frieden verpasst hat. Ja, anfangs haben die Afghaninnen und Afghanen die fremden Truppen durchaus mit großen Erwartungen empfangen. Nach Jahrzehnten eines verheerenden Bürgerkrieges erhofften sie sich Unterstützung beim Aufbau ihres Landes; sie wollten raus aus ihrer entrechteten Lage, sie verlangten nach sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung.
 

Aber genau darum ist es bei der Entsendung der Soldaten nicht gegangen. Erinnern wir uns an die Debatten, die im Bundestag im Herbst 2001 geführt wurde. Nicht die Solidarität mit Afghanistan war das schlagende Argumente, sondern die Solidarität mit den USA. Später bekannte der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck, dass am Hindukusch die Sicherheit Deutschlands verteidigt werde und ließ so keinen Zweifel daran, dass es zuallererst um eigennützige Interessen ging, und nicht um die Bedürfnisse und Rechte der afghanischen Bevölkerung.

Die Vorgaben für den Militäreinsatz in Afghanistan kamen aus den USA, und deren erklärtes Ziel war nicht die Entwicklung des Landes, sondern dass von Afghanistan künftig keine Gefahr mehr für die eigenen vitalen Interessen und die damit korrespondierende globale Ordnung ausgehen würde. Ziel der USA war, wie dies US-Wissenschaftler schon früh betont haben, die Schaffung eines leeren, von feindlichen Kräften befreiten Raumes.

Die Verwirklichung dieses Ziel ließ sich einfacher und effizient über einen Pakt mit den alten Mujaheddin-Führern und Warlords erreichen. Die sollten fortan für Stabilität sorgen und bekamen mit der Rückkehr an die Macht die Chance, sich künftig nach Kräften selbst zu bereichern.

Es ist mir noch heute ein Rätsel, wie deutsche Politikerinnen und Politiker glauben konnten, ausgerechnet mit staatsfeindlichen Kräften einen Staat aufbauen zu können. Oder: wenn Sie es aus einer wirtschaftlichen Perspektive betrachten wollen: wie ausgerechnet mit einer korrupten Machtelite eine inklusive Wirtschaft entstehen sollte.

Ja, in Afghanistan wurde auch Entwicklungshilfe geleistet. Eine Hilfe, die aber mehr dazu diente, in der deutschen Öffentlichkeit Akzeptanz für den Militäreinsatz zu schaffen und in Afghanistan selbst den Schutz der Soldaten zu erhöhen. So paradox das klingt, viele Helfer hatten in den zurückliegenden Jahren den Eindruck, dass nicht die Soldaten für ein sicheres Umfeld sorgen sollten, sondern umgekehrt die Hilfe zur Absicherung der Präsenz der Soldaten beizutragen hatte.

Die Fakten sprechen übrigens für sich. Nach 14 Jahren internationalem Engagement liegt Afghanistan im Human Development Index auf Platz 169 in einer Liste von187 Ländern. Im Korruptionsindex auf Platz 172 von 175 Ländern. Mit Blick auf die über 2 Billionen Dollar, die der Einsatz inzwischen verschlungen hat (Deutschland soll zwischen 30 und 50 Mrd. beigesteuert haben), ein mehr als dürftige Ergebnis.

Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, wenn Afghaninnen und Afghanen heute, da der Krieg wieder eskaliert, die Hoffnung auf den Aufbau ihres Landes verloren haben und nur noch eines im Sinn haben: möglichst schnell das Weite zu suchen. Zwei Millionen würden lieber heute als morgen das Land verlassen, hieß es kürzlich, und eben das irritiert die deutsche Politik.

Die traurige Pointe: in dem Augenblick, in dem der Innenminister mit dem Gedanken liebäugelt, Afghanistan zu einem sicheren Land zu erklären, warnt das Außenministerium vor Reisen nach Afghanistan und verlegen deutsche Entwicklungshelfer in Afghanistan ihren Dienstsitz vorsorglich nach Bonn.

Ich habe Ihnen diese Geschichte erzählt, um auf den Kern des herrschenden Sicherheitsbegriffs hinzuweisen: Wenn heute von Sicherheit die Rede ist, werden die Gefahren grundsätzlich im Außenverhältnis verortet und entsteht Sicherheit folglich in Abgrenzung zu anderen. Gerade in diesen Tagen ist das zu beobachten. Auch in den Reaktionen auf die Gewalt geht es zuallererst um die Absicherung des Eigenen, des eigenen Territoriums, die Absicherung des herrschenden Status Quo und sei er noch so sehr von sozialer Ungleichheit geprägt.

Schauen Sie mal in die Risikoanalysen der einflussreichen Think Tanks in Washington oder in Berlin. Sie werden kaum eine Zeile finden, in der die Ursachen für die gegenwärtig in der Welt herrschenden Bedrohungen mit der politischen, ökonomischen und kulturellen Vorherrschaft des Nordens in Verbindung gebracht werden. Nicht der markradikale Kapitalismus mit all seinen negativen Auswirkungen auf die Lebensumstände der Menschen im Süden gilt als Problem, sondern das, was aus ihm resultiert: der wachsende Bevölkerungsdruck, die Migration, die Verstädterung, die Gewalt. Nicht der Trawler-Fischfang ist das Problem, sondern die Piraterie, mit der Kleinfischer zu überleben versuchen. Nicht die milliardenschweren EU-Agrarsubventionen stehen im Fokus, sondern die Flüchtlinge aus Afrika, die sich auf den Weg nach Europa machen, weil die Erträge ihre Landwirtschaft mit den subventionierten Produkten aus Europa nicht mehr mithalten können.

Das ausgegrenzte Moment, das dem Begriff der Sicherheit innewohnt, ist übrigens auch der Grund, warum ich mit dem Konzept der „human security“ nicht glücklich bin. Es schafft in meinen Augen keineswegs mehr Klarheit, liefert keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn und läuft obendrein Gefahr, für gegenläufige Zwecke vereinnahmt zu werden. Ich bevorzuge ein anderes, ein stärkeres Konzept: das Konzept der Menschenrechte.

Denn im Gegensatz zum vieldeutigen Begriff der Sicherheit sind Rechte normativ. In ihnen lebt der Anspruch auf Gleichheit, selbst dann noch, wenn Rechte durch Macht und Interessen gebeugt werden. Zentrales Prinzip der Menschenrechte ist das Prinzip der Universalität, und so drängt die Anrufung von Menschen­rechten auf eine Politik des Ausgleichs, die der Sicherheit hingegen auf Abschottung.

Das Prinzip der Universalität geht im Sicherheitsdispositiv verloren. Die Definition dessen, was Sicherheit bedroht, wird immer von partikularen Interessen bestimmt und ist subjektiv gefärbt.

Wir sehen das in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte.

In Polen gelten schon ein paar Hundert Flüchtlinge als Bedrohung, in Deutschland sind es ein paar mehr. Es sind Ängste, auf die sich das Bedürfnis nach Sicherheit gründet, und eben das öffnet Tür und Tor für machtpolitischen Missbrauch. Mit dem Schüren von Angst und Unsicherheit, auch das sehen wir gegenwärtig, lassen sich durchaus Wahlen gewinnen und haben rechtpopulistische Bewegungen Zulauf.

III. Menschenrechte müssen materiell abgesichert werden

Aber nochmal zurück zu Afghanistan: Denn zur Begründung der Entsendung von Soldaten hat die Politik ja immer wieder auch auf die Menschen­rechte verwiesen. Einzelnen Medien galt die Bundeswehr ja fast schon als „bewaffneter Arm von Amnesty International“. Sie alle haben übersehen, dass Menschenrechte kein bloßes Attribut einer wie auch immer gearteten menschlichen Natur sind, sondern – im Sinne von Hannah Arendt – das Ergebnis gesellschaftlicher Aneignungsprozesse.

Die Verwirklichung der Menschenrechte gelingt nur dort, wo sie gesellschaftlich gesichert und materiell unterfüttert werden. Nur dort, wo es eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge gibt, sind auch die sozialen Rechte verwirklicht.

Genau diese materielle Absicherung der Menschenrechte aber wurde in Afghanistan systematisch untergraben.

Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit Tom Koenigs, dem damaligen UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan. Es muss Mitte der 2000er Jahre in Kabul gewesen sein, als wir über die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gestritten haben. Mir schienen protektionistische Maßnahmen, wie etwa die Subventionierung des kleinbäuerlichen Weizenanbaus oder der Schutz der wenigen damals noch existierenden afghanischen Kleinunternehmen und Handwerks­betriebe durch Importzölle, absolut notwendig. In den Augen der Interventionsmächte, allen voran den USA, waren solche Vorschläge des Teufels. Die Wiederankurbelung der Wirtschaft könne man getrost den Marktkräften überlassen. Mitunter schien es, dass schon das Erwägen von Alternativen zum herrschenden neoliberalen Paradigma verboten war.

Eine Unterlassung, die übrigens nicht nur den politische Verantwortlichen, sondern auch vielen Experten anzulasten ist. Auch im Kreise von Hilfsorganisationen konnte man sich engagiert über sicherheitspolitische Fragen, über Governance-Modelle, Frauenrechte oder Projekte zur Förderung der Zivilgesellschaft austauschen, ohne sich die Frage zu stellen, wie all diese Ideen nachhaltig auch materiell gesichert werden sollen.

Gewiss: die Ausblendung ökonomischer Zusammenhänge, das mangelnde Verständnis von gesellschaftliche Auseinandersetzungen im Kontext hegemonialer Verhältnisse und daraus erwachsener sozialer Ungleichheit, lag und liegt im Trend globaler Politik, - einem Trend, der sich leider auch im deutschen Wissenschaftsbetrieb niedergeschlagen hat. Das macht es aber nicht besser.

In Afghanistan hat die von den Interventionsmächten erzwungene Liberalisierung der Wirtschaft dazu geführt, dass heute die einzig nachhaltig gesicherte Sphäre der Wirtschaft die Drogenökonomie ist. Der Rest ist die Spekulation mit Immobilen und das Geschäft mit den Interventionstruppen, die sich nun langsam zurückziehen.

Unter solchen Umständen hat Frieden keine Chance. Das ist übrigens keine allzu neue Erkenntnis. Schon die Propheten im Alten Testament wussten, dass Frieden nicht das Ergebnis von Sicherheit ist, sondern von Gerechtigkeit: der Gerechtigkeit Frucht wird der Friede sein, heißt es bei Jesaja. Offenbar ist es notwendig, diesen profan anmutenden Zusammenhang heute immer und immer wieder gegen eine fast schon mythische Überhöhung von Sicherheit zu behaupten.
 

IV. Die Globalisierung der Verunsicherung

Afghanistan aber ist kein Einzelfall: vergleichbare Entwicklungen haben sich – mit jeweils spezifischen Prägungen – auch in vielen anderen Teilen der Welt ereignet. Bei aller Verschiedenheit, die zwischen Afghanistan, Mali oder Guatemala auszumachen ist, kommen in den Veränderungsprozessen, die diese Länder in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, doch gemeinsame Tendenzen zum Ausdruck. Sie alle zeigen Merkmale von sog. „failed states“, die sich bei näherer Betrachtung als Folgen der Globalisierung erweisen, genauer: als Folgen der globalen Entfesselung des Kapitalismus erweisen.

Denn lässt man das euphemistische Gerede vom global village mal beiseite, entpuppt sich die Globalisierung – so wie sie bislang stattgefunden hat – zuallererst als eine ökonomische Strategie. Ziel war nicht die Schaffung von weltbürgerlichen Verhältnissen, sondern die Wiederankurbelung der in den 1970er Jahren ins Stocken geratenen Kapitalverwertung.

Neue Profite versprach damals allein noch eine Internationalisierung der Produktionsabläufe, wozu der weltweite Waren- und Kapitalverkehr liberalisiert werden musste. Das Versprechen, dass dabei auch etwas für die Armen abfallen würde, hat sich als Trugschluss erwiesen. Statt zu einem „Trickle-down-Effekt“, wie es sich manche Entwicklungspolitiker erhofft hatten, kam es zu dessen Gegenteil, zur Umverteilung von unten nach oben. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Gerade einmal ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt heute die Hälfte des weltweiten Vermögens.

Sowohl zwischen als auch innerhalb der Länder hat die soziale Ungleichheit dramatisch zugenommen. Selbst das Davoser Weltwirtschaftsform hat inzwischen eingestehen müssen, dass sich im Zuge der Globalisierung das Risiko für soziale Verunsicherung vergrößert hat. Es sind die wachsende Bedeutungs- und Perspektivlosigkeit, die fehlende Arbeit, die Folgen des Klimawandels, der Hunger, Gewalt, Kriege, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung heute bitterer Alltag sind.

Und dass aus solchen Umständen Gewalt resultiert, das sollte ebenso wenig verwundern, wie die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen auf den Weg machen.

Um eines aber gleich klar zu machen: Nur die wenigsten kommen und werden nach Europa kommen. Die meisten wandern in die Slums der Städte an, manche in die Nachbarländer. Und die, die uns kommen, sind nicht die Ärmsten der Armen. Die nämlich schaffen es in der Regel nicht einmal, ihre Dörfer zu verlassen. Über 300 Millionen Menschen sind seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes aufgrund von Armut gestorben. Das sind mehr als in all den Kriegen des 20. Jahrhunderts zusammen.

Man muss kein Pessimist sein, um vorauszusagen, dass dieses stille, hierzulande kaum wahrgenommene Verrecken von Menschen anhalten wird, wenn die herrschende Zerstörungsdynamik nicht gestoppt wird.

Die Zahl der Klimaflüchtlinge, die jetzt schon auf 20 Millionen geschätzt wird, wird weiter ansteigen, ebenso die Zahl der Kleinbauern, die z.B. aufgrund von Landgrabbing aus ihren Subsistenzwirtschaften vertrieben werden, ohne dass ihnen Alternativen zur Verfügung stünden.

Daran hat übrigens auch die deutsche Politik Anteil. Deklariert als Entwicklungshilfe beteiligt sich das BMZ an der Umstrukturierung der afrikanischen Landwirtschaft nach europäischem Vorbild – vorgeblich, um den Hunger zu bekämpfen, tatsächlich aber um die Interessen des internationalen Agrobusiness zu bedienen. Mehr als 100 Millionen Kleinbauern könnten in den kommenden Jahren ihrer Existenz beraubt werden, warnen Kritiker.

Auch die Freihandelsabkommen, die heute den Ländern im Süden aufnötigt werden, werden zur Zementierung der bestehenden ungerechten weltwirtschaftlichen Strukturen beitragen. Und die Berliner Bürokratie ist sich übrigens sehr bewusst, was sie tut. Auf das destruktive Potential der „Economic Partnership Agreements“ angesprochen, meinten hochrangige Regierungsbeamte lakonisch: Ja, wir müssen darauf achten, dass die negativen Effekte für die Länder des Südens nicht allzu groß werden.

Und so wird der systematische Transfer von Ressourcen von Süd nach Nord, der mit den kolonialen Raubzügen begann, auch künftig anhalten. So absurd es klingt: auch die Finanzströme, die heute in den Norden fließen, sind größer als die in den Süden. Die Liberalisierung des Welthandels hat den Norden zum Netto-Empfänger gemacht.

Die prekären Lebensumstände, denen Menschen zu entkommen versuchen, fallen nicht einfach vom Himmel. Sie sind das Ergebnisse einer Politik, die die Interessen der Ökonomie bewusst über die Rechte und Bedürfnisse der Menschen gestellt hat.

Aber die Migranten und Flüchtlinge sind nicht einfach nur Opfer: In dem sie sich auf den Weg machen, setzen sie der wirtschaftlichen „Globalisierung von oben“ etwas entgegen, das ich eine „Globalisierung von unten“ nenne. Eine Globalisierung, die ich nicht idealisieren will, die aber vom Beharren auf ein Leben in Würde, von einem Festhalten an dem „persuit of happiness“, dem Recht auf Glück beseelt ist, von dem schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Rede ist.

Globalisierung und Migration entpuppen sich so als die zwei Seiten einer Medaille. Dies zu akzeptieren, zu akzeptieren, dass Globalisierung ohne Migration nicht zu haben ist, stellt wohl die größte Herausforderung dar, der sich Nationalstaaten heute stellen müssen.
 

V. Migration als Globalisierung von unten

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Gedanken zu dieser Herausforderung sagen.

Denn die Menschen, die zu uns kommen, erzählen nicht nur von ferne Katastrophen, sondern auch davon, wie nahe Zivilisation und Barbarei zusammenliegen (Hannah Arendt), wie schnell man alles verlieren und auf eine nacktes Leben, auf den Naturzustand zurückgeworfen sein kann. Und die Gefahr für sozialen Ausschluss gibt es ja auch hier. Auch hier nimmt die soziale Ungleichheit zu.

Die Befürchtung, womöglich selbst schon bald zu den Verlierern zählen zu können, erzeugt Angst; Angst, die sich heute nicht zuletzt rechtspopulistische Bewegungen zunutze machen. Überall in Europa sind Parteien auf dem Vormarsch, die auf infame Weise das Unbehagen, das mit der neoliberalen Umgestaltung der Welt auch die eigenen Gesellschaften erfasst hat, missbrauchen. Mit dumpfer Hetze gegen Flüchtlinge, Medien und Europa bedienen sie die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der angeblich noch Ordnung und Stabilität herrschte und Politik noch national bestimmt wurde.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das kaum für möglich gehaltene Ausmaß an öffentlicher Unterstützung für Flüchtlinge eine eminent politische Bedeutung. Getragen von solidarischem Mitgefühl ist es gelungen, ein authentisches Zeichen gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zu setzen. Aber so wichtig die spontane Hilfsbereitschaft ist, so wenig wird die Lösung alleine durch privates Engagement kommen. Gerade mit Blick auf die Fluchtursachen wird deutlich, wie dringend notwendig andere weltgesellschaftliche Verhältnisse sind. Verhältnisse, wie sie in Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als ein Recht umrissen sind, auf das alle einen Anspruch haben. Dort heißt es: alle Menschen haben das Recht auf „eine soziale und internationale Ordnung, in der die Rechte und die Freiheit, die mit der Erklärung in Kraft treten, auch voll verwirklicht sind“.

Hier wird die Herausforderung, vor der wir stehen, deutlich. Mit der menschenrechtlichen Forderung nach einer solchen internationalen Ordnung ist eine Aufgabe benannt, die bedeutender nicht sein kann. Eine Aufgabe, zu der es nur die Alternative des Rückfalls in einen von Feindbildern und Gewalt getragenen Nationalismus gibt.

Und wie brisant die Auseinandersetzung um die Zukunft heute ist, zeigt die Zerrissenheit der hiesigen Öffentlichkeit: dem Drängen auf Weltoffenheit steht nahezu unversöhnlich ein Druck zur Abschottung gegenüber.

Um der herrschenden Krisendynamik zu begegnen, reicht es heute nicht mehr aus, nur die Möglichkeit einer anderen Welt zu behaupten. Es bedarf einer Vision, die das Andere, die neue „soziale und internationale Ordnung“ wenigstens in ihren grundlegenden Prinzipen aufscheinen lässt.

Dabei geht es um Alternativen zur herrschenden profit- und wachstumsorientierten Ökonomie, um die Weiterentwicklung genossenschaftlicher Ideen, um Überlegungen, wie öffentliche Daseinsvorsorge über alle Grenzen hinweg ausgeweitet und z.B. über einen Internationale Fonds für Gesundheit sichergestellt werden kann, welche Verrechtlichungen dazu notwendig sind und – nicht zuletzt – wie ein neues internationales Migrationsrecht aussehen sollte, dass auf der Höhe der Zeit ist.

Es ist klar, dass mit dem Verweis auf solche Notwendigkeiten auch die Frage nach staatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen aufgeworfen ist – und in dieser Frage herrscht allerdings Klärungsbedarf.

Mit Blick auf die bestehende Institutionen, von denen nicht wenige zu bürokratischen und herrschaftssichernden Apparaten verkommen sind, ist die Forderung nach einer „Austrocknung“ von Staatlichkeit, wie sie etwa im Occupy-Kontext laut geworden ist, durchaus nachvollziehbar. Auf prekäre Weise ähnelt sie aber der Staatskritik, die von neoliberaler Seite kommt. Nicht die Abschaffung staatlicher Institutionen steht auf der Tagesordnung, sondern deren demokratische Aneignung von unten. Auch dabei, bei der Begründung einer allen zugänglichen sozialen Infrastruktur bedarf es kritischer Wissenschaft.

Die allerdings darf sich dann nicht auf Politikberatung allein beschränken. Sie müsste vielmehr der Politik Beine machen. Wir sollten Sätze, wie die anfangs zitierten von Thomas de Maiziere, nicht durchgehen lassen. Mit Blick auf die Fehlentwicklungen ist nicht das Schielen auf Exzellenz gefragt, sondern die Bereitschaft sich ins Handgemenge zu begeben. Und so würde ich mir wünschen, wenn wir bei allen Erörterungen, die uns in den nächsten Tagen beschäftigen werden, immer auch mitdenken, wie die gewonnenen Einsichten im Alltag virulent werden können.

Das ist leichter gesagt, als getan, aber unabdingbar, wenn der Griff zur Notbremse, den Walter Benjamin forderte, jemals gelingen sollte. Es ist höchste Zeit, den destruktiven Zug, in dem die Weltgesellschaft unterwegs ist, zu stoppen.

Bei medico reden wir im Kontext von Flucht und Migration von einem doppelten Recht, dem Recht zu bleiben und dem Recht zu gehen. Es liegt auf der Hand, dass beide Rechte nur miteinander, nur gemeinsam zu verwirklichen sind. Nur dort, wo niemand mehr aufgrund von Krieg und Zerstörung zur Flucht gezwungen wird, ist auch das Recht auf Freizügigkeit vollkommen. Nicht Flucht ist das Ziel, sondern Freizügigkeit, als Ausdruck höchster Freiheit.

Vielen Dank!

Veröffentlicht am 01. Dezember 2015

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