Geschäftsbericht 2000

Das Verlangen nach Gerechtigkeit ist so alt wie die Geschichte der Menschen selbst. Zu keiner Zeit ist der Ruf nach gerechteren Lebensumständen verstummt. Ob einzeln oder als Gruppe, immer schon sind Menschen aufgestanden, um gegen bestehendes Unrecht aufzubegehren. Gerechtigkeitsvorstellungen sind keine himmlisch entrückten Ideen, sondern reflektieren ganz konkrete Bedürfnisse. Wem Chancen vorenthalten werden, der verlangt nach Gleichbehandlung; wer Opfer eines Verbrechens wurde, nach Kompensation; wer an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wurde, nach Respekt und Veränderung seiner prekären Stellung.

Alle Menschen sind gleich, heißt es in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte. Individuelle Freiheitsrechte garantieren ihnen die persönliche Integrität und schützen vor staatlichen Übergriffen; soziale Rechte, darunter das Recht auf Gesundheit und soziale Sicherheit, streben nach Gerechtigkeit bei der Verteilung der gesellschaftlich vorhandenen und produzierten Güter. Zwischen Idee und Wirklichkeit aber klafft eine tiefe Lücke. In dem Maße, wie sich Menschen des Widerspruchs zwischen universellem Gleichheitsanspruch und real existierender Ungleichheit bewußt werden, drängen sie auf Veränderung. Die Forderung nach mehr Gerechtigkeit ist dabei Antrieb und Maßstab der geschichtlichen Entwicklung zugleich. Gerechtigkeit zielt nicht auf eine utopische Ferne, sondern auf Veränderungen, die bereits heute möglich und notwendig sind: die weltweite Beseitigung des Hungers beispielsweise oder die allgemeine Garantie einer Versorgung im Krankheitsfall, die Abkehr von Diskriminierung und Demütigung. Die Hoffnungen, die mit dem Fall der Berliner Mauer verbunden waren, haben sich nicht erfüllt. Zwar fand der Ost-West-Gegensatz ein Ende, nicht aber das Nord-Süd-Gefälle, das im Gegenteil zunahm. Millionen von Menschen verarmten, ganze Gesellschaften zerfielen unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung.

Es gehört zu den Widersprüchen des neo-liberal entfesselten Kapitalismus, daß er zwar formalrechtlich die Gleichheit propagiert, seinen Fortbestand aber auf den Profit und damit die Ausbeutung des anderen gründet. Soziale Ungerechtigkeit ist Voraussetzung und Folge des bestehenden Wirtschaftssystems, das tendenziell alle Lebensbereiche kommerzialisiert. Aus der drohenden Auflösung eines am Gemeinwohl orientierten Gesundheits- und Bildungswesen wird zusätzliche Ungleichheit entstehen. Der Abbau allgemeiner sozialer Sicherungssysteme geht einher mit der Privilegierung von Besserverdienenden.

Wenn aber die Idee der Freiheit zur neo-liberalen Befreiung von jeder sozialen Verantwortung verkümmert, wird Freiheit zwangsläufig in einem gesellschaftsfeindlichen Individualismus münden, der schließlich nur noch durch einen immer ausgeklügelteren technischen Sicherheitsapparat kontrolliert werden kann – und der doch keinen Schutz bietet. Denn sind nicht gerade auch die kriminellen Terroranschläge vom 11. September Zeichen einer außerhalb jeder sozialen Ordnung stehenden »verrückt gewordene Freiheit«, in der die Idee einer Gesellschaft von Freien und Gleichen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und durch zutiefst reaktionäre Gewalt ersetzt wurden? Die freie Entwicklung eines jeden ist Bedingung für die Entwicklung aller, schrieben Marx und Engels. Immer deutlicher wird, daß auch das Umgekehrte gilt und Freiheit auf Dauer ohne soziale Gerechtigkeit nicht denkbar ist. Nur so wäre die Freiheit heute zu verteidigen, nicht aber durch die Einschränkung individueller Freiheits- und ziviler Bürgerrechte, die nur in der Abschaffung der Freiheit selbst enden wird. Gerade in Zeiten des Umbruchs muß zuallererst die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt werden. Jedes Vorhaben, jedes neue Gesetz, jede geplante Handlung ist dahingehend zu prüfen, ob sie juristisch, sozial und historisch gerecht ist. – Angesichts des Reichtums, der in der Welt herrscht, ist heute mehr Gerechtigkeit möglich; – und mit Blick auf die bedrohte Freiheit auch notwendig.

Die Finanzen 2000

Seit über 30 Jahren ist medico der Idee der Gerechtigkeit verpflichtet. Jedes Projekt und jede Kampagne ist auch der Versuch, diese Idee zu praktizieren. Insgesamt stand uns dafür im Jahr 2000 ein Gesamtetat in Höhe von rund 15,3 Mio. DM zur Verfügung. Darin enthalten sind Spenden, Zuschüsse, Bußgelder, Mitgliedsbeiträge, und Rücklagen für langfristige Projektverpflichtungen. Mit 5,1 Mio. DM ist der Spendenanteil leicht gegenüber dem Vorjahr angestiegen, was vor allem mit der großen Unterstützung zusammenhängt, die wir für unsere Mosambik-Nothilfe Anfang 2000 von Ihnen erfahren haben. Für die gut 50 Projekte, die medico im vergangenen Jahr förderte, haben wir knapp 11,3 Mio. DM aufgewendet. Zu den großen Programmen zählte erneute die Versorgung der Flüchtlinge aus der Westsahara, die seit 25 Jahren zu einem prekären Leben in der Wüste gezwungen sind, obwohl sie doch jedes Recht auf ihrer Seite haben. Umfangreiche Nahrungsmittelshilfen sowie den gesamten Jahresbedarf an Medikamenten im Werte von 6,2 Mio. DM haben wir den Sahrauis im Jahr 2000 zur Verfügung gestellt. Mit ca. 1,4 Mio, DM haben wir zur Rehabilitation der Geschädigten des Hurrikan Mitch in Nicaragua beigetragen – mit beachtlichem Erfolg. Gerade in diesen Tagen haben die Leute von »El Tanque«, denen medico beim Aufbau eines neuen Dorfes half, ganz offizielle Landtitel erhalten. Rehabilitation übrigens meint die Wiedereinsetzung von Menschen in alte Rechte und eine frühere gesellschaftliche Stellung, die ihnen aufgrund von Unrechtsverhältnissen genommen wurde. Um Kompensationen für erlittenes Unrecht ging es auch in unserer Unterstützung für die Apartheid-Opfer in Südafrika, die seit Jahren auf jene offizielle Entschädigungen warten, die mithelfen würden, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und ihnen rechtlich auch zustehen. medico hilft den Khulumani-Frauen bei ihrer Forderung nach Entschädigung, weil ohne Bewältigung zurückliegenden Unrechts es keine Gerechtigkeit geben kann.

Für die Öffentlichkeitsarbeit haben wir 1,2 Mio. DM ausgegeben, was 8,9 % der Gesamtausgaben (11,6 % im Vorjahr) bedeutet. Hervorzuheben ist nicht zuletzt die kritische Beschäftigung mit deutschen Rüstungsexporten etwa nach Südafrika, wodurch dem Land am Kap wichtige Ressourcen für die Bekämpfung von AIDS sowie die Rekonstruktion des Sozialen verloren gehen. Auf besonderes Interesse traf unsere Mainzer Tagung »Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur«, zu der wir auch Vertreter von 20 Projektpartnern eingeladen hatten, um gemeinsam über die Fortentwicklung geeigneter Versorgungskonzepte nachzudenken. Für die Aufwendungen für administrative Belange sind gegenüber den Vorjahren mit 7,0 % der Gesamtausgaben annähernd konstant geblieben.

Verschweigen möchten wir aber nicht, daß wir trotz dieser – wie wir meinen – recht guten Bilanz dennoch immer wieder unter finanziellem Druck standen. Die Anfragen auf Unterstützung, die Projektanträge der Partner, die Erfordernisse, sich auch im eigenen Land ins politische Handgemenge zu begeben, all diese Notwendigkeiten sind bekanntlich nicht kleiner, sondern eher größer geworden. So manches hätten wir gerne noch zusätzlich unternommen, wenn wir dazu die Mittel gehabt hätten. Aber vielleicht gelingt uns das ja künftig; gemeinsam mit Ihnen, die Sie unsere Arbeit mit Ihren Spenden möglich machen. Die Zustimmung, die wir von Ihnen im zurückliegenden Jahr erfahren haben, jedenfalls ist uns Ermunterung nicht nachzulassen. Das in der Welt dramatisch größer gewordene Gefälle zwischen Arm und Reich macht deutlich, daß allerdings mehr Gerechtigkeit erreichbar und notwendig ist. Wir freuen uns darauf, Sie auch künftig als Partner an unserer Seite zu wissen. Machen Sie mit beim Projekt Gerechtigkeit. Helfen Sie in Ihren lokalen Bezügen, im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz und in der Freizeit, der globale Idee einer an Gleichheit und Freiheit orientierten Gerechtigkeit zum Recht zu verhelfen.

Dafür und für all die Unterstützung die Sie uns in der Vergangenheit zukommen ließen, möchte ich mich bei Ihnen auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich bedanken.

Mit den besten Wünschen
Thomas Gebauer
Geschäftsführer
medico international

Veröffentlicht am 01. November 2001

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