Gerechtigkeit oder allgemeiner Suizid

Kommentar

»The prologues are over. It is a question, now, Of final belief. «
Wallaces Stevens, Asides on the Oboe

»Now, more than ever: a global movement for global justice«
Jeremy Brecher

Merkwürdig verbreitet ist in aller Munde ein Vokabular, das auf Endzeit schließen läßt: »Armageddon«, der »monumentale Kampf des Guten gegen das Böse«; auch viele andere Äußerungen zeugen von Wahn und Zukunftsangst und Depression. Es ist wie: »Feierabend, die Herrschaften«, und »last orders gentlemen, please!«

Die Reflexe auf die Ereignisse, die Wahrnehmungsneigungen, die innere Chronometrie, die unsere Verträge mit der Zeit bestimmt: alles belegt wie bei heliotropen Pflanzen die Neigung zur Dämmerung. Eine Müdigkeit im Kern bestimmt das kulturelle Klima der späten Moderne, deren Menschen in der westlichen Kultur sich offenbar als Spätlinge empfinden. Solche Annahmen sind um so zwingender, als sie der Tatsache entgegenstehen, daß in den entwickelten Wirtschaftssystemen die Lebenszeit und die Lebenserwartung des Individuums zunehmen. Daß nicht allein der Stand der produktiven Technik Glück und Reichtum für alle ermöglichen könnte, sondern daß auch Genforschung und Biotechnik zukünftig ungeahnte Perspektiven prinzipieller Selbstschöpfung gewähren.

Die dennoch fatale Grundeinstellung liegt wohl daran, daß über allen Aussichten sozialer, biologischer und kultureller Emanzipation der Alpdruck herrschender Ungerechtigkeit liegt. Die Unmenschlichkeit ist, soweit wir über historische Belege verfügen, immerwährend. Utopias, Gemeinschaften der Gerechtigkeit und Vergebung, hat es dauerhaft nie gegeben. Die postmoderne Behauptung, Geschichte verfüge über keine kontinuierliche Abfolge und keinen stabilen immanenten Sinn, stößt auf ein krass gegenläufiges Argument: den permanenten geraden Weg vom Faustkeil bis zur Biowaffe, auf die eine einzige ununterbrochene Kontinuität von Folter, von Unterdrückung ohne Ende, von Armut und Ausbeutung auf der ganzen Linie. Für Europa und Rußland wurde das letzte Jahrhundert zu einer Zeit aus der Hölle. Auf mehr als 70 Millionen schätzen Historiker die Zahl der Menschen, die in der Zeit zwischen August 1914 und den »ethnischen Säuberungen« auf dem Balkan durch Krieg, durch Hunger, Verschleppung, politischen Mord, Krankheit und industrielle Menschenvernichtung umgebracht worden sind. Und »Heutzutage«, sagte Jean Ziegler auf dem attac-Kongreß in Berlin, »stirbt alle 7 Sekunden ein Kind an bloßer Ungerechtigkeit«.

Der Zusammenbruch der Menschlichkeit in dieser spätmodernen Zeit birgt spezifische Rätsel. Er geht nicht zurück auf Barbarei oder Archaik, ist nicht verursacht durch Reiterhorden aus der Steppe oder die Wiederkehr stammesbezogener Handlungsmuster – sondern entspringt dem Kontext, der Lokalität, und vor allem den administrativ-sozialen Instrumenten der Hochburgen der Zivilisation, der Bildung, des naturwissenschaftlichen Fortschritts und der humanisierenden Entfaltung, ob christlich oder aufgeklärt.

Das letzte Jahrhundert hat infolge der Größe des Massakers, infolge des wahnwitzigen Kontrasts zwischen verfügbarem Reichtum und tatsächlicher Ungerechtigkeit sowie der Wahrscheinlichkeit, daß auch chemische und bakterielle Waffen tatsächlich dem Menschen und seiner Welt ein Ende bereiten können, der Verzweiflung eine neue Rechtfertigung gegeben. Es hat die eindeutige Möglichkeit einer Umkehrung der Evolution, einer systematischen Kehrtwende in Richtung Bestialisierung zur Debatte gestellt. Gerechtigkeit oder allgemeiner Suizid!

Es scheint so zu werden, als ob die Tatsachen der Welt »das Ende der Sache« (Wittgenstein) würden. Die wohl erreichbare Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen zu einem höheren und dauerhaften Zustand von Vernunft und Gerechtigkeit ist versperrt, solange der technokratische Erfindungsreichtum stets auf Geheiß des Unmenschlichen zu Diensten steht. Die Erfindungen geraten zur Unwahrheit. Ihre Perfektion ist der Tod.

Nichts mag erschütternder den Mangel an Gerechtigkeit – die Absurdität des Reichtums – als Signum der Epoche kennzeichnen als ein verbürgter Satz aus den Todeslagern der Nazis: Ein Häftling, der vor Durst umkam, sah zu, wie sein Peiniger langsam ein Glas frisches Wasser auf dem Fußboden ausgoß. »Warum tun Sie das?« Der Schlächter antwortete: »Hier gibt es kein ‚Warum‘.«

Der Tiefpunkt der Geschichte ist damit erreicht und zu einem Ausdruck der Scheidung von Menschlichkeit und Sprache, von Dialog und Hoffnung geworden: einem Zustand von äußerster Absurdität und Verderben. Zwei miteinander kontrastierende, aber kongruente Tendenzen sind am Werk: Dort, wo Massaker und ökonomisch-soziales Elend herrschen, verdorrt der Tod zu nackter Routine. Dort, wo Überfluß herrscht, werden Not und Tod desinfiziert und verleugnet oder es wird privilegiert gestorben, – weil selbst der Tod noch seiner Kommerzialisierung nicht entgehen soll.

Diese Globalisierung einer allgemeinen Todeskultur, deren ungerechtes Wesen allerdings mit verteilten Rollen spielt, ist inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr so weiter geht wie bisher.

Wo alles »frische Wasser« vergeudend ausgeschüttet und anderen gewaltsam vorenthalten wird, wie alle anderen Reichtümer auch, wo jeder Zugang zum Verbrauch zum militärisch verteidigten Privilegium wird, muß die Frage nach dem »Warum« im Zeichen eines universellen Gerechtigkeitverlangens neu und unüberhörbar deutlich gestellt werden.

Die gute alte christliche Gerechtigkeitsforderung hatte eigentlich nicht schlecht eröffnet am Tag jener wunderbar gelungenen »Speisung der Fünftausend«. Ein theophanes Gerechtigkeitsdatum, das der Philosoph Ernst Bloch radikal materialistisch interpretiert als lediglich die »Gründung der ersten kommunistischen Gewerkschaft des proletarischen Zimmermannssohnes Jesus Christus aus Nazareth«, deren »Wunder« allein sich daraus ergab, daß alle gerecht miteinander teilten, was sie zu essen hatten.

Unsere heutige Gerechtigkeitsforderung darf noch irdischer und muß zugleich noch viel umfassender sein, ganz pragmatisch benutzt wie der Begriff »Justice« in der angelsächsischen Soziologie, das Bild einer »equitable world« dabei vor Augen.

Eine Welt, in der die Menschen endlich wieder rehabilitiert werden. Zurückgesetzt und erneuert zugleich im Zustand der erhofften Menschlichkeit. Dauerhaft versichert gegen Not und Krankheit, geschützt durch eine allgemeine Weltsozialgesetzgebung, die Lebens- und Altersicherung jenseits des Kapitals und unabhängig von formeller Arbeit freizügig garantiert, bestätigt in einer Lebenssphäre außerhalb jeder Diskriminierung und Beleidigung.

Gerechtigkeit oder allgemeiner Suizid! – Zugegeben, der Begriff »Gerechtigkeit« mag theologisch und auch altmodisch unscharf erscheinen. Aber ein einziger Blick nur auf diese Welt im Krieg entdeckt die millionenfache Sehnsucht der Vielen nach nichts anderem als praktizierter Gerechtigkeit.

Man wird allerdings eine Parole daraus machen müssen, Politik, und zu kämpfen haben: denn noch haben die Kriegsherren und die Totengräber der Menschlichkeit zu siegen nicht aufgehört. Ihnen ist streitbar entgegenzusetzen die Mundialisierung unserer konkreten und bewußten Hoffnung.

Hans Branscheidt

Veröffentlicht am 01. November 2001

Jetzt spenden!