Phänomen IS

Gang durch die Extreme

Fundamentalistischer Terror, westlicher Anti-Terror-Krieg und Dritte Option

Die Anschläge von Paris waren ein Angriff auf eine Gesellschaft, deren neoliberale Ideenpolitik in der Verleugnung von jeder Idee besteht.

Von Thomas Seibert

Hier in Europa muss man vielleicht bis zum Jahr 1989 zurückgehen, um sich einer Krisendynamik erinnern zu können, die der des Jahres 2015 vergleichbar wäre. Die ersten Monate, heute fast schon vergessen, waren von der griechischen Krise bestimmt, vom Versuch der Syriza-Regierung, sich dem Schuldendiktat zu widersetzen, von der kurzen Feier des „OXI“ und der letztendlichen Unterzeichnung des Brüsseler Memorandums. Wenig später fielen die europäischen Außengrenzen unter dem Andrang Hunderttausender Geflüchteter aus Syrien, Afghanistan, dem Sudan, aus Bangladesch, aber auch auf den verzweifelten Druck von Menschen, die im verarmten Südosten der Europäischen Union kein Auskommen mehr finden.

Ebenso beeindruckend wie die Entschlossenheit der Zuwanderer aber war (und ist noch heute) die Bewegung des Willkommens, die ihnen von tausenden „Einheimischen“ bereitet wurde, d.h. selbst wieder von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Die im Ausmaß wie im fast unermüdlichen Einsatz bekundete Bereitschaft zur Gastfreundschaft war aber nur eine, nur die erste Antwort auf die sog. „Flüchtlingskrise.“ Die zweite Antwort gab und gibt ein brandschatzender Mob, der auch von tätlichen Angriffen auf die Geflüchteten wie auf ihre Helfer*innen nicht zurückschreckt. Im Verbund mit der Pegida-Bewegung, der bayerischen Staatsregierung und ihrer Medien geht es der zweiten Antwort darum, die vorübergehend geöffneten Grenzen Europas wieder zu verschließen.

Mitten in diese Situation intervenierte dann das Kommando junger Dschihadist*innen französischer und belgischer Herkunft, das am 13. November in Paris an acht verschiedenen Orten brutal 130 Menschen ermordete. Die längst im freien Fall in die Abwahl befindliche Regierung Hollande nutzte das Gemetzel und warf sich nach Verhängung eines dreimonatigen Ausnahmezustands zur Kriegsherr*in eines intensivierten „Krieges gegen den Terror“ auf. Wird dessen Preis mit dem Kollateraltod Hunderter Zivilist*innen bezahlt, droht jetzt, dass den Bomben auf irakische und syrische Städte neue Anschläge in den Städten Europas folgen werden. Die fast unvermeidliche Eskalation wird nicht nur weitere Menschenleben fordern, sondern die ganze Krisendynamik weiter überstürzen. Ein Versuch, zu verstehen, was auf dem Spiel steht, darf deshalb nicht nur die nächsten Wochen und Monate, sondern muss probeweise gleich die nächsten Jahre in den Blick nehmen. Was wird werden, wenn es weitere, auch heftigere Anschläge gibt und die weltweiten Fluchten infolge verwildernder Gewalt, wachsender Verelendung und ökologischer Verwüstungen weiter ansteigen? Was wird werden, wenn sich, was heute schon abzusehen ist, die politischen und die ökonomischen Krisen (nicht nur) Europas gegenseitig verstärken?

Wahrheits- und Ideenpolitik

Emanzipatorische Antworten auf diese Fragen wird es, das lässt sich heute schon sagen, nur dann geben, wenn es gelingt, im barbarischen Doppel von fundamentalistischem Terror und westlichem Anti-Terror-Krieg eine Dritte Front oder, weniger martialisch, eine Dritte Option zu eröffnen. Weil man dazu einen oder gar mehrere Schritte vom Angebot tagespolitischer „Krisenlösungen“ zurücktreten muss, gehe ich im Folgenden einer „ideen-“ oder „wahrheitspolitische“ Überlegung nach, in der ich mich von jüngeren politischen Philosophien leiten lasse.[1] In solcher Überlegung geht es, knapp gesagt, um die leitenden Kategorien nicht nur des politischen Denkens, sondern auch des politischen Handelns. Ideen- oder Wahrheitspolitiken haben es dabei immer auch mit dem zu tun, was im tagespolitischen Streit als „Wert“ bezeichnet wird, in der Sache selbst aber nur dann gerechtfertigt ist, wenn es tatsächlich als universell wahr, d.h. als überall und jederzeit gültig erfahren werden kann. Im gegebenen Fall führt das auf den Status der Demokratie und der Menschenrechte, die dem eigenen Anspruch nach universell wahr sein sollen, heute aber auf allen Seiten der Front als (bloß) „westliche Werte“ bezeichnet und damit höchst materiellen Kalkülen dienstbar gemacht werden.

Weil es dabei offensichtlich nicht bloß um eine Sache des Kopfes, sondern um den zutiefst materiellen, immer auch handgreiflichen Prozess der (im weitesten Sinn des Wortes zu verstehenden) Bildung von Subjekten geht, gehe ich jetzt noch einmal auf das Gemetzel im Pariser Bataclan zurück. Man hat dabei recht schnell von einer „Jugendrevolte“ gesprochen, in der Jugend auf Jugend geschossen hat. Man ist damit endlich von der rassistischen Denunziation abgerückt, nach der fundamentalistische Gewalttäter*innen Analphabet*innen aus fernen Ländern seien, die sich und andere in die Luft sprengen, um sich im Paradies mit 72 Jungfrauen vergnügen zu können. Man hat endlich anerkannt, dass der IS (wie zuvor schon al-Qaida) in steigendem Maß Subjekte anzieht und aktiviert, die inmitten europäischer Demokratien aufgewachsen sind, doch von diesen Demokratien systematisch missachtet und ausgeschlossen werden: Leute, die nur um die Ecke, wenn auch in den Stadtvierteln wohnen, die viele nur vom Vorbeifahren kennen (wobei wir mittlerweile wissen, dass die Partys in Molenbeek von Jugendlichen aus ganz Brüssel besucht wurden).

Ideen kann man nicht bombardieren

Man hat diesen Ausschluss mit dem fortdauernden Kolonialismus und Rassismus, damit aber mit dem Kapitalismus und zuletzt mit dessen neoliberaler Radikalisierung in Verbindung gebracht. Man fordert deshalb eine Lösung der sozialen Fragen, die diesem Ausschluss zugrunde liegen. All’ das ist richtig. Trotzdem gilt es gerade hier, einen, den entscheidenden Schritt weiter zu gehen. Einen ersten Hinweis dazu gibt der amerikanische Autor Peter van Buren, der nach der US-Intervention im Irak sog. „Provincial Reconstruction Teams“ geleitet hat. Van Buren schreibt: „Verstehen wir den Krieg endlich als das, was er ist – als einen Krieg, der gegen Ideen geführt wird, religiöse, anti-westliche, antiimperialistische Ideen. Verstehen wir, dass man Ideen nicht bombardieren kann. Westliche Truppen auf dem Boden des Mittleren Ostens und westliche Flugzeuge im Himmel darüber fachen das Feuer nur an. Vergeltung kann und wird niemals eine Idee auslöschen.“[2]

Ähnlich äußert sich der in Paris lehrende und forschende us-amerikanische Ethnologe Scott Atran in einem äußerst lesenswerten Spiegel-Interview. Ohne zu bestreiten, dass der IS eine bestialisch operierende Organisation ist, heißt es dort in nur scheinbar provokativer Wendung: „Der IS ist eine freudvolle Bewegung. Er setzt unserer Lethargie eine Verheißung entgegen. (…) Wir sollten uns eingestehen, dass unsere Kultur in einer Krise ist. Unsere Vorstellung, dass die Menschen schon gesättigt sind, wenn sie in einer Shoppingmall einkaufen und im Café sitzen können oder eine sichere 40-Stunden-Woche haben, ist zum Irrglauben geworden. (…) Wir befinden uns in einem Krieg der Ideen.“[3]

Bestätigt werden beide Positionen durch eine Studie, die der in London lehrende Politikwissenschaftler Adam Hanieh in dem Onlinemagazin Jacobin veröffentlicht hat. Hanieh zeigt, dass die dschihadistische Gewalt einer radikalen Ethik existenzieller Authentizität und einem utopischen Gesellschaftsentwurf folgt, den der IS in einem realpolitischen Staatsgründungsprojekt tatsächlich umzusetzen versucht. Alle drei Elemente – die Ethik existenzieller Authentizität, die Gesellschaftsutopie und die Staatsgründung – setzt Hanieh zum Scheitern des Arabischen Frühlings ins Verhältnis, in dem er einen Versuch der Befreiung aus kolonialer und postkolonialer Unterwerfung sieht; er zeigt damit an, wo und wie nach einer Lösung zu suchen sein wird.[4]

Um zu verstehen, wovon van Buren, Atran und Hanieh sprechen, müssen wir noch einen Schritt zurückgehen. Wir müssen fragen, wie eigentlich ein Ausschluss funktioniert, der dem Widerstand der Ausgeschlossenen scheinbar keine andere Wahl als die einer barbarischen politischen Theologie lässt, die Wahl also eines Angriffs auf das Ganze des Diesseits von der Idee eines religiösen Jenseits her. Wir müssen also fragen, wie eine Gesellschaft, eine Welt verfasst ist, in der eine Jugendrevolte auf eine religiöse Idee zurückgreift, die den Revoltierenden selbst vor kurzem noch so fremd war wie denen, die sie im Namen dieser Idee niedermetzeln.

Natürlich hat das mit ihrer materiellen sozialen Situation zu tun, mit dem Vorenthalt oder gar Raub jeden Zugangs zu den materiellen und ideellen Privilegien der weißen „Mitte der Gesellschaft“ – den Zugang zu ihren Shoppingmalls, Cafés und Konzerthallen eingeschlossen. Doch legten dieser Vorenthalt und diese Beraubung bloß für sich genommen den Griff zur roten Fahne näher: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“ Warum aber, das ist die entscheidende Frage, machen sich in Paris, Brüssel oder Berlin aufgewachsene Jugendliche und junge Erwachsene stattdessen zu Verdammten des Himmels? Warum gilt das nicht nur für einige wenige „Extremist*innen“, sondern mittlerweile für Zehntausende, d.h. für eine soziale Bewegung? Eine Bewegung, die übrigens unterschätzt würde, reduzierte man sie auf eine Revolte nur der jungen Generationen.

Lebe ohne Idee!

Eine Antwort findet sich im ideenpolitischen Kern des Neoliberalismus. Entgegen einer verbreiteten Annahme liegt er weder in seiner wirtschaftswissenschaftlichen Doktrin noch in seinem wettbewerbsindividualistischen Freiheitsversprechen. Der Kern des Neoliberalismus liegt vielmehr in einer umfassenden, selbst wieder kategorialen Deutung unserer Gegenwart, mithin unserer Welt. Dieser Weltdeutung zufolge ist die westliche kapitalistische Demokratie im Ende des letzten Jahrhunderts zur alternativlosen und derart einzig möglichen Weltordnung geworden: man kann sich heute, wie Mark Fisher schreibt, eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen.[5]

Weil das so ist, hat heute nur noch das „Wert“ und kann deshalb auch nur noch das gewählt werden, was in den Grenzen dieser Demokratie Wert hat und zur Wahl steht. Ideen, das liegt auf der Hand, gehören dazu nicht, und genau das macht Ideen für diejenigen attraktiv, die selbst auch nicht dazugehören. Der Angriff auf das Bataclan war insofern nicht nur ein Angriff auf das säkulare Vergnügen im Diesseits dieser Welt, er galt nicht einfach nur einer Vergnügungsstätte. Er war ein Angriff auf eine Gesellschaft, die ihren Vergnügungen auch deshalb so viel Raum lässt, weil sie kategorisch ausschließt, jemals zu einer ganz anderen Gesellschaft werden zu können. Dies aber gelingt ihr, indem sie ein solches Anderswerden zu einer „bloßen“ Idee und obendrein zu einer historisch überwundenen Idee erklärt.

Die „westlichen Werte“ als Schwundstufe einer Idee

Anders gesagt: Die Anschläge von Paris waren ein Angriff auf eine Gesellschaft, deren neoliberale Ideenpolitik in der kategorischen Verleugnung von Ideen besteht – abgesehen natürlich von der Schwundstufe der „westlichen Werte“. Deren Angelpunkt wird nicht zufällig immer wieder in Beschwörungen einer allumfassenden „Toleranz“ ausgemacht, deren existenzielle Bedeutung Atran zu Recht in den Begriff wie in die subjektive Befindlichkeit der „Lethargie“ übersetzt. Näher an der Theologie formuliert: Die seit langem entschlossenste Jugend-, Kultur- und Sozialrevolte hat einer Welt den Heiligen Krieg erklärt, die ihr Diesseits und dessen Vergnügungen zu einem Diesseits erklärt hat, das kein Jenseits, also keine Idee und deshalb auch kein Anderswerden mehr kennt.

Der ideenpolitische Punkt, um den es hier geht, kann dann aber weder in einer Anerkennung fundamentalistischer politischer Theologie noch in der Zustimmung zur lethargischen säkularen Ideenlosigkeit liegen.[6] Er zielt stattdessen auch hier auf eine Dritte Option. Sie tritt überall dort hervor, wo der neoliberale Imperativ „Es gibt keine Alternative - Lebe ohne Idee!“ ebenso zurückgewiesen wird wie die politisch-theologische Idee eines absoluten Herrn und seines apokalyptischen Gesetzes.

Der Gang durch die Extreme

An dieser Stelle bin ich allerdings zu einer Präzision meines Begriffs einer Ideen- oder Wahrheitspolitik und eines Kampfes um die Kategorien der Politik genötigt. Denn die Bildung einer Dritten Option jenseits der neoliberalen Ideenlosigkeit und der reaktionären Idee des absoluten Herrn kann ja nicht darin liegen, sich einfach eine eigene, irgendwie „passendere“ Idee zurechtzumachen. Sie muss vielmehr einer Dialektik der beiden Extreme entspringen, einem Gang durch ihre Extreme hindurch. Diese Dialektik würde dann einerseits darlegen, dass die neoliberale Ideenlosigkeit selbst einer Idee entspringt, einer Idee allerdings, die im Neoliberalismus korrumpiert, weil zum Machwerk der Herrschaftssicherung herabgesunken ist. Sie würde andererseits verständlich machen, dass der Fundamentalismus des absoluten Herrn genau besehen gar keine Idee, sondern nur das Trugbild einer Idee ist.

Damit wären zwei erste und wesentliche Bestimmungen des Begriffs der Idee gewonnen: eine Idee ist etwas, das einerseits zum Machwerk herabsinken und andererseits durch ein Trugbild verstellt werden kann. Im Machwerk verkommt die Idee gleichsam in ihrem eigenen Namen: im Fall des Neoliberalismus also gerade unter Berufung auf die Idee der Freiheit, die zwar zu Recht und wahrhaftig die Leitidee jeder Demokratie ist, unter neoliberaler Bedingung aber nur noch insoweit zur Geltung kommt, als sie zugleich verwertbar sein muss. Im Trugbild wird die Idee wortwörtlich fetischisiert, d.h. auf einen Fetisch (lat. facticius, nachgemacht, künstlich) übertragen. Der islamische Fundamentalismus bedient sich dazu des Rufs des Propheten an jeden und jede seiner Gläubigen, ein reines und also heiliges Leben zu führen, ein Leben gegen die eigene wie die Sünden der anderen (im christlichen Fundamentalismus geht es entsprechend um den Ruf des Christus, im buddhistischen um den des Buddha). Die Fetischisierung besteht darin, dem Ruf eine gleichsam magische Macht zur Verwandlung zugleich des Subjekts wie der Welt  zu verliehen – eine Macht, die sich im Enthusiasmus des vom Ruf angesprochenen Gläubigen beweisen soll. Es ist dieses Moment, das Atran wiederum zu Recht als das „freudvolle“ Moment auch und gerade des IS bezeichnet.

Das neoliberale Machwerk und das fundamentalistische Trugbild funktionieren also beide auf eine perfide Weise. Der Neoliberalismus bedient sich der Idee der Freiheit, von der niemand von uns absehen will, weil sie zu der Idee geworden ist, in der alle anderen Ideen – auch die der Gleichheit und der Brüderlichkeit – ihren Grund und ihr Ziel haben. Der Fundamentalismus bedient sich des Umstands, dass sich eine Idee (immer auch) im Enthusiasmus beweist, d.h. in der Stimmung freudiger Erregung und leidenschaftlichen Ernstes, der die Bereitschaft zum entschlossenen Handeln entspringt. Wie von der Freiheit möchte auch vom Enthusiasmus kaum jemand absehen.

Die Idee der Demokratie

Was aber ist dann die Idee selbst – die Idee, die weder Machwerk noch Trugbild wäre? Die Ideenpolitik gerät hier in einen Zirkel, der kein (zu vermeidender) logischer, sondern ein (unvermeidlicher) politischer Zirkel ist. Denn wenn eine Idee sich dadurch von einer Ideologie (Machwerk oder Trugbild) oder von einer bloßen Meinung unterscheidet, dass sie eine universelle, d.h. jederzeit und überall gültige Wahrheit artikuliert, dann kann sie zumindest heute nicht mehr in einem jenseitigen „Ideenhimmel“ gesucht werden. Genauso wenig kann sie als Äußerung eines den konkreten Subjekten jenseitigen „Weltgeistes“ verstanden werden. Vielmehr kann von einer solchen Idee nur gesprochen werden, sofern sie von konkreten Subjekten erschaffen wurde und von ihnen immer neu bezeugt wird.

Darin liegt: der historische Ort einer Idee ist die Subjektivität, die sie in ihrem Alltag wie in ihren Kämpfen ebenso bezeugt wie in den Institutionen, die diesem Alltag und diesen Kämpfen entspringen. Zugleich aber gilt – das eben ist der Zirkel! – dass die Macht einer Idee darin liegt, die Subjektivitäten allererst hervorzubringen und heranzubilden, die für sie Zeugnis ablegen werden. Dies geschieht, indem eine Idee uns den Möglichkeitshorizont aufspannt, in dem wir von bloßen Privatpersonen zu politischen Subjekten im leidenschaftlichen Sinn des Wortes werden können.

In der Politik gibt es eigentlich nur eine solche Idee: die universelle Wahrheit des Politischen selbst, die von der Französischen Revolution in der seither unvergesslichen Losung Liberté, Égalité, Fraternité artikuliert wurde. Sie war und ist allerdings, daran hängt im Folgenden alles, kein „westlicher Wert.“ Prominent belegen lässt sich das im Verweis schon auf das Jahr 1791, also das zweite Jahr der Französischen Revolution. Damals kehren die aufständischen schwarzen Sklav*innen Haitis die Losung des republikanischen Frankreich gegen das republikanische Frankreich und erheben sie zur Losung der anti- und postkolonialen Demokratisierungsbewegungen.
 

Ein historisch sehr viel weiter zurückliegendes, doch gleichermaßen prominentes Beispiel verdanken wir dem Spartakusaufstand, in dem die Römische Republik von einer aus Subjekten der ganzen Welt gebildeten Multitude an die damals schon zum Machwerk korrumpierte Idee des Politischen erinnert wurde. Alles andere als ein „westlicher Wert“ war diese Idee schließlich – um ein Beispiel aus jüngster Zeit zu wählen – auf dem Tahrirplatz in Kairo. Dort hat die aufständische Menge im Ruf nach dem „Sturz des Regimes“ für sich und für uns alle die universelle Wahrheit des Politischen erneuert, die in den realen Demokratie zum Machwerk herabgesunken ist. Dass die Idee der Demokratie schon auf dem Tahrir in der Gefahr stand, vom Trugbild einer Gemeinschaft der Gläubigen verstellt zu werden, belegt, dass die Grenzen und Übergänge zwischen Idee und Ideologie selbst dann immer neu ausgekämpft werden müssen, wenn die im Kampf bezeugte Wahrheit als solche universell, d.h. jederzeit und überall gültig ist.

Bemerkenswerter, weil eben nicht zufälliger Weise führt uns das an den Beginn dieses Textes zurück, an dem von der griechischen Krise die Rede war. In deren Kontext gehören ja nicht nur die nach Hunderttausenden zählenden Platzbesetzungen von Athen, sondern die ebenso großen Platzbesetzungen von Madrid und Barcelona. Sie sind hier von Bedeutung, weil sie eine ganz eigene Ideenpolitik ins Spiel gebracht und dafür die Losung von der democracia real ya geprägt haben. Im Deutschen wäre sie mit der Wendung „echte“, „wirkliche“ oder „wahre Demokratie jetzt!“ zu übersetzen: eine seltsam zeitverlorene, in gutem Sinn unzeitgemäße und – nicht zuletzt! – bereits von Marx verwendete Wendung.[7]

In einem prominenten Beispiel spontan angewandter politischer Philosophie verstanden (und verstehen) die spanischen Platzbesetzungen darunter eine Demokratie, die die real existierende Demokratie an ihrer eigenen Idee misst und ihr im Namen dieser Idee den Prozess macht. Die Differenz von Realität und Idee war und ist ihnen dabei nicht nur eine Sache (bloß) des Kopfes, sondern eines materiellen Prozesses oder, genauer noch, des materiellen Ereignisses der Bildung eines politischen Subjekts (wieder im weitesten Sinn des Begriffes der Bildung). In diesem Ereignis trennt eine „wirkliche Bewegung“ (Marx) der Demokratisierung im Diesseits der einen Welt zwei Welten voneinander: die ab jetzt vergehende und die ab jetzt heraufziehende, anderswerdende Welt.

Politisch unumgänglich ist diese „idealistische“ Wende insofern, weil unsere (an sich ja gar nicht bewiesene) Annahme, dass die Lösung der wortwörtlich brennenden Fragen unserer Epoche in ihren sozialen Fragen liegen wird, erst in ihrem Licht verständlich wird. Um noch einmal auf Scott Atran zurückzukommen: „Wenn Menschen sich heiligen Grundsätzen unterworfen haben, lassen sie sich selten mit ökonomischen Angeboten herauskaufen.“ Wollen wir die Macht des fundamentalistischen Trugbilds dennoch durch eine Politik überwinden, die ausnahmslos allen und einer jeden das Recht auf freien und gleichen Zugang zu Bildung, Gesundheit und allgemeiner Wohlfahrt und, ebenso unverzichtbar, das Recht auf Freizügigkeit und gesicherte Ankunft am frei gewählten Ort des eigenen Lebens garantiert, dann liegt es an uns, klarzustellen, dass es dabei nicht (bloß) um ein „ökonomisches Angebot“ geht.

Vielmehr muss intellektuell wie sinnlich deutlich werden, dass es dabei um die Freiheit zur aktiven Teilhabe an der Idee der Demokratie geht: Sie heißt eben deshalb „Idee“, weil sie in der praktischen Garantie der sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rechte die Möglichkeit birgt, individuell wie kollektiv zum lebendigen Subjekt einer Wahrheit zu werden. Dabei lehrt uns die demokratische Idee der Gleichheit aller umwillen der Freiheit ausnahmslos einer jeden, dass diese Rechte erst dann wirklich garantiert sein werden, wenn zuletzt auch der „Anspruch“ auf eine „soziale und internationale Ordnung“ garantiert ist, in der sie „voll verwirklicht werden können.“[8]

Das Gespenst der Demokratie

Dass diese Lehre nicht nur über das Trugbild des Dschihad, sondern auch über die zum Machwerk herabgesunkenen Realdemokratien des globalen Kapitalismus hinausführt, harrt allerdings der Bestätigung in actu, d.h. in Ausübung der Tat. Mehr als eine „bloße“ Idee ist sie folglich erst dann, wenn sie ihren Ort nicht nur im Zeugnis ihrer Subjekte, sondern auch in den Institutionen einer tatsächlich demokratischen Gesellschaft hat. Genauer: wenn die Idee der Demokratie ihren Ort in den Kämpfen um das findet, was aus diesen Institutionen werden kann. Wird ein solcher Kampf gewonnen, schenkt die Idee der Demokratie ihren Subjekten die Erfahrung, dass „leben“ und „für eine Idee leben“ ein und dasselbe sind: Abenteuer, Glück und Enthusiasmus des Ereignisses. Solche Erfahrungen haben sich in den letzten Monaten, vergessen wir das nicht, ungezählte Male machen lassen: auf den Plätzen Athens in der Feier des „OXI“, und heute überall dort, wo dem Grenzübertritt einer Geflüchteten unentgeltlich der Willkommensgruß dargeboten wird. Weitergetragen von Begegnung zu Begegnung und derart zur sozialen Bewegung politisiert, übersetzt dieser Gruß das alte, zu alt gewordene Losungswort der Brüderlichkeit in das bedingungslos garantierte Recht auf Gastfreundschaft.

Wo die Willkommensbewegung die Demokratie von ihrer national(staatlich)en Begrenzung auf den Verbund der „Einheimischen“ befreit und sich eigens den Fremden und Anderen öffnet, realisiert sie das dynamische Moment einer Ideen- und Wahrheitspolitik: sich immer neu der Erprobung auszusetzen und dabei auf sich selbst den ersten Stein zu werfen, d.h. sich selbst, wo nötig, zu revidieren. Die Idee der Demokratie bewährt sich darin als eine zugleich individuelle und kollektive Lebens-Form im radikalen Sinn des Wortes: als ein „Wie“ des hier und jetzt Leben- und Anderswerdenkönnens, und nicht als ein „Was“, das über unseren Leben, über unseren Köpfen und Körpern schweben würde. Mit dieser Wendung habe ich die dritte und entscheidende Bestimmung der Idee der Demokratie benannt, die Bestimmung, mit der sie sich von jedem Machwerk und von jedem Trugbild trennt und ihren eigenen, stets prekären Unterschied als einen Unterschied ums Ganze setzt.

Gegenüber der Brutalität des fundamentalistischen Terrors, der Machtfülle des Anti-Terror-Kriegs und gegenüber der schlechten Normalität, die ihren Ausnahmezustand erst hervorgebracht hat, nimmt sich die Idee der Demokratie fast wie ein kaum wahrnehmbarer Spuk aus, den die Kriegsherr*innen mit einem Händeklatschen vertreiben können. Und doch gibt sie uns die Möglichkeit, uns gleich auf doppelte Weise vom Druck der Macht und der Gewalt zu distanzieren und damit aus der Defensive zu kommen. Indem sie zwischen Machwerk, Trugbild und Wahrheit ihren Unterschied ums Ganze setzt, öffnet sie uns den Möglichkeitshorizont, den eine Wahrheit denen aufspannt, die bereit sind, für sie einzustehen. Und: Indem sie uns auf die lange Frist eines ideenpolitischen Kampfes verweist, befreit sie uns von der Politik der Angst, auf die beide Kriegsparteien mit der strategisch gewollten Eskalation des Geschehens setzen. Wer ermessen will, was mit einem solchen Spuk gewonnen sein kann, erinnere sich an den Aufbruch der letzten epochemachenden Demokratisierungsbewegung, die sich zu ihrer Zeit enthusiastisch auf ein „Gespenst“ eingelassen hat, von dem sie annahm, dass es in Europa umgehe. Die Idee der Demokratie ist heute ein solches Gespenst.


[1] Die Begriffe „Ideen-“, „Wahrheits-“ oder „Metapolitik“ verwenden u.a. die Philosophen Alain Badiou (vgl. Über Metapolitik, Zürich/Berlin 2003) und Axel Honneth (vgl. Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015).

[2] Peter van Buren, Paris: You don’t want to read this, http://www.commondreams.org/views/2015/11/15/paris-you-dont-want-read?utm_campaign=shareaholic&utm_medium=facebook&utm_source=socialnetwork. Meine Übersetzung.

[3]Der IS ist für viele schlicht ein Abenteuer. Interview mit Scott Atran, http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-der-is-ist-fuer-viele-schlicht-ein-abenteuer-a-1065754.html

[4] Adam Hanieh, A Brief History of ISIS, https://www.jacobinmag.com/2015/12/isis-syria-iraq-war-al-qaeda-arab-spring/

[5] Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, Hamburg 2009

[6] Gelegenheit, daran zu erinnern, dass es auch andere politische Theologien gibt. Vgl. dazu die Beiträge des katholischen Theologen Boris Gunjević in dem gemeinsam mit Slavoj Žižek verfassten Buch God in Pain. Inversionen der Apokalypse, Hamburg 2015

[7] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: Marx-Engels-Werke Bd. 1: 232. Vgl. dazu auch die Marx- und Demokratie-Deutung bei Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellistische Moment, Berlin 2012.

[58] Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Documents/UDHR_Translations/ger.pdf

Veröffentlicht am 16. Dezember 2015

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