Flugsimulator

Notizen zum Trauma. Von Alexander Garcia Düttmann.

Pre-Boarding

»Es gibt eine Entschädigung in Höhe von 1,2 Millionen Pfund an 14 Polizeioffiziere, die nach der Hillsborough Fußballkatastrophe ein mentales Trauma erlitten«, heißt es am Anfang eines kurzen, im Londoner Evening Standard abgedruckten Artikels, der den Titel trägt »Trauma? Eine neue Vokabel dieser Zeit«. Die Autorin wirft die Frage auf, ob unter den Bedingungen, die der Präzedenzfall schafft, nicht auch die Mitglieder der Rettungsmannschaften, die sich nach der Explosion der PAN AM-Maschine über Lockerbie am Unglücksort einfanden, Anspruch auf Schadensersatz erheben könnten, und stellt dann allgemeine Überlegungen an: »Eines der Phänomene der säkularen modernen Gesellschaft lautet, daß wir uns alle restlos als psychologische Wesen begreifen. Jeder Rückschlag ist ein »Trauma«, jeder Schmerz macht uns zum »Opfer«.

Crash

Am 18. Juli 1996 berichtet CNN rund um die Uhr von Flight 800. Auf den Flughäfen Charles de Gaulle und JFK sorgt TWA dafür, daß eigens zusammengestellte »trauma teams« in kurzfristig eingerichteten »trauma centers« Angehörige und Freunde der Menschen betreuen, die bei dem Flugzeugunglück das Leben verloren haben.

Boarding

Auf der einen Seite soll sich das Trauma verallgemeinern und in die Endlichkeit überhaupt verlegen lassen, auf der anderen Seite soll es der Verallgemeinerung widerstehen, dem Wissen, das die Erfahrung bewältigt: allgemeines Trauma als je besonderes. Noch gegen den Gedanken einer paradoxen Allgemeinheit könnte man allerdings den Einwand erheben, der in reaktionär-populistischer Weise von der Autorin des zitierten Zeitungsartikels erhoben wird: daß die Rede vom Trauma und die Deutung eines Erlebnisses oder eines Zustands als traumatisch von der gesellschaftlichen Säkularisierung und der Psychologisierung des Menschen abhängen, von der ersetzenden, verdeckenden, verdrängenden, verfälschenden, trügerisch kompensierenden Verselbständigung einer Sprache: »Wir verfügen heute über die Sprache, um diese Dinge in einer Weise zu beschreiben, die früheren Generationen nicht zur Verfügung stand. Damals lebten sie wesentlich im Zeichen sehr viel älterer Worte: ›Zu geben, ohne die Kosten zu zählen. Zu kämpfen, ohne die Wunden zu beachten‹«. Der ursprünglichen, älteren Sprache wird in diesem Abschnitt eine doppelte Funktion zugesprochen, zwischen dem schicksalhaften & schuldhaften Leben, das keinen Ausgleich kennt und dem die Lebenden deshalb blind ausgesetzt sind, und der Heldenhaftigkeit, mit der sich die Menschen gegen den blutigen Gang der Dinge auflehnen. Einmal dient die Sprache dem Leben, da sie es den Lebenden angeblich erleichtert, das Unabänderliche hinzunehmen wie es ist; dann aber dient sie den Lebenden und soll es ihnen ermöglichen, sich aus der Verstrickung in die stets erneuerte Schuld des Lebens auszunehmen, ohne daß der resultierende Ausnahmezustand schon einer Verneinung oder Verleugnung des Unabänderlichen entspräche. Es ist diese doppelte Funktion der Sprache, in der sich Individualismus und Schicksalsergebenheit, die beiden widersprüchlichen Elemente einer konservativen Ideologie widerspiegeln. Während die Sprache als ein bloßes Mittel im Dienst eines Zwecks – im Dienst des Lebens – vorgestellt wird, legt man dem Leser zugleich nahe, daß der Zweck das eigentliche Mittel ist, daß also das Verhältnis zur Sprache und zum Wortschatz allein darüber entscheidet, wie man sich zum Leben und zur Erfahrung verhält. Die Sprache reicht weiter als die Erfahrung, die sie in der Gestalt weiser Sprüche ausdrückt, da die bloße Gegebenheit eines Wortschatzes bereits ausreicht und uns dazu anhalten soll, Erfahrenes auf eine besondere Art und Weise zu deuten; frühere Generationen hatten kein traumatisches Erlebnis, weil ihnen das Wort Trauma in seiner »psychologischen« Bedeutung unbekannt war und sie nicht über das Trauma reden konnten. Wie »Chockerlebnis«, »traumatophiler Typ« und »Moderne« geschichtlich, gesellschaftlich, politisch und ökonomisch zusammenhängen mögen, hat bekanntlich Benjamin in seinen Studien über Baudelaire untersucht. Dreifaches Sprachtrauma: Trauma der verlorenen Sprache, die einen Ausgleich sucht, wo das Leben jeden ausgleichenden Lohn verweigert, Trauma des Sprachverlustes im Zuge der sprachlichen Säkularisierung und Psychologisierung, Trauma, das den Wortschatz der neuen Sprache beherrscht. Nur das letztgenannte Trauma soll jedoch den Namen des Traumas erhalten dürfen: daß es sich bei den vorhergehenden Spracherfahrungen um ein Sprachtrauma handelt, wird bestritten.

Short Delay

In einer zu Lebzeiten unveröffentlichten Reihe von Fragmenten zum Fliegen, entstanden 1954 nach einem »Tagflug über den amerikanischen Kontinent von Los Angeles nach New York«, schreibt Adorno: »Dem Emigranten ist ohnehin die Zeitordnung zur Unordnung geworden. Die Jahre der faschistischen Diktatur sind aus der Kontinuität seines Lebens herausgesprengt; was in ihnen sich zutrug, fügt dem anderen kaum sich ein. Kehrt er zurück, so ist er gealtert zugleich und so jung geblieben, wie er im Augenblick der Verbannung war, ein wenig wie Tote für immer das Alter behalten, in dem man zuletzt sie kannte. Er wähnt dort fortsetzen zu dürfen, wo er aufhörte; die heute so alt sind wie er 1933, scheinen ihm Gleichaltrige, und doch hat er sein reales Alter, das mit dem anderen sich verschränkt, es durchbricht, ihm Hintersinn verleiht, es Lügen straft. Es ist, als hätte das Schicksal jene, denen es widerfuhr und die es überleben durften, in eine zugleich mehrdimensionale und durchlöcherte Zeit versetzt.«

Final Approach

Gibt es ein Gedächtnis der Gedächtnislosigkeit, eine Erinnerung des Vergessens, die nicht mit einer Verlängerung oder Verneinung des Traumas einhergehen? Ein solches Gedächtnis, eine solche Erinnerung müßten sich von der Durch-, Ver- und Aufarbeitung (der Vergangenheit), von der Arbeit der Trauer wesentlich unterscheiden. Arbeit wartet stets auf ihren Lohn und entrinnt deshalb nicht dem Trauma. Man kann das traumatische Vergessen durch Arbeit nicht erinnern, ohne es als Vergessen zu verneinen, man kann die traumatische Gedächtnislosigkeit, die Amnesie, die dem Trauma innewohnt und die das Trauma zeitigt, nicht durch Arbeit ins Gedächtnis zurückrufen, ohne sie als Gedächtnislosigkeit preiszugeben.

Den hier stark gekürzten Artikel von Alexander Garcia Düttmann stellen wir gerne in vollem Umfang auf Anfrage kostenlos zur Verfügung.

Veröffentlicht am 01. September 1999

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