Migration

Europa weit draußen

Über die Atlantikroute und neue Formen der Kriminalisierung der Migration in Westafrika. Interview mit dem Aktivisten Mamadou Mignane Diouf.

Seit Ende 2019 brechen wieder mehr Menschen an den Küsten Senegals und Mauretaniens auf Richtung Europa. Ihre Wege führen nicht über das Mittelmeer Richtung Festland, sondern hinaus aufs weite Meer Richtung kanarische Inseln. Woran liegt es, dass die Atlantikroute wieder an Bedeutung gewonnen hat?

Zu den vermehrten Aufbrüchen Richtung Kanaren hat vor allem die Schließung anderer Routen beigetragen. Die Überfahrt über das Mittelmeer wird immer gefährlicher und auch der Landweg über Agadez ist kaum noch passierbar. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben das Reisen noch einmal schwieriger gemacht. Hinzu kommt die zunehmende Verarmung der Menschen infolge der Covid-Pandemie. Viele haben ihre Einkommensmöglichkeiten verloren. Sie gehen weg, um Arbeit zu finden, um zu überleben. Es sind Gerüchte im Umlauf, dass es in Europa derzeit aufgrund der Pandemie einen großen Bedarf an Arbeitskräften gebe.

Im Senegal wie auch in vielen anderen Ländern kommt es immer häufiger zu einer Kriminalisierung von Migrant:innen. Ihr begleitet den Fall eines Vaters, der seinen 14-jährigen Sohn bei der Überfahrt auf die Kanarischen Inseln verloren hat.

Auf Druck von Spanien wurde im Senegal ein Gesetz verabschiedet, dass Reisen per se kriminalisiert. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurde der Vater eines 14-jährigen Jungen festgenommen und angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, seinen Sohn nicht von der Flucht auf die Kanarischen Inseln, bei der er gestorben ist, abgehalten zu haben. Dieser Prozess gilt als Präzedenzfall für die verschärfte Kriminalisierung von Migration in Westafrika. Wir haben uns dieses Falls angenommen und ihn juristisch begleitet. Dank der Unterstützung durch unser länderübergreifendes westafrikanisches Netzwerk ROA-PRODMAC und von medico war die Verteidigung des Vaters erfolgreich. Versicherheitlichung und Kriminalisierung werden die sozialen Fragen nicht lösen, die Menschen zur Flucht zwingen. Und ohne Reise- und Bewegungsfreiheit kann es keine Entwicklung geben.

In Deutschland sind Senegales:innen zunehmend von Abschiebung bedroht. Ist das im Senegal spürbar?

Ja, der Bedarf an Unterstützung nach der Rückkehr steigt. Wir verurteilen Massenabschiebungen, egal ob aus Deutschland oder anderen europäischen Ländern – auch Spanien schiebt momentan massiv ab – genauso wie Abschiebungen aus arabischen Ländern und innerhalb Afrikas. Wenn die Pandemiebedingungen es zulassen, werden sicher noch einmal mehr Leute abgeschoben, zum Beispiel von den Kanaren, wo viele derzeit festsitzen. Wir versuchen hier Willkommensstrukturen aufzubauen, da die Menschen nach ihrer Ankunft oftmals noch unter Schock stehen. Wir müssen gemeinsam – ihr von Europa aus und wir hier – die Rechte der Geflüchteten verteidigen.

Wie ist die Situation derzeit für euch als Teil der kritischen Zivilgesellschaft im Senegal und der gesamten Region?

Das senegalesische Sozialforum ist ein wichtiger Treff- und Kristallisationspunkt der kritischen senegalesischen Zivilgesellschaft. Wir setzen uns für die Sensibilisierung und Politisierung der senegalesischen Bevölkerung in Bezug auf Migrationspolitik ein. Wir informieren über die Situation von Migrant:innen auf den westafrikanischen Migrationsrouten und auch über die Zustände auf den Kanarischen Inseln. Die Corona-Pandemie hat uns genauso wie andere NGOs und kritische Bewegungsakteur: innen im Senegal hart getroffen. Viele haben Mietrückstände und überhaupt Schwierigkeiten, laufende Kosten zu zahlen. Daher sind wir sehr froh über die Unterstützung von medico. Was uns auch sehr wichtig ist, ist die transnationale Vernetzung im westafrikanischen Netzwerk ROA-PRODMAC, das medico ebenfalls unterstützt. Wir haben uns in diesem Netzwerk zusammengeschlossen, um die Freizügigkeit und die Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen in Westafrika gemeinsam zu verteidigen.

Interview: Sabine Eckart und Ramona Lenz

Diejenigen, die die Überfahrt auf die kanarischen Inseln überleben, landen dort in Lagern, die stark an Moria auf Lesbos oder Vathy auf Samos erinnern. Auf Lesbos arbeitet medico mit der Organisation Stand by me Lesvos zusammen, die die Selbstorganisation von Geflüchteten im Lager Moria bzw. Moria 2 unterstützt. In West- und Nordafrika unterstützt medico schon lange Organisationen, die sich für Freizügigkeit und die Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen einsetzen. In Ländern wie Mali, Mauretanien, Niger oder Senegal heißt das häufig auch, Menschen nach einer erzwungenen Rückkehr oder im blockierten Transit beizustehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 12. April 2021

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