Hilfe im Handgemenge aus Sicht von Sven Giegold (attac). Eine Rede, gehalten auf dem Empfang der Stadt Frankfurt zum 40. Jubiläum von medico international
medico international feiert sein 40-jähriges Bestehen. Ihr begeht dieses Jubiläum mit dem Slogan von der „Hilfe im Handgemenge“. Das finde ich sehr passend, wenn man einige von euch kennt. Ich könnte spekulieren, was der Begriff biografisch für den einen oder anderen bedeutet oder bedeutet hat, will dies aber besser hier nicht tun. Ich möchte vielmehr die Gelegenheit nutzen, aus meiner Sicht das „Handgemenge“ zu deuten und zu beschreiben, wo ich medico im „Handgemenge“ erlebe.
Wenn ich auf medico-Partner stoße, im medico-rundschreiben über sie lese oder sie persönlich auf einer internationalen Konferenz kennen lerne, stelle ich immer wieder fest, dass sie alle selbst Teil sozialer und politischer Bewegungen sind. Sie agieren in der festen Überzeugung, dass gesellschaftliche Veränderungen vorangebracht werden, indem Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und politischen Druck entfalten, um Rechte zu erkämpfen. Dass medico solche Partner in dieser Konzentration um sich versammelt hat, ist es, was es ganz besonders spannend für mich macht, mit medico zusammenzuarbeiten oder mich mit medico zu beschäftigen. Es ist sicherlich richtig, dass es noch viele andere Organisationen gibt, die mit den gleichen Partnern zusammenarbeiten. Brot für die Welt und Misereor wären hier nur zwei Beispiele. Ich sehe allerdings einen großen Unterschied. Im Gegensatz zu den meisten anderen Organisationen spricht medico auch offen und laut über den eigenen politischen Anspruch und das politische Handeln der Partner.
Ich erlebe medico aber auch im „Handgemenge“ in den sozialen Bewegungen bei uns. Auch das unterscheidet medico von anderen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen. Entwicklungspolitische Arbeit findet in diesem Verständnis von „Hilfe im Handgemenge“ eben nicht nur im globalen Süden in Kooperation mit den Ärmsten der Armen statt, sondern wird auch als Arbeit hier vor Ort verstanden. Das ist insbesondere deshalb nötig, weil sich der traditionelle Begriff von Solidarität zunehmend überholt hat. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Das lässt sich auch auf die Akkumulation von Reichtümern in der Welt übertragen. Im globalen Süden gibt es neben den verarmten Massen inzwischen auch kleine, aber wachsende Bevölkerungsteile, die über enormes Kapital verfügen. Im medico-Diskurs finden diese Themen statt. Das ist wichtig!
medico ist ein Partner, der Brücken baut. Im letzten Jahr, als es darum ging Bündnisse gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm zu schmieden, trat medico als Brücke auf. Als Brücke zwischen den linksradikalen Gruppen, die gerade noch mit Attac redeten, und den Organisationen, die bei Attac schon die Nase rümpfen und sich fragen, ob man mit uns überhaupt noch sprechen kann. medico schafft es immer wieder, zwischen Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen zu vermitteln. Bei meiner alltäglichen Arbeit in der sozialen Bewegung erlebe ich medico regelmäßig als ein Verbindungsglied. Sich für diese wichtige Arbeit Zeit zu nehmen und das sehr wohl als Teil von „Hilfe im Handgemenge“ zu sehen, dafür möchte ich medico ganz besonders danken. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass das so bleibt. Wenn man euch kennt, gibt es da eigentlich keinen Zweifel.
Bei einem weiteren Punkt empfinde ich die Arbeit von medico in Deutschland als besonders wichtig. Geht es um die langfristigen Ziele und die Art und Weise, wie die Ziele realisiert werden sollen, unterscheidet sich medico von den meisten anderen Organisationen. Bei medico ist Gesundheit nicht nur einfach etwas, wozu die Ärmsten der Armen ein bisschen mehr Zugang haben sollten, sondern sie wird als unbedingtes und gleiches Recht für alle definiert. In Zeiten, in denen das Prinzip der Gleichheit zunehmend auf Chancengleichheit reduziert wird, stellt medico fest, dass es ein absolutes und unbedingtes Recht auf Gesundheit und damit auch auf die gleiche Qualität der Versorgung geben muss. Das Prinzip der Gleichheit zu verteidigen und nicht auf Chancengleichheit zu reduzieren, ist von zentraler Bedeutung für die Linke. Hier darf man sich im Angesicht der Globalisierung und Pluralisierung von Gesellschaften nichts anderes einreden lassen. Es ist auch in Zukunft eine zentrale Aufgabe für einen Diskurs innerhalb progressiver Bewegungen diesem Prinzip im Handgemenge treu zu bleiben.
Bei medico geht es eben nicht nur um Hilfe, sondern um Veränderung der Strukturen, die Hilfe notwendig machen. Diese Haltung trug wesentlich zum Erfolg der Landminenkampagne bei. Denn die hatte gerade nicht zum Ziel, die Waffenhersteller zu bitten, eine etwas weniger Zivilisten schädigende Waffe herzustellen. Vielmehr ging es um die Durchsetzung einer rechtsverbindlichen Konvention. Das erscheint mir von großer Bedeutung: Das Einfordern allgemeiner Rechtsverbindlichkeit ist genau das Gegenteil von dem zurzeit sehr modernen Ansatz, der im Wesentlichen auf freiwillige Vereinbarungen baut. Allgemeine Rechtsverbindlichkeit ist zudem Ausdruck der Orientierung am Prinzip der Gleichheit.
Als letztes möchte ich auf einen Teil der Arbeit von medico eingehen, der mir persönlich, aber auch aus der Perspektive meiner Arbeit in der Umweltbewegung aufgefallen ist. Die Art und Weise wie Ihr Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland macht, empfinde ich als etwas ganz Besonderes. Ihr behandelt Spenderinnen und Spender als denkende Menschen. Wenn ich einen Aufruf zum Spenden von euch bekomme, dann besteht mein Hauptproblem nicht darin, wie sonst so oft, nach dem nächsten Papierkorb zu suchen. Bei eurer Spenderkommunikation handelt es sich um eine intellektuelle Herausforderung. Eure Spender schickt Ihr häufig auf Reisen durch die Länder eurer Partner. Die einzige Angst, die man dabei vielleicht hat, ist selbsteinmal zu dumm zu werden, um diese Aufrufe noch zu verstehen.
In Zeiten von Globalisierung brauchen wir breite Bündnisse, um gemeinsam erfolgreich zu sein. Wir werden uns dabei nicht mit kleinen Nischen zufrieden geben können. Wir sollten uns immer bewusst sein, dass diejenigen, die von diesem Prozess profitieren, sehr mächtig sind.
Ich freue mich auch in Zukunft über eine intensive schlagkräftige Zusammenarbeit im Handgemenge für eine andere, eine gerechtere Welt, für eine Welt, in der Rechte für alle gelten und nicht nur für einige wenige, die Zugang zu Märkten und Privilegien haben.