Es gibt nur Risikogebiete – Afghanistan im 3. Jahr nach dem Krieg

Um die Sicherheit der Menschen ist es schlecht bestellt. Ein Bericht aus Kabul von Katja Maurer

Wer nichtsahnend am Kabuler Flughafen eintrifft, den zieht die chaotische Normalität in ihren Bann. Zwischen einem undurchschaubaren Passkontrollsystem, das immer wieder willkürlich Menschentrauben organisiert, und einer Stunden sich hinziehenden Gepäckauslieferung bleiben die Zeichen des Ungewöhnlichen fast verborgen. Da übersieht man leicht die aufsteigenden Kampfhubschrauber der ausländischen Streitkräfte am Ende des Rollfelds. Am Eingang zum Flughafengebäude wirken die beiden abgeblätterten Portraits von Ahmed Shah Masud eher wie verblichene Werbeplakate, denn als Zeichen des Sieges und der Unterwerfung, wie die meisten Paschtunen die ikonenhafte Allgegenwart des ermordeten Nordallianz-Führers interpretieren. Auch die im Safari-Look gekleideten Herren könnte man zur Not noch für einen Junggesellen-Club auf Abenteuer-Reise halten, säßen die zivilen Khakis nicht schon wie Uniformen. Spätestens beim Verlassen des Gebäudes aber stellen sich keine Fragen mehr nach Afghanistans Eigenstaatlichkeit. Zwei enorme Panzerwagen stehen vor dem Flughafen, obenauf richten je vier Soldaten in Kampfanzügen martialisch ihr Gewehr auf uns Umstehende. Solange, bis die ISAF-Leute, die offenbar auch gerade angekommen sind, durch die Luke im Inneren der Panzer verschwinden. In Afghanistan, sorgen die International Security Assistent Forces vorwiegend für ihre eigene Sicherheit. Dabei hatten viele Afghanen große Hoffnungen auf die ISAF gesetzt. Doch sie sind buchstäblich zu afghanischem Staub zerfallen. Das Sicherheitsversprechen, das den ISAF-Truppen nach wie vor Rückhalt in der Bevölkerung verschafft, ist bislang nicht eingelöst. Im Gegenteil.

Angriffe auf Minenräumer

So häufen sich die Angriffe auf diejenigen, die bislang ihr Sicherheitsversprechen wahrmachen konnten – auf die afghanischen Organisationen der Minenräumung und Minenaufklärung. Muhamed Arif, Verwaltungschef von OMAR (Organisation for Mine Clearence and Afghan Rehabilitation), eine der größten afghanischen Entminungs- und Minenaufklärungs-NGOs, will dennoch nicht von einer Verschärfung der Situation sprechen. Er wählt diplomatische Formulierungen für den Ernst der Lage, der sich in den Ereignissen von zwei Wochen im Februar dieses Jahres widerspiegelt. Mitte Februar wurden vier afghanische Minenräumer von OMAR zwischen Herat und Farah im Westen Afghanistans in einen Hinterhalt gelockt und zielgerichtet umgebracht. In derselben Woche gab es einen Angriff auf OMAR-Direktor Fazel Karim Fazel, den er und seine Tochter nur mit Glück überlebten. Am 26. Februar teilte das für die Koordination der Entminung zuständige UN-Büro in Kabul mit, dass alle Minen-Aufklärungsprogramme im Süden Afghanistans wegen Gefährdung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorerst eingestellt werden müssten. Eine Katastrophe, wenn man bedenkt, dass es monatlich nach wie vor 12–15 Minenopfer gibt. Zwei Tage zuvor wurde ein Entminungsteam der afghanischen Organisation Mine Dog Center (MDC), die Entminung mit Hunden betreibt, mit Raketen angegriffen. Die Raketen flogen vorbei. Anders erging es wenige Tage später vier Mitarbeitern einer kleinen afghanischen NGO, die 40 Kilometer vor Kabul in einen Hinterhalt gerieten und umgebracht wurden.

Das Al-Qaida/Taliban-Erklärungsmuster, das Amerikaner, Briten und ISAF so gerne anbieten, um die Gewalt in Afghanistan zu erklären und nebenbei ihre Kriegsstrategie zu legitimieren, akzeptieren die afghanischen Minenräumer nicht. MDC-Direktor Hakimi spricht mit distanzierender Süffisanz von der »sogenannten Al-Qaida«. Und man kann dem Blick und Unterton entnehmen, dass er diese einfache Sicht der Dinge für mehr als hanebüchen hält. Die Afghanen reden lieber von »destabilisierenden Kräften« und meinen damit alle, die ein ökonomisches und politisches Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Zwischenkriegssituation haben. Darin eingeschlossen sind auch und vor allen Dingen die warlords, die in der Karzai-Regierung über maßgeblichen Einfluss verfügen. Ihnen sind die afghanischen NGOs gerade im Bereich der Minenräumung, Opferrehabilitation und Minenaufklärung suspekt, weil sie unabhängig sind. Außerdem sind sie dem Prinzip der Multiethnizität in ihrer Arbeit verpflichtet und setzen so ein Zeichen gegen die von den warlords betriebene Fragmentierung Afghanistans. Die Sicherheitssituation der afghanischen NGOs hat sich aber auch deshalb so verschärft, weil die internationalen Truppen, seien es Briten und Amerikaner oder die ISAF-Einheiten, immer wieder die Grenzen zwischen zivilen Aktivitäten und Kriegseinsätzen verwischen. »Wir sind«, so MDC-Direktor Hakimi, »zu einem weichen Ziel geworden.« Und OMAR-Verwaltungsleiter Arif beschreibt die Situation in der Sprache des Minensurvey: »Bei uns gibt es drei Risikozonen: eine hohe, eine mittlere und eine geringe. Nur die risikofreie gibt es nicht.«

Minenaufklärung in Heislabad

Auch ohne die Angriffe der diversen Fraktionen ist die Sicherheitssituation in Afghanistan brandgefährlich. Wie existentiell allein die Bedrohung durch Minen und Blindgänger ist, wird klar beim Minenaufklärungsunterricht in Heislabad. Hier an den steilen und kahlen Berghängen im Süden Kabuls haben sich Vertriebene und Flüchtlinge, die oft zehn Jahre in den Lagern Pakistan gelebt hatten, angesiedelt. Unter einfachen Zelten oder in Unterkünften aus selbstgebrannten Lehmziegeln überleben sie von der Hand in den Mund. In einer mickrigen Lehmhütte sitzen 20 Mädchen und erhalten Aufklärungsunterricht über Minengefahr, den OMAR organisiert. Auf die Frage, wer von ihnen mit Minen bereits in Berührung gekommen ist, erheben sich viele Hände. Alle berichten von Unfällen aus dem vergangenen Jahr. Auch Hanifa berichtet von ihrem Cousin, der beim Ziegenhüten beide Beine verloren hat. Die 13jährige mit dem Körper einer Achtjährigen ist mit ihrer fünfköpfigen Familie vor acht Monaten aus Pakistan gekommen. Sie wurde sozusagen zurückvertrieben. Ihr Gesicht trägt die Zeichen dieses geschundenen Landes, die Spuren ihres harten Lebens. Trotzdem strahlt Hanifa auf eine Weise, das einem das Herz warm wird. Sie ist die einzige in ihrer Familie, die lesen und schreiben kann, besucht die Schule und will Lehrerin werden. Nicht nur für Hanifa wünscht man sich, dass wenigstens einige der uneingelösten Versprechen für Afghanistan Wirklichkeit werden. Dazu aber ist mehr nötig, als die halbherzige Sicherung des Protektorats Kabul, die nur funktioniert, weil man sich auf einen faulen Kompromiss mit den warlords eingelassen hat. Alle, die für Kriegsverbrechen aus den vergangenen 27 Jahren verantwortlich seien, meint OMAR-Direktor Fazel Karim Fazel, gehörten vor ein Gericht. Nur so könne man verhindern, dass sich die Vergangenheit wiederholt. Die internationalen Truppen laufen jedoch gerade Gefahr Teil des afghanischen Kriegskreislaufes zu werden. Auch wenn sich der Kabuler Flughafen in ihrer Hand befindet. Und das, so sagen die kriegsversierten Afghanen, ist nach wie vor von strategischer Bedeutung.

medico unterstützt die Arbeit von OMAR und MDC, außerdem die Rehabilitationsanstrengungen von AABRAR und die Ausbildung von Dokumentarfilmerinnen und -filmern von KABURA. Alle vier afghanischen NGOs loten immer wieder aufs Neue die Grenzen und Möglichkeiten eines zivilen und demokratischen Zusammenlebens aus. Dafür brauchen sie unsere Unterstützung. Spendenstichwort: »Minenopfer/Afghanistan«.

Veröffentlicht am 20. August 2004

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