Erinnerungspolitik

Nationen in aller Welt haben Schuld auf sich geladen – und gehen unterschiedlich damit um. Von Heribert Adam.

Nicht erst die Debatte um den Bau eines Berliner Mahnmals für die unter dem Faschismus ermordeten Juden hat die Frage aufgeworfen, wie Staaten der Verbrechen ihrer früheren Führungen zu gedenken haben. Deutschland ist dabei kein Einzelfall: auch Länder wie Südafrika, Chile, Japan, die Vereinigten Staaten oder Kanada sind mit diesem Problem konfrontiert und haben jeweils unterschiedliche Lösungen dafür gefunden. Die Frage der angemessenen Form der kollektiven Erinnerung kann kaum außerhalb der spezifischen historisch-politischen Bedingungen eines Landes beantwortet werden. Es kann deshalb keine allgemeingültigen Regeln geben, wie mit einer schuldbeladenen Vergangenheit am besten umzugehen sei.

An einigen Beispielen soll dargestellt werden, wie verschiedene Gesellschaften Vergangenheitsaufarbeitung betreiben und welche Probleme dabei zutage treten. Meist werden mehrere Strategien gleichzeitig angewandt und im Laufe der Zeit mehr oder weniger betont. Mit der wichtigeren Zukunft von der unangenehmen Vergangenheit abzulenken ist beileibe keine spezifisch deutsche Eigenschaft. Nelson Mandela, der nach sechsundzwanzigjähriger Haft allen Grund gehabt hätte, verbittert auf sein Leiden zu rekurrieren, hat sich nach seiner Entlassung nicht nur für ein Vergeben, sondern auch für ein Vergessen ausgesprochen (»forgive and forget; let byganes be bygones«) und wird gerade deshalb von der Welt für seine Großzügigkeit bewundert.

Nach einem politischen Umbruch kaschieren viele Nationen ihre Verstrickung in vergangenes Unrecht mit neuen Mythen. So wurde die Hitler-Begeisterung der österreichischen Bevölkerung später als Zwangsanschluß kaschiert, womit man sich selbst vom schuldigen Täter zum mitleiderregenden Opfer umdefinierte. Ähnlich haben erst verspätete Prozesse gegen Beamte der Vichy-Regierung den französischen Mythos erschüttert, daß die halbe Nation begeistert mit der Resistance im Untergrund gegen die deutsche Besatzung kämpfte. In Japan werden die Greuel der imperialen Armee in Korea und China immer noch in keinem Schulbuch erwähnt. Die Regierung in Tokio weigert sich, selbst bei chinesischen Staatsbesuchen eine klare Entschuldigung auszusprechen, auch wenn die erzwungene Prostitution von Tausenden Frauen inzwischen zum weltweiten feministischen Betroffenheitskult gehört. Mit dem Abwurf der ersten Atombombe galt die vergangene Schuld als gesühnt. Ähnlich hat auch die gelobte amerikanische Demokratie bis heute kein einziges Denkmal zur Sklaverei oder zur Dezimierung der Urbevölkerung errichtet. Und Spanien hat auf Vergangenheitsaufarbeitung gänzlich verzichtet, weil die Wunden des Bürgerkrieges dadurch erneut aufgerissen würden. Paradoxerweise hat Deutschland sich für die Bombardierung Guernicas entschuldigt und Entschädigung gezahlt, nicht aber das Madrider Parlament.

Es kann deshalb nicht behauptet werden, daß offizielle Erinnerungspolitik Vorbedingung für demokratisches Verhalten in Nachfolgestaaten sei. Vielleicht ist gerade das Erinnern an eigene Leiden, Opfer und Ungerechtigkeiten der Anstoß für neue Gewalt. In Titos Jugoslawien waren die wechselseitigen Greuel von Serben und Kroaten tabuisiert unter dem Slogan »Brüderschaft und Einheit«. Sind die aktuellen Massaker nur mit der Manipulation der Vergangenheit durch nationalistische Demagogen zu erklären – oder wäre dieser Versuch erfolglos geblieben, wenn Titos Staat die Aufarbeitung offiziell betrieben hätte?

Zu den Abwehrmechanismen des mitverantwortlichen Erinnerns an das Grauen gehört, was Adorno die »Aufrechnung der Schuld« nennt. Die Schuld der anderen wird mit der eigenen verglichen und dadurch relativiert. Verhungerte deutsche Kriegsgefangene und Vertriebene werden gegen vergaste Juden aufgerechnet. Das sinnlos-kriminelle Bombardement Dresdener Zivilisten kurz vor Kriegsende »beweist«, daß die andere Seite auch nicht besser als die Nazis war. Die pseudowissenschaftliche Infragestellung der Zahl der ermordeten Konzentrationslagerinsassen hält bis heute an. Es scheint sinnvoll, über die Struktur einer psychologischen Disposition zu reflektieren, die es nötig hat, darauf zu bestehen, daß es nur vier und nicht sechs Millionen Ermordete gegeben hätte.

Strafverfahren gegen Verantwortliche von groben Menschenrechtsverletzungen, wie sie jetzt für die Beteiligten im Balkankrieg angekündigt werden, bedingen klare Sieger und Besiegte. Wo es eine Pattsituation gibt – wie zwischen schwarzen und Weißen in Südafrika oder zwischen dem Militär und den Demokraten in Chile –, ist man auf historische Kompromisse angewiesen. Strafverfolgung würde erneute Gewaltanwendung provozieren. Wer Diktatoren also zur frühzeitigen Machtpreisgabe motivieren will, sollte sie nicht mit Gerichtsverfahren bedrohen, weil sie sich sonst um so hartnäckiger an die Macht klammern. Es ist irrig anzunehmen, daß die zukünftigen Pinochets oder Milosevics dieser Welt durch Strafandrohung vor einem Internationalen Gerichtshof von ihren Menschenrechtsverletzungen abgeschreckt würden. Im Gegenteil, solcher Gerechtigkeitsfundamentalismus, wie er beispielsweise von dem Präsidenten des »Open Society Institute«, Aryeh Neier, gefordert wird, verschlimmert oft das Leiden der Unterdrückten, weil er ihren Unterdrückern keine Wahl läßt außer weiter zu morden, statt ungestraft abzudanken oder sich ins Exil zu verabschieden. So bedauerlich die Straffreiheit für Diktatoren auch sein mag, schnellstmöglicher Wandel bedingt oft pragmatische Strafaussetzung. Vor allem wenn eine große Zahl zu Tätern geworden ist, wie im jüngsten Genozid von 800.000 Hutus in Ruanda, kann die Tutsi-Minderheit selbst die schlimmsten Mörder nicht alle rechtmäßig verurteilen oder weiter inhaftieren. Gegenwärtig warten in Ruanda 130.000 Angeklagte in überfüllten Gefängnissen seit fünf Jahren auf ihren Prozeß.

Ähnliches gilt für die Nutznießer der Apartheid in Südafrika. Alle Weißen, ob Befürworter oder Gegner der Apartheid, profitierten von ihrer gesetzlich verankerten Privilegierung. Eine Umverteilung des Eigentums würde jedoch die miserable Situation der schwarzen Mehrheit allenfalls kurzfristig verbessern, aber langfristig verschlechtern, weil die südafrikanische Wirtschaft ausländische Investitionen benötigt und auf das Fachwissen der besser ausgebildeten Weißen angewiesen ist. Deren Emigration und der resultierende Kapitalabfluß wären gegenwärtig das Todesurteil für die südafrikanische Demokratie. Deshalb betreibt der ANC zuallererst »Versöhnung« und nicht Sühne oder Gerechtigkeit durch Strafverfolgung.

Südafrikas »Wahrheits- und Versöhnungskommission« hat sich stark an lateinamerikanischen Vorbildern, vor allem an Chile, orientiert. Im Gegensatz dazu war es jedoch ein verhandelter und kein vom vorangegangenen Regime aufgezwungener Kompromiß. Die Selbstamnestie Pinochets und seiner Militärs unterscheidet sich von der südafrikanischen Amnestie darin, daß sie hier von den neuen Machthabern angeregt und an gesetzlich festgelegte Bedingungen gebunden wurde. Nur diejenigen Täter, die individuell vor der Kommission in vollem Umfang ihre Untaten bekennen und ihre politischen Motive als Befehlsempfänger in einer politischen Organisation beweisen können, werden amnestiert. Die Mörder müssen keine Reue zeigen, die ja stets vorgetäuscht werden kann, sondern nur wahrheitsgemäß aussagen, um Straffreiheit zu erlangen.

Im Gegensatz zu den lateinamerikanischen Ländern mit Wahrheitskommissionen (Argentinien, Uruguay, Guatemala) findet die Geschichtserforschung in Südafrika öffentlich statt. Die Identität der Täter wurde in Lateinamerika geheimgehalten, und die Wahrheitskommissionen tagten in der Regel hinter verschlossenen Türen, weil in erster Linie das Schicksal verschwundener Personen aufgeklärt werden sollte. In Südafrika stehen sich Täter und Opfer direkt gegenüber. In einer einzigartigen Mischung aus Gerichtsverhandlung, Gottesdienst und politischer Demonstration hofft man auf einen Täter-Opfer-Ausgleich, im Glücksfall auf eine Versöhnung; rehabilitierende Justiz ist das Ziel.

Versucht man ein Fazit der südafrikanischen Methode zu ziehen, so läßt sich auf der positiven Seite feststellen, daß vor allem 22.000 Opfern von groben Menschenrechtsverletzungen oder deren Nachkommen offiziell Anerkennung gezollt wurde. Die Wahrheitskommission hat ebenfalls bewirkt, daß das weiße Südafrika nicht länger behaupten kann, illegale Untaten hätten nicht stattgefunden. Es wird jetzt alles auf einzelne Polizisten abgeschoben. Außer direkt belasteten Polizeigenerälen, die verbittert über solche Feigheit vor der Kommission auspackten, haben die meisten Regierungsmitglieder sowie die Armeeführung es abgelehnt, Amnestie zu beantragen, weil sie sich keiner Schuld bewußt seien. Das gleiche gilt für Winnie Mandela und Mangosuthu Buthelezi, die ebenfalls von der Kommission schwerer Verbrechen beschuldigt wurden.

Die Kommission hat mit 300 Mitarbeitern und finanzieller Unterstützung durch westliche Staaten in den 2 Jahren ihrer Existenz viel zur Aufklärung, aber wenig zur Versöhnung beigetragen. Ein Hauptgrund dafür liegt in ihrer parteiischen Zusammensetzung. Anders als die chilenische Kommission, die mit 4 Vertretern des alten und 4 des neuen Regimes paritätisch besetzt war, waren die meisten Mitglieder der südafrikanischen Institution als ANC-Mitglieder oder ANC-Sympathisanten bekannt. Ohne einen einzigen Historiker oder Sozialwissenschaftler waren die Kommissionsverhandlungen stark von moralisierenden Theologen und juristischen Spiegelfechtereien geprägt. Dies hat auf der burischen Seite die anfängliche Bereitschaft zur Mitarbeit beendet. Statt die Verantwortung für die in ihrem Namen begangenen Apartheidverbrechen zu übernehmen, lehnen nach einer Umfrage 83 Prozent der Weißen in Südafrika die Kommission als parteiisch und unfair ab. Paradoxerweise reagiert der ANC ähnlich. Als im Endbericht auch einige von dessen führenden Mitgliedern beschuldigt wurden, versuchte die Regierungspartei vergeblich, die Veröffentlichung des Berichts gerichtlich zu unterbinden.

Die Kommission hat auch kaum etwas dazu beigetragen, das Bewußtsein für die aus der Apartheid resultierenden materiellen Ungleichheiten zu schärfen. Indem sie nur die ungesetzlichen Verbrechen im Blick hatte, hat sie die strukturelle Gewalt der gesetzlich abgesicherten Ungleichheit ignoriert. Der durchschnittsweiße Nutznießer der Apartheid fühlt sich nicht betroffen oder gar zur Umverteilung motiviert, weil er ja nicht gefoltert hat. Es ist anzunehmen, daß erst die nächste Generation der Weißen, ähnlich wie in Deutschland, die Schuld und Verantwortung ihrer privilegierten Eltern aufrollt. Selbst Demokratien zahlen Wiedergutmachung nur unter politischem Druck. Entschädigung resultiert selten aus moralischer Verpflichtung. Eine von der SA-Wahrheitskommission empfohlene bescheidene Wiedergutmachung (12.000 Mark für sechs Jahre für 22.000 anerkannte Opfer) wurde bisher nicht genehmigt. Die Regierung argumentiert jetzt, daß der Befreiungskampf nicht für materielle Vorteile geführt worden sei.

Es dauerte 30 Jahre, bis die kanadische Regierung sich bereit fand, den während des Krieges internierten Kanadiern japanischer Abstammung wenigstens eine symbolische Entschädigung für ihr beschlagnahmtes Eigentum zu zahlen. Wenn sie trotzdem erfolgreich sind, verdanken sie es einer »Politik der Bloßstellung«. Diese symbolischen Machtmittel appellieren an das schlechte Gewissen eines demokratischen Kollektivs, das seine Identität aus seiner Selbstdefinition als Rechtsstaat bezieht. Das Legitimationsbedürfnis eines weltweit als antikoloniales Vorbild vermarkteten Staates verlangt, daß er die Urteile seiner Gerichte anerkennt. Mit Hilfe juristischer Sympathisanten der Mehrheitsbevölkerung haben die Eingeborenenvertreter sogar durchgesetzt, daß der Staat die hohen Prozeßkosten gegen sich selbst übernehmen muß und Millionenbeträge für die Erforschung neuer Ansprüche zur Verfügung stellt. Obwohl die Mehrheit der später eingewanderten Bevölkerung nicht durch Herkunft mit den ursprünglichen Untaten in Verbindung gebracht werden kann, müssen die neuen Mitglieder des Kollektivs die Verantwortung für seine vergangenen Untaten übernehmen und für entsprechende Entschädigung haften – ebenso wie sich für neu eingebürgerte Türken in Deutschland die Frage stellt, wie sie als neue Deutsche für die Naziverbrechen Verantwortung tragen sollen, ohne daß doch sie oder ihre Vorfahren sich irgendwelche Schuld zuschreiben müßten.

Vergangenheitspolitik umfaßt häufig auch Maßnahmen zur politischen Bildung und demokratischen Bewußtseinspflege, für welche das Reeducation-Programm der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg das Modell liefert. Daniel Goldhagen etwa forderte als praktische Lösung des Kosovo-Krieges, Serbien zu besetzen, eine alliierte Zwangsverwaltung einzurichten und die Bevölkerung umzuerziehen. Der frühere Chefankläger des Internationalen Gerichtshofes für Jugoslawien und heutige südafrikanische Verfassungsrichter Richard Goldstone betont immer wieder, wie wichtig eine gemeinsame Geschichtsinterpretation verfeindeter Gruppen ist. Statt eigenes Leiden und erfahrenes Unrecht in den Mittelpunkt zu stellen, sollten die Vergehen und Verbrechen an der Gegenseite hervorgehoben werden. In der Tat ist das Erinnern als solches noch keine Garantie für aufgeklärtes politisches Bewußtsein, sondern kann sogar das genaue Gegenteil bewirken. Gefragt werden muß: erinnern an was und erinnern wozu?

Erinnern an eigene Opfer und erlittene Ungerechtigkeiten läßt sich mühelos auch in nationalistische Mobilisierung verkehren. So kritisierte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber auf dem jüngsten Sudeten-Tag die Bonner Haltung gegenüber den deutschen Heimatvertriebenen als »kaltschnäuzig und geschichtslos«. Als ob die Hitlerischen Kriegsfolgen rückgängig gemacht werden könnten, konstatiert Stoiber im Vergleich Sudetendeutsche hier, Kosovo-Albaner dort gegenüber der eigenen Bevölkerung eine »klare Gerechtigkeitslücke«. Aber auch umgekehrt kann das Erinnern an die Verbrechen des eigenen Volkes in eine Sackgasse führen, wenn es sich nämlich auf Schuldzuweisung, Aufforderung zur Toleranz und multikulturelles Verstehen beschränkt. Erfolgreicher als das Predigen von Toleranz und Empathie dürfte ein anderes Erziehungskonzept sein: das Selbstvertrauen Jugendlicher zu stärken, ihr kritisch-autonomes Bewußtsein zu entwickeln und Regeln der verhandelten Konfliktlösung einzuüben. Ich-starke Jugendliche mit gesichertem Selbstverständnis sind gegenüber Demagogen am besten immunisiert.

Heribert Adam ist diesjähriger Preisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung. Er kommt aus Hessen, war Mitglied des Instituts für Sozialforschung, und lehrt heute Politische Soziologie in Kapstadt und Vancouver.

Veröffentlicht am 01. September 1999

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