Ende der Angst

Chile: Seit Monaten demonstrieren Schüler und Studenten für kostenlose Bildung und haben die Mehrheit hinter sich

Das hätte sich der chilenische Präsident Sebastián Piñera nicht träumen lassen. Noch vor einem Jahr, nach der Rettung der 33 Bergleute war er der gefeierte Star der chilenischen Politik mit traumhaften Umfrageergebnissen, und nun ist er abgestürzt. Die Zustimmung dümpelt irgendwo bei 20 Prozent, während die hartnäckig und unnachgiebig in wöchentlichen Demonstrationen vorgetragenen Forderungen der Schüler und Studenten, der Lehrer und Professoren, der Eltern und Großeltern nach einem kostenlosen Bildungssystem für alle von der übergroßen Mehrheit der chilenischen Bevölkerung unterstützt wird. Das elende Patt, das die chilenische Gesellschaft seit über 100 Jahren prägt und Gewähr dafür bot, dass am Ende immer eine autoritäre, klerikale Rechte die Oberhand behielt, scheint gebrochen. Die Chilenen wollen eine soziale und solidarische Gesellschaft und dazu gehören Gemeingüter wie Bildung und Gesundheit. Und sie kämpfen dafür mit einer erstaunlichen Entschlossenheit. Seit Monaten streiken Studenten und Schüler, verweigern sich faulen Kompromissen mit der Regierung, riskieren damit den Ausschluss aus Universitäten und Schulen oder die Aberkennung von Abschlüssen. Aber eines wollen sie nicht riskieren: ihre Zukunft.

Die setzt schon der neoliberale Kapitalismus aufs Spiel, der nirgendwo so Eingang in den Alltag und in die Politik gefunden hat, wie in Chile. Bereits unter der Pinochet-Diktatur wurde das chilenische Bildungswesen radikal privatisiert. Eine der letzten Amtshandlungen Pinochets bestand in einer Verfassungsänderung, die das Bildungswesen dem Privatsektor überantwortete. Übrig blieb eine schulische Basisversorgung durch die Kommunen, die dafür aber immer weniger Mittel zur Verfügung haben. Das chilenische Bildungssystem ist aus dem Bilderbuch des Neoliberalismus in die Praxis überführt worden. So stellte man sich auch die Handhabung der restlichen öffentlichen Sozialaufgaben von der Gesundheit über Wohnen bis zur Rente vor.

Seit 1990 hat sich keine Regierung getraut, diese Verfassungsänderung zurückzunehmen. Denn dann hätte man früher oder später auch die gesetzlich verankerte Amnestie für die Verbrechen der Militärdiktatur aufheben können und müssen. Den wachsenden Unmut über das profitgetriebene Bildungssystem und die erheblichen Kosten, die das für jede Familie bedeutet, versuchten die Regierungen mit der Ausweitung von Stipendien aufzufangen. Ähnlich wie in Deutschland entwickelte man dafür Exzellenzinitiativen und förderte dadurch vor allen Dingen die Elitenbildung. Die chilenischen Schüler und Studenten richten ihren Protest deshalb gegen alle Parteien, die Regierungsmacht ausübten. Ihre Distanz zu politischen Parteien aber führt keineswegs ins Unpolitische. Die Forderungen sind glasklar: kostenlose Schul- und Universitätsausbildung; die Finanzierung der Schulen als staatliche und nicht kommunale Aufgabe sowie das Verbot des Gewinnstrebens im gesamten Bildungsbereich. Sie fordern eine Volksabstimmung. Auch in den Verhandlungen blieben sie knallhart. Als die Regierung ihre Vorbedingungen - die Verschiebung des Semesterendes und ein Stopp der von der Regierung eingebrachten Gesetzesvorhaben im Bildungsbereich - nicht erfüllte, verließen die Studenten den Verhandlungstisch. Stattdessen veranstalteten sie einen „Besotón“ - einen Kussmarathon - im Zentrum von Santiago und hatten die Bevölkerung hinter sich.

Warum gerade jetzt die Proteste so stark angewachsen sind, begründet José Araya, Geschäftsführer der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU, ein medico-Partner noch aus Diktaturzeiten, mit einer neuen Generation: „Die Studentenführer sind um 1990 geboren. Das ist die Generation des demokratischen Übergangs, die glücklicherweise die Angst, unter einer Diktatur zu leben, nicht mehr kennt.“ Außerdem habe der Streit um das Bildungssystem eine Geschichte. 2006 gab es die „Pinguin-Revolution“ - ein Aufstand der Schülerinnen und Schüler. „Die Anführer der Jugendproteste waren schon damals dabei, nur ungleich jünger“, so Araya. Für Organisationen wie CODEPU, die im Kampf gegen die Straflosigkeit und für soziale Gerechtigkeit jahrelang allein standen, zeigt dieser Aufbruch in der chilenischen Gesellschaft, dass es richtig war diese Themen nicht aufzugeben. „Am Beispiel der Ausgrenzung und sozialen Benachteiligung der Mapuche haben wir immer wieder darauf verwiesen, dass das neoliberale Modell in Chile auf sozialem und politischem Ausschluss beruht“, erklärt der CODEPU-Geschäftsführer.

Wenn Piñera scheitert, dann scheitert ein Modell, das gerade weltweit für Furore sorgen sollte. Der Piñerismus nämlich besteht darin, den Staat wie ein Unternehmen zu führen. Eine „Regierung der Besten“, „die eher einem Aufsichtsrat ähnelt“, schreibt Le Monde Diplomatique. Eine Politik, die „sozial und demokratisch“ - aber vor allen Dingen pragmatisch - Probleme im Vorbeigehen löst. Piñera unterläuft durchaus auch die rechte Ideologie, zum Beispiel mit einem „ethischen Familieneinkommen“. Aber Bildung ist für ihn ein „Konsumgut“ wie jedes andere. Und das ist in Chile offenbar eine Grenze, an der sich die Geister scheiden. Auf Platz 1 „Unserer 100 Besten“, ein weltweites Fernsehformat, landete in Chile nach Jahren des Totschweigens der Mann, der für die Idee der sozialen Gerechtigkeit und einen demokratischen Sozialismus steht: Salvador Allende. Kollege Araya meint: „Per Internetabstimmung gewählt haben ihn die Jungen.“

Katja Maurer

Projektstichwort

Die Arbeit der Menschenrechtsorganisation CODEPU reicht vom Kampf gegen die Straflosigkeit bezüglich der Diktaturverbrechen, der juristischen und psychosozialen Unterstützung von Diktaturopfern, bis zur menschenrechtlichen Begleitung von Kämpfen der Mapuche-Indianer, die in Chile ökonomisch und politisch extrem marginalisiert werden. Ihre Unterstützung unter dem Stichwort: Chile.

Veröffentlicht am 01. Dezember 2011

Jetzt spenden!