Editorial

»Zeitzeichen«

Die Verbotsforderung gegen die NPD ist Zeichen dafür, daß man etwas tun will, nicht, daß man etwas auch verstanden hat. Der vom Kanzler geforderte »Aufstand der Anständigen« bedeutet schon in sich eine logische Unmöglichkeit: wie soll ein Aufstand der ermittelten 96% nicht fremdenfeindlichen Mitglieder einer Gesellschaft gegen die restlichen 4% aussehen? Etwas bleibt unverständlich & dies Nichtverstehen gehört mit zur Tat. Der Zugang zum Verständnis des Geschehenen aber eröffnet sich durch das, worin sich die Tat eben dem Verstehen entzieht. Die fremdenfeindlichen Anschläge sind als Taten erkannt, aber von einem Wiederaufleben des völkischen Nationalismus kann keine Rede sein.

Heute fordern die Spitzen der deutschen Industrie die Verfolgung der Rechten: Berufsverbote, Führerscheinverbote, sogar (Henkel) den Verzicht auf jede Zuwanderungsdebatte bei Wahlkämpfen. Alle Medien stehen konsequent gegen rechts. Der Verfassungsschutz selber ist ernsthaft bemüht, der politischen Linken ihr Letztes zu rauben und sich selber zuzueignen: den Antifaschismus.

Gewiß gibt sich der Phänotypus der rechten Gewalt nationalistisch, aber das Spezifische an diesem Tabubruch ist internationalistisch. Kapital & Finanzmärkte pulsieren jenseits nicht nur des Nationalstaates, sondern heben alle Eigentümlichkeiten auf: der Länder, der Familien, der Gruppen und Kulturen. Das Globalisierungsnetz steht gegen jegliche sich selbst apart definierende »Einheit«, weil alles zur Stromlinie werden muß.

Jean Baudrillard publizierte 1994 eine Studie, in der er den neuen Haß als eine Art Allergie zu begreifen versucht. Hinter dem Universalismus der elektronischen Medien & Märkte, auf der Rückseite der wachsenden Vernetzung mit immer mehr Interdependenzen, bildet sich etwas heraus, was den Extremismus unserer Normalität spiegelt, nur eben im Negativen und bei jenen, die in dieser vernetzten Welt ihren Platz nicht finden. Baudrillard gelangt zur Einsicht, daß ein durch die Medien forcierter Narzißmus in Verbindung mit gnadenlosem Konkurrenzdenken und einer »Monetarisierung der Beziehungen« zu einer Brutalisierung führt. Die Gewalt erscheint in dieser Sicht als letztes Mittel, einmal den zu vernichten, der in unserer Repräsentationsgesellschaft so wenig zählt wie man selbst.

Nicht mit der Renovierung der NSDAP ist zu rechnen, deren historische Symbolkraft und Praktikabilität längst entschwunden sind, sondern am Ende aller Diskurse steht ein grauenhafter autistisch negativer Existentialismus: nämlich das globalisierte Sein zum Totschlagen. Die politisch noch unbeholfenen Versuche der Weltstrukturbildung, die brachial-brutalen Eingriffe & Diktate der Weltbank und des IMF stimulieren und installieren eine Kultur der gegenseitigen Eliminierung. Die aktuelle Gewalt kommt nicht von der NPD, sie stammt aus dem Herzen der Verhältnisse. Daß sie eine rechte Farbe annimmt, ist gefährlich, weil nicht mehr demokratisch von unten auf die Entwicklung reagiert wird. Dieser ernsthaften Frage ist das vorliegende Rundschreiben gewidmet – und mit ihm das gesamte Projekt medico international. Dessen Förderung wir Ihnen in diesem Sinne hoffen empfehlen zu dürfen.

Herzlichst

Ihr

Hans Branscheidt

Veröffentlicht am 01. November 2000

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