Editorial

Wie würde die Welt aussehen, wenn jeder Mensch die gleichen Voraussetzungen wie jeder andere hätte? Manuela Pfrunders »Atlas zur gerechten Verteilung der Welt« beantwortet diese Frage, indem sie eine imaginäre neue Weltordnung präsentiert, in der alles im Sinne radikaler Gerechtigkeit neu verteilt ist. Ihre Grafiken illustrieren, wie es aussieht, wenn jeder gleiche Rechte & gleichen Anspruch auf alle Ressourcen hätte. Auf der Basis eines theoretisch voraussetzungslosen statistischen Experiments werden die Besitzverhältnisse so geregelt, daß jeder Mensch seinen gleichen Anteil an allem erhält. Was besitzt dann jeder Einzelne? Wieviel Insel? Wieviel Eis? Wieviel Luxus? Wieviel Hunger? Wie oft erhalten wir ein neues paar Jeans? Oder Reis, Autos, Par­füm? Wer es für sich genau wissen will, kann sich un­ter www.neotopia.ch einloggen. Eins steht fest, je­dem Menschen wird eigenes Land im Volumen 291,5 Meter x 291,5 Meter zuteil. Die junge Gestalterin aus der Schweiz konfrontiert nicht die Reichen mit den Armen, sondern unterschiedslos alle mit allen. Die Visualisierung des Ergebnisses ist ebenso gerecht wie erschreckend: die radikale Gleichheit ergibt ein undifferenzierts Sein: pure Gleich-Gültigkeit.

Nachdem nun einigermaßen feststeht, daß die Welt nicht mehr entwickelt, sondern abschließend gestaltet werden muß, ist die Beschäftigung mit der Frage der Regulierung des globalen Geschehens zur allgemeinen Aufgabe geworden. Damit sind Fragen aufgeworfen, die sich nicht mehr im Sinne der alten utopisch-freizügigen Erwartungen behandeln lassen. Praktisch, verbindlich & demokratisch soll die Eine Welt fixiert werden. Aber wie und als was? Wer ist legitimiert? Wer vollzieht die finale Modernisierung? Wer verfügt über Gestaltungswillen und Potenz? Ereignen sich die notwendigen Interventionen von außen, von innen, von unten? – Für uns immer durch soziale Demokratie von unten: Aber ist das nicht auch schon nur die abgegriffene Münze des oft genug blamierten Versprechens, technologischer Fortschritt & soziale Emanzipation erlösten das Subjekt? Nach sovielen Pleiten? Was ist das Ziel der Gestaltung? Wie bestimmt man es? Gibt es die Eine Welt als Plan oder tendenzielle Wirklichkeit? Wer verfügt über ein Bild des Menschen? Von dessen neuem Dasein? Von Aussehen und Gestalt der neuen Assoziation und ihren neuen Individuen? Was tut dieser Mensch? Wie verbringt er seine Zeit? Worin verwirklicht er sich? Oder ist er einfach real verwirklicht? Immer mehr Menschen werden in die Welt geboren, wo immer weniger formelle Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Daran wird nichts sich ändern: Dem Kapital gelingt die Realabsorption von Arbeit nicht mehr auf erweiterter Stufenleiter. Was soll dann durch wen wo & wie produziert werden? Manuela Pfrunder Neotopia-Experiment ist perfekt durchgeregelt: Aller Verbrauch, jeder Anspruch, jegliche Verteilung. Der Aufschein radikaler Gerechtigkeit ist dabei erschreckend: Gleich­heit als Bild der vollends regulierten Erde. Die vollendete Aufklärung? – Das Ergebnis der naiv unterstellten Eindeutigkeit dieser Entwicklungstendenz ist wohl der qualitativen Differenz feindlich. »Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben. Es könnte wohl die Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben. Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzieren (Adorno).« Zu befürchten ist, daß der gegenwärtigen Welt die lächerliche Absurdität folgt, die als Neotopia das undifferenzierte Sein wäre. Aber trotzdem… Ein Fehler könnte bestehen bleiben. Wie man den findet, dazu möchte Heinrich von Kleist einen brauchbaren Hinweis für uns Menschen der nachutopischen Zeit gegeben haben: »Doch ist das Paradies verriegelt und der Cherub steht hinter uns. Wir müssen erneut die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.… Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? – Allerdings, antwortet er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.«

Herzlichst
Ihr
Hans Branscheidt

Veröffentlicht am 01. November 2002

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