Editorial

Liebe Leserinnen & Leser,

Mehr als je zuvor in aller bisherigen Geschichte ist in der globalisierten Welt jeder Tag ein Datum, das Anlaß gibt darüber nachzudenken, mit welchen Unterschieden zwischen den Menschen man sich abfinden mag und mit welchen nicht. Mehr Freiheit? Mehr Gleichheit? Mehr Gerechtigkeit? Diese Fragen, die zum Alltag gehören, stellen sich so unerhört, weil die Globalisierung alle Menschen miteinander verbindet – weshalb jedes Problem, das aufkommt, nicht mehr nur partikular oder regional und in Grenzen gehalten behandelbar ist, sondern entgrenzt unmittelbar zum gesamten Weltproblem wird. So faszinierend die kommunikative Vernetzung sein mag, die durchaus kreative Möglichkeiten bietet: sie findet statt unter dem Diktat des Weltmarktes, dessen mondiale Durchsetzung einer »Rationalität« den Vorzug gibt, die systematisch mehr soziale Exklusionen als Inklusionen produziert. Daraus folgt die zunehmende Kontamination der Gesellschaften und Länder durch die Freisetzung von Ressentiments aufgrund enttäuschter Gewinn- und Erfolgserwartungen. Die Kollektive erleiden, selbst noch in der Zone der Gewinner, eine anwachsende Angst und Verunsicherung, die zur regulären Verdrossenheit führt. Die geltenden globalen Spielregeln taugen nämlich nur zur unentwegten Vermehrung derjenigen, die mit dem Gefühl, Verlierer zu sein, vom Platz gehen – und es tatsächlich auch sind. Eine Abfindung all dieser Verlierer ist nicht vorgesehen. Für die armen Länder galt diese Frage noch nie, für die reichen Länder wird sie aktuell aufgekündigt durch verrechtlichte soziale Einschränkungen, wie sie in einer Agenda 2010 zum Ausdruck kommen. Gesetzt wird auf umfassende »Reformen«, welche die Ökonomie stimulieren sollen. Aber gerade Wachstum wird heute keine weiteren Arbeitsplätze schaffen, weil es auf Rationalisierung gründet – auf permanenter sozialer Exklusion der »Überflüssigen«, die man besser »Erwartungslose« nennen sollte. Unser Rundschreiben stellt thematisch die Betroffen und deren Umstände vor: Frieden und Zusammenleben der Menschen im Irak oder in Palästina werden niemals herzustellen oder zu sichern sein auf der Grundlage der Anwendung der Regeln von Gewalt. Man mag so durchaus gelegentlich neue und bessere Regierungen bilden, aber ohne die Lösung etwa der Wasserfrage werden im Nahen Osten die Konflikte fortbestehen. Gerade Frieden bedarf nicht bloß einer guten Gesinnung, er muß auch materiell unterkellert sein. Siehe unsere medico-Bemühungen in Brasilien, Palästina, in der Türkei und Irak. Gelingt es nämlich nicht, die Arbeit neu und anders zu verteilen, soziale Gemeinschaften solidarisch zu organisieren, die Frage nach Gerechtigkeit für alle Welt zu stellen, um die progressive Ungleichverteilung zu sabotieren – dann wird die Barbarei des Ressentiments triumphieren. Davon ist die Welt bereits voll: – im Zeichen von Ethnisierung und Re-Nationalisierung, im Entwerfen von paranoiden Projektionen und Vorwürfen, im Ausmachen von angeblichen Generalschuldigen: den »Anderen«. Unser neues Heft möchte bescheiden versuchen, eine wesentliche Fragen an das 21. Jahrhundert zu formulieren: Wie die Moderne ihr Experiment mit der Globalisierung des Ressentiments wieder unter Kontrolle bringen will? Jenseits der Basis & Beteiligung der unterschiedlichen Menschen, die ihre Freiheit in der Anerkennung des Andersseins verwirklichen, wird das aber nicht zu machen sein.

Herzlichst
Ihr
Hans Branscheidt

Veröffentlicht am 01. Juni 2003

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