Chile

Die Hände des Generals

Zum Prozess gegen Augusto Pinochet, 2001. Von Ariel Dorfman

Seit Jahren schon denke ich an die Hände des Generals Pinochet. Jene Hände, die demnächst – heute, morgen, kommende Woche – die unentrinnbare und beschämende Behandlung erleiden, der Angeklagte auf der ganzen Welt unterzogen werden. Ich sehe die Szene vor mir, male sie mir bildlich aus: Ein großer kräftiger Mann wird die Hände, an die ich seit langer Zeit denke, festhalten, wird die Finger in schwarze Tinte drücken und anschließend vorsichtig, um die Kleidung des Generals nicht zu beschmutzen, seine Fingerabdrücke nehmen: ein Daumen, der Zeigefinger und jetzt noch dieser Finger. Von diesem Moment an wird das Blatt mit den zehn Fingerabdrücken zu den Gerichtsakten des Mannes gehören, der 17 Jahre lang mein Land regiert hat. Diese Hände werden den vom Richter Guzmán wegen Entführung und Mord angeklagten Bürger Augusto Pinochet Ugarte bei der Polizei identifizieren.

Ich dachte nicht an die Hände des Generals, als ich seine Stimme zum ersten Mal hörte, als er mit mir sprach. Das war 1973, genauer gesagt, Ende August 1973. Es waren die letzten Tage Salvador Allendes, und ich arbeitete im Regierungspalast La Moneda. Als das Telefon klingelte und jene barsche nasale Stimme sich als General Pinochet vorstellte und verlangte, unverzüglich mit dem Minister und Generalsekretär der damaligen Regierung, Fernando Flores, sprechen zu wollen, gehorchte ich sofort. Pinochet war, so glaubten wir, der Loyalste der Militärs. Er würde den Putsch, der gegen Chiles Demokratie angezettelt wurde, aufhalten. Ich ahnte nicht, wozu jene Hände in der Lage waren. Kein warnendes Vorgefühl. Nichts. Zwei Wochen später haben jene Hände, welche die Nummer des Telefons im Mondeda-Palast, das ich abnahm, gewählt hatten, haben jene Hände, die Allende gegrüßt haben, als dieser Pinochet zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt hatte, hat jene rechte Hand, die Minister Orlando Letelier freundschaftlich auf die Schulter klopfte und General Carlos Prats unbedingte Treue geschworen hatte – hat ebenjene Hand am 11. September das erste Dekret der Militärjunta, das den Präsidenten der Republik stürzte, unterzeichnet. Und einen Monat später, im Oktober, setzte diese Hand den Namen des Generals Pinochet unter einen Befehl und schickte eine Gruppe Militärs in den Norden Chiles, ein Kommando, das später als »Todeskarawane« bekannt werden sollte, weil seine Mitglieder politische Häftlinge erschossen, von denen einige schon zu Gefängnisstrafen verurteilt waren, die Leichen Ermordeter verschwinden ließen und die Gefangenen, bevor sie sie hinrichteten, folterten. Unter ihnen waren meine Freunde Freddy und Carlos. Und es folgten weitere Befehle: Sie töteten General Carlos Prats in Argentinien, töteten Orlando Letelier in Washington, töteten Fernando Ortiz in Santiago – andere Hände führten aus, was jene Stimme forderte. Vom Exil aus habe ich alles gewissenhaft, nahezu krankhaft aufgezeichnet, als müsste ich mich bestrafen für meinen ursprünglichen Mangel an Hellsicht und dafür, daß ich bei dem kurzen Telefongespräch im Moneda-Palast den Atem und die Präsenz des Bösen nicht gespürt habe. Es ist sonderbar, aber mir schienen, je mehr ich an Pinochet dachte, je mehr seine Hände sich in mein Leben mischten, diese Hände immer unwirklicher, immer ferner, immer unverletzlicher. Bis man mir schließlich 1983 erlaubte, nach Chile zurückzukehren, und das Schicksal mir an der Straßenecke Eleodoro Yánez und Antonio Varas ein zweites Zusammentreffen mit Pinochet beschied. Motorräder bremsten unter Sirenengeheul das Auto, in dem mein Schwager, mein Sohn und ich saßen, und im nächsten Augenblick sahen wir eine Reihe schwarzer Wagen. Aus einem dieser Wagen wurde genau in dem Moment, als er an uns vorbeifuhr, eine Hand gestreckt, eine Hand im weißen Handschuh. Ich schwöre, das ist wahr. Ich habe Zeugen. Es war Pinochets Hand, die uns in der Abenddämmerung zuwinkte. Mit diesem Gruß ließ er mich und die Meinen wissen, daß er noch weiterhin unbehelligt Befehle erteilen würde, daß seine Gegner diesen Händen nie nahe kommen würden, daß wir sie nicht einmal sehen könnten, daß sie immer gespenstisch weiß sein würden. Unantastbar. Straflos. Auf der Allee in weite Ferne rückend. Diese arrogante Hand weissagte, was uns in den nächsten Jahren erwartete. Bis zu jenem Tag im Oktober 1998, als andere Befehle und andere Voraussagen zu gelten begannen, als die Hände von Londoner Polizisten – aufgrund eines Antrags aus den Händen des spanischen Richters Garzón – Pinochet verhafteten. An diesem Tag fingen die Hände vieler verschiedener Menschen an, dem General seine Handschuhe auszuziehen und seine tausend Schutzmauern einzureißen. Sie entblößten die Hände des Generals Finger um Finger, Berufung um Berufung, Einspruch um Einspruch und bereiteten den Moment vor, an den ich jetzt denke: den Moment, in dem die Justiz meines Landes der Welt zeigt, daß wir vor dem Gesetz alle gleich sind. Ja, seit Jahren denke ich an die Hände des Generals Pinochet. Seit Jahren träume ich von dem Augenblick, wenn sie fertig sind mit seinen Fingerabdrücken. So, mein General. Genau so. Wie bei einem Kriminellen.

Ariel Dorfman

Die Militärdiktatur in Chile war aber keine Einzelveranstaltung eines sadistischen Generals, dem als nun senilem Greis das Patent des Kriminellen verliehen wird. Es war dies in Wahrheit das Pilotprojekt für die folgende Einführung neoliberalen Wirtschaftens auf dem Globus. Mit viel Applaus von vielen Seiten: Dem Rackett der »Chicago Boys« um Milton Friedman, von Lady Thatcher und der CDU und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es war dies aber auch noch etwas anderes – unvergessen: die mörderische Intervention gegen ein sozialistisches Experiment auf dem südamerikanischen Subkontinent. Vielen, die heute Pinochet verurteilen, war er damals grade recht. Erst dieser Blick auf die Vergangenheit erlaubt das historische Urteil. Medico International ist seit der Ermordung Salvador Allendes ununterbrochen vielfältig darum bemüht, Demokratie, Menschenrechte und soziale Verbesserung in Chile zu fördern. Unsere kostenlosen Hintergrundinformationen belegen dies für unsere Spenderinnen & Spender. Wir bitten auch heute um Ihre Hilfe. Stichwort: »Chile«.

Veröffentlicht am 01. März 2001

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