Die Ersten und die Einzigen

Im Unglück erweist sich die pakistanische Zivilgesellschaft als handlungsfähig

Alma Ata liegt in Kasachstan. Weit weg von Frankfurt oder der pakistanischen Hafenmetropole Karachi. Die Verbindung dieser drei Orte liegt in einer Entscheidung von historischer Dimension, die die Regierungen der Welt 1978 in Alma Ata fassten und der eine grundlegende, konzeptionelle Revolution in der internationalen Gesundheitspolitik folgte. Unter dem Motto „Gesundheit für alle“ wurde damals das Konzept der Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care - PHC) ausgerufen und damit auch ein neues Verständnis von Gesundheit, das weit über die Medizin hinausreichte.

Gesundheit, so heißt es darin, wird vor allem durch außermedizinische Faktoren bestimmt. In erster Linie sind es der Zugang zu Einkommen und Land, menschenwürdige Wohnverhältnisse, ausreichende Ernährung, die Respektierung der Menschenrechte und kulturelle Teilhabe. Wer für Gesundheit streiten will, muss sich für soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation einsetzen. Zwar blockierten die beginnende Wirtschaftsrezession der frühen 1980er Jahre und Stellvertreterkonflikte des Kalten Krieges die staatliche Umsetzung solcher Konzepte mit gesellschaftsveränderndem Potential, aber die Aufbruchstimmung der Gesundheitsaktivisten in Frankfurt wie Karachi war nicht mehr aufzuhalten. medico international nahm in dieser Zeit das PHC-Konzept auf und unterstützte z.B. in Nicaragua den Aufbau von Basisgesundheitsdiensten.

Dr. Tanveer Ahmed, der heutige Geschäftsführer unserer pakistanischen Partnerorganisation Health and Nutrition Development Society (HANDS), hatte damals gerade das Medizinstudium abgeschlossen. Sein Professor hatte selbst an der Weltgesundheitskonferenz in Alma Ata teilgenommen und kam mit dem festen Entschluss zurück, ein ähnliches Basisgesundheitssystem in den ländlichen Gegenden rund um Karachi einzuführen. So verließ eine Gruppe junger Ärzte die Universität um ihre Vorstellungen eines partizipativen Gesundheitswesens in acht verschiedenen Dörfern umzusetzen. Das Projekt war so erfolgreich, dass der Chef von UNICEF-Global bei einem Besuch auf eine Ausweitung drängte. Die Mediziner gründeten daraufhin 1979 HANDS und dehnten ihre Arbeit auf 24 Dörfer aus. Heute ist die Organisation in insgesamt 24 Distrikten im Süden Pakistans aktiv und erreicht ca. 16.000 Dörfer mit mehr als 13 Millionen Einwohnern.

Das Gesundheitsprojekt wurde zu einem integrativen Entwicklungsmodell weiterentwickelt und deckt drei Bereiche ab: Gesundheit, Bildung und Armutsbekämpfung. Mit insgesamt 1.200 Mitarbeitern gehört HANDS mittlerweile zu den größten NGOs in den südlichen Provinzen Pakistans. „70% unserer Mitarbeiter sind Frauen, denn die Müttersterblichkeitsrate ist sehr hoch und die Bildungsmöglichkeiten für junge Mädchen sind oft unzureichend. Also sind unsere Projekte auf diese Probleme spezialisiert, was bedeutet, dass hauptsächlich Mitarbeiterinnen benötigt werden“, erklärt Dr. Tanveer. Mit drei Frauen im siebenköpfigen Management ist HANDS eine positive Ausnahme in Pakistan.

So schlecht wie sein Image im Westen sei Pakistan jedoch nicht, ergänzt Dr. Tanveer: „Laut nationalem Recht müssen mindestens 33% der Abgeordneten im Parlament weiblich sein. Dies wurde auch umgesetzt und darüber hinaus ist Pakistan das einzige muslimische Land, in dem eine Frau zweimal zur Premierministerin gewählt wurde.“ Die langjährige Arbeit in den Provinzen Sindh und Belutschistan half HANDS die bisher härteste Bewährungsprobe zu bestehen. 20% Pakistans versanken im August 2010 im Hochwasser, das die Ernte zerstörte und 20 Millionen Menschen ohne Obdach hinterließ. „Durch die vielen Binnenflüchtlinge wurde die ländliche Armut plötzlich auch in den Städten sichtbar. Das war ein Schock für viele Pakistaner“, erzählt Dr. Tanveer bei seinem Besuch im Frankfurter medico- Büro.

Die lokale Verankerung und ein Netz von Regionalbüros ermöglichten es HANDS schnell auf die steigenden Fluten zu reagieren. In abgelegenen Landstrichen waren sie die Ersten und Einzigen. Die Armee kam erst als die Flut schon da war. Während das Wasser langsam stieg, wa-ren alle verfügbaren Autos, Mitarbeiter und ca. 10.000 Freiwillige vier Tage und Nächte im Einsatz. Zusätzlich mietete HANDS zwei Boote und Traktoren mit großen Anhängern um die Menschen aus den gefährdeten Zonen an sichere Orte zu bringen. Mehr als 80.000 Menschen wurden evakuiert.

Die großen internationalen Organisationen waren dort – „weit draußen auf dem Land" – nicht zu finden. Da die ausländischen Gelder nur schleppend bei den lokalen Behörden ankommen, hat der Staat auf dieser Ebene nichts zu verteilen. Es waren die pakistanische Zivilgesellschaft, Nachbarschaftshilfe und die Improvisationsfähigkeit der Betroffenen die Schlimmeres verhinderten. Wenn doch einmal Laster den Weg in die abgelegenen Regionen fanden, wurden die Hilfsgüter meist hastig am Straßenrand abgeladen. Dabei wurden rund 2.500 Flüchtlinge in Kashmore einfach übersehen. Sie hatten sich mit ihrem Vieh auf einen Damm nahe dem Guddu-Sperrwerk gerettet. Dieser Damm ist von der Hauptstraße nicht einsehbar, da er hinter einer eingemauerten Siedlung der Angestellten des örtlichen Kraftwerks direkt am Fluss liegt. Von den Hilfsgütern hatten sie so nie etwas abbekommen bis Einwohner der Kraftwerkssiedlung lokale HANDSMitarbeiter informierten. Nach der anfänglichen Versorgung durch ein mobiles medizinisches Team, konnte HANDS mit den Spendengeldern von medico international hier ein Nothilfe-Camp errichten. Insgesamt wurden mit den medico- Mitteln fünf Flüchtlingslager im Norden der Provinz Sindh sowie vier weitere im Süden in der Region um die Stadt Thatta für drei Monate finanziert.

In jedem Camp wurden Nahrungsmittel und Trinkwasserversorgung, Latrinen, Zelte, medizinische Versorgung und Unterricht für die Kinder organisiert. Damit die Bauern ihr gerettetes Vieh nicht verlieren, wurden Futter beschafft und die Tiere geimpft. Auch Hilfen für die Rückkehr der Flüchtlinge waren enthalten. Die rund 54.000 Menschen in diesen Camps mussten aber auch selbst mit anpacken. HANDS stärkt die Eigeninitiative der Flutopfer. Nur so lässt sich vermeiden, dass sie zu passiven Hilfsempfängern degradiert werden und sich ihre Ohnmacht noch verlängert. „In jedem Nothilfe- Camp bilden die Betroffenen ein Komitee das uns als Ansprechpartner dient und die Registrierung der Bewohner, das Errichten der Latrinen, Kochen, Sauberkeit etc. selbst organisiert“, berichtet Dr. Shaista. Gemeinsam mit ihren beiden Kolleginnen sorgt die Ärztin für medizinische Versorgung und Gesundheitsaufklärung in den Camps von HANDS.

Mittlerweile sind die Fluten abgeflossen. Zwar haben sich im Süden zum Teil Seen gebildet, doch viele Binnenflüchtlinge kehrten zurück in ihre Dörfer oder leben nahe ihrer zerstörten Häuser. Die meisten haben in der Flut ihr Saatgut, ihr Vieh und ihre Werkzeuge verloren. „Gerade die einfachen Menschen sind jedoch darauf angewiesen, diesen Monat auszusäen, sonst wird es keine Ernte für die nächsten sechs Monate geben. Die Abhängigkeit von Nahrungsmittelhilfe würde sich verlängern“, sagt Dr. Tanveer. Zurzeit erarbeiten medico und HANDS gemeinsam mittel- und langfristige Programme. Die Rehabilitation in der Provinz Sindh bedarf einer langfristigen Unterstützung. Neben dem Wiederaufbau von Infrastruktur und Bewässerungssystemen, müssen auch politische Reformen angestoßen werden, um die Menschen nicht einfach wieder in ihr altes Elend zurückzuschicken.

Vielerorts herrschen auf dem Land noch feudalistische Strukturen und sklavenähnliche Arbeitsbedingungen die den verarmten Landarbeitern nicht viel zu bieten haben außer extremer Ausbeutung. Dr. Tanveer ist skeptisch: „Natürlich unterstützen wir die politischen Forderungen der Landlosen und setzen uns für eine Landreform ein. Aber das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Ein Großteil der Abgeordneten und Minister gehört selbst zu den Großgrundbesitzern und hat kein Interesse an einer Umverteilung.“ Die Impulse für einen Veränderungsprozess müssen deshalb von unten kommen. Doch Dr. Tanveer glaubt fest daran, dass für viele Betroffene der Neuanfang auch eine Chance ist, die Armut zu überwinden. „Sie haben von der Regierung eine Rückkehrhilfe von 20.000 Rupi (ca. 170 Euro) pro Person erhalten. Das ist viel Geld und eine gute Basis. Wenn sie von den zivilgesellschaftlichen Organisationen Unterstützung in Bezug auf Landwirtschaft, Behausung, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur bekommen würden, wäre vieles möglich.“

Unsere pakistanische Partnerorganisation wird diese Wiederaufbauhilfe in Absprache mit den gemeindebasierten Strukturen leisten. Selbstorganisierung spielt im Ansatz von HANDS die zentrale Rolle. „Selbsthilfeorganisationen auf lokaler Ebene sind in der Gesellschaft Pakistans ein Teil der Kultur. Wenn jemand stirbt, sammelt die Gemeinde Geld für die Beerdigung. Wenn jemand heiratet, unterstützen alle die Verwirklichung der Zeremonie. Dieser Teil der Hilfe existierte also schon früher. Aber nun transformieren wir diese Netze, indem wir ihnen ein Konzept geben, mit dem sie in ihren eigenen Dörfern den Entwicklungsprozess initiieren, durchführen und beobachten können. Wir bieten dafür Trainings an und stellen dann die nötigen Instrumente und Materialien bereit“, erklärt der HANDS-Geschäftsführer. Er hat auch schon alles genau ausgerechnet. Der Wiederaufbau eines durchschnittlichen Dorfes mit 50 Haushalten, ca. 350 Personen, würde rund 84.000 Euro kosten. Für umgerechnet 1.700 Euro bekäme jede Familie ein kleines Haus mit Veranda und Küche, Wasser- und Sanitäreinrichtungen, gemeinsame Dorfinfrastruktur, eine Anschubfinanzierung für Landwirtschaft oder die Eröffnung eines kleinen Betriebes und Bildungsprogramme sowie Gesundheitsversorgung im ersten Jahr.

Die Baupläne und Modellhäuser sind bereits erstellt. Auf seinem Computer macht Dr. Tanveer mit uns einen virtuellen Rundgang durch die digitale 3D-Mustersiedlung. Wir haben ihm unsere weitere Unterstützung zugesagt, damit diese bald Wirklichkeit wird.

Projektstichwort

medico international hat in der akuten Notphase 1.146.964 Euro für die pakistanische Gesundheitsorganisation HANDS (Health and Nutrition Development Society) bewilligt. Die langfristige Kooperation für den Wiederaufbau ist vereinbart. Das Stichwort dafür lautet: Pakistan.

Veröffentlicht am 29. November 2010

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