Die endgültige Vertreibung aus dem Paradies

Über den Verlust der Sinne

FUTURUM II

Es geschah am 28. Dezember 1930. Die Kunst nimmt sich der Küche an & modelliert die Sinne politisch. In der Gazetta del Popolo in Turin erscheint das Manifest der futuristischen Gastronomie:

»Die futuristische Revolution der Kochkunst setzt sich das hohe, edle und gemeinnützige Ziel, die Ernährung unserer Rasse radikal zu ändern, um diese zu stärken, zu dynamisieren und zu spiritualisieren, und zwar durch ganz neue Speisen, bei denen Erfahrung, Intelligenz und Phantasie so wichtig sein werden wie bei den bisherigen Quantität, Einfallslosigkeit, Wiederholung und Preis. Diese unsere futuristische Küche, wie der Motor eines Wasserflugzeuges auf hohe Geschwindigkeiten eingestellt, wird manchen zitternden PASSATISTEN verrückt und gefährlich vorkommen: sie will jedoch endlich eine Übereinstimmung zwischen dem Gaumen der Menschen und ihrem Leben heute und morgen schaffen.«

Übereinstimmung! – Marinetti, Futurist und glühender Anhänger des italienischen Faschismus wie der Moderne, erklärt mit diesen Worten der Pasta asciutta und ihren Anhängern, den PASSATISTEN, und damit der sinnlichsten Mahlzeit des alten Italien den Krieg. Revolution durch neue Ernährung! Das Ende aller Spaghetti, Makkaroni und Penne bedeutete ihm gleichzeitig das Ende der Unterwerfung des Körpers unter die Schwere, die Befreiung des geliebten Vaterlandes von der Abhängigkeit teurer Getreideimporte zur Produktion des ihm verhaßten italienischen Nationalgerichts.

Die futuristische Revolution der Ernährung berücksichtigte auf ihre Weise den Nährwert und die Bedürfnisse. Die Ökonomie wird die Modalitäten des Essens und Trinkens in der Perspektive der Rationalisierung verwalten. Marinetti wollte mit der Erneuerung des italienischen Ernährungssystems »der Rasse neue heroische und dynamische Kräfte einflößen, von der alten Besessenheit durch Volumen und Gewicht befreien. Die Pasta asciutta, so angenehm sie auch für den Gaumen sein mag, macht schwer, täuscht über ihren Nährwert, ist skeptisch, langsam und stimmt pessimistisch«.

Volksküche! Für Marinetti stand fest: Geschmack und Genuß sind nicht mehr Sache des Individuums, das mittels subjektiver, lustbezogener Urteile zu unterscheiden vermag, was gut ist und was nicht. Das Gute ist eine nationale Entscheidung, die die Interessen der Gruppe, des Ganzen berücksichtigt: Volksküche.

In Marinettis Küche werden Rezepte zu »Formeln«. Der alimentäre Jubel neuen Typs sieht »die Abschaffung von Volumen und Gewicht« als Kriterium für die Auffassung und Bewertung von Nahrung. Die Abschaffung der traditionellen Zusammenstellungen durch das Ausprobieren aller möglichen neuen, scheinbar absurden Zusammenstellungen. Die Abschaffung der mediokren Alltäglichkeiten bei den Gaumenfreuden. Der neue Gastronom forderte damals den Staat auf, eine aktive Rolle bei der Verteilung von Ersatzmitteln zu spielen, die in Pillen- und Pulverform für die notwendige nutritive Äquilibrierung sorgen sollte. Das war zu Zeiten des Faschismus. Dem Geburtsort aller synthetischen Ersatzstoffe.

Menschenfutter. 60 Jahre nach Marinettis glühendem Plädoyer für eine Küche der Spurenelemente, hat sich heute eine ganze Industrie dieser Aufgabe verschrieben und macht dabei Riesengewinne. Rund 15 000 Tonnen industrieller Geschmacksstoffe, verteilt in 15 Millionen Tonnen Lebensmitteln. Ob Maggis »5-Minuten-Terrine« oder Lacroixs »Gourmet-Bouillon«, Müllers »Knusper Joghurt Schoko Müsli« oder Pfannis »Bauernfrühstück« – alles pures Aroma. Essen und Genuß verkürzen sich auf chemische Formeln. War Essenszubereitung einst noch ein jeweils kleiner geschlossener Produkduk tionsvorgang – das Ernten, Putzen, Schneiden, Würzen, so ist heute das Produkt retortenfertig und muß nur noch in den Mund gesteckt werden. Die Sinnesindustrie produziert immer mehr Waren in immer kürzeren Zeiträumen, und die Menschen konsumieren diesen anschwellenden Warenstrom in entsprechend zunehmender Schnelligkeit und Dichte – an jeglichem Geschmack vorbei.

Nahrungsdesign! Wo so konzentriert produziert wird, kann nichts anderes herauskommen als Konzentrat. Hühnerkonzentrat, Rinderkonzentrat, Schokokonzentrat. Gespeichert ist dies alles in den elektronischen Gehirnen der Abfüllanlagen, in denen Huhn, Rind und Schokolade nur noch als Aromarezeptur vorkommen. Hin- und herprozessiert in Hunderten von Schläuchen, automatisch einander zugeführt. Die Assoziation des menschlichen Verdauungstraktes drängt sich auf, auch wenn das Endprodukt dem Namen nach immer noch Geruch und Genuß längst verlorener Paradiese verheißt.

Mit Gottes Schöpfung und menschlichen Sinnen hat das Endprodukt und haben die in ihm enthaltenen »naturidentischen« Geschmacksstoffe aber nicht mehr viel zu tun. So lassen sich aus einem Hühnchen beispielsweise 600 Würzstoffe, ob aus Haut, Fleisch oder Knochen, extrahieren. Der ganze Bluff der Geschmacksbausteine, die chemisch synthetisiert hergestellt werden, liegt darin, daß solcherlei Stoffe auch in der Natur vorkommen – irgendwo.

Noch streiten die Experten über etwaige Gesundheitsschäden wie Krebsgefahr und unkontrollierbare Zunahmen von Allergien bei Konsumenten – fest steht aber schon heute: selbst wenn die Geschmackszusätze als solche unschädlich sein sollten, mit den erzeugten Sinnestäuschungen im Gaumen wird der Körper regelrecht betrogen.

Spürt beispielsweise ein Mensch Rindergeschmack auf der Zunge, kündigt das körpereigene Informationssystem die baldige Ankunft von Rindfleisch im Verdauungstrakt an. Daraufhin werden die Magensäfte aktiviert. Wenn dann kein Rind kommt, läuft der Apparat leer. Die Folge: Ständiger Hunger bei den Betroffenen, Verlangen nach mehr Essen – vor allem aber zuviel Magensäure. Gastritis, Übergewicht, Herzinfarkt. Folgen der allseitig versprochenen Geschmackssensationen. Der Genuß bleibt dabei auf der Strecke. Wo aber endgültig die Lust am Schmecken und die Notwendigkeit zur Ernährung auseinanderfallen, entstehen aus solcher Differenz die dazu passenden Krankheiten: Anorexie und Bulimie. Als immer neue Leiden zur Stimulierung eines unendlichen psychotherapeutischen Bedarfs.

Der eingerichtete Modus, die Welt durch andauernde Sinnestäuschung unentwegt falsch zu erfassen, macht die qualitative Funktion der Sinnesorgane überflüssig: sie registrieren als richtige Speise, was ihnen falsch geliefert wird. Die Glückseligkeit des Genusses gründet nun auf Aminosäuren und Ascorbinstoffen, der Diät synthetischer Grundstoffe fürs chemisch reine Körperlabor.

Diese Simulation geht totaler Perfektion entgegen: Die sinnenarme Reizlosigkeit der Grundstoffe wird durch die Beigabe künstlicher Reizüberflutung verdeckt: In Marinettis inszenierten futuristischen Mahlzeiten hatte die Kunst der Speisenzusammenstellung die Funktion, das Verlangen nach Nahrungsaufnahme vorzubereiten und zu wecken. Dabei sollten alle Sinne stimuliert wer- den. Das Auge, der Tastsinn, der Geruchssinn – jeweils mit Hilfe künstlicher Anregung. Während der Mahlzeiten wurden daher durch Ventilatoren kombinierte Essenzen zerstäubt, das Gehör durch musikalische Darbietungen und Industriegeräusche aus der Küche verwirrt. Der Geschmack angeregt durch »die Kreation von simultanen und veränderlichen Bissen, die zehn, zwanzig verschiedene Geschmacksmomente enthalten und in wenigen Augenblicken die Steigerung ins Ungeheure haben. Ein solcher Bissen wird einen ganzen Lebensabschnitt zusammenfassen können, die Entwicklung einer Liebesleidenschaft oder eine ganze Reise in den Fernsten Orient.«

Geschmack ist Widerstand! In Neapel ging dann das Volk gegen diese Vergewaltigung der Küche auf die Straße, um für die verfolgte Pasta asciutta zu demonstrieren. In Turin hielten die berühmtesten Köche einen Kongreß ab, auf dem die jeweiligen Vorzüge der Tagliatelle und der in Eau de Cologne gekochten Salami verglichen wurden. Geköchelt wurde mit Lust, gedampft und viel gebrodelt. In unseren Zeiten ist die unwiederrufliche Vernichtung von Geschmack und Genuß höchstens ein Thema beim Straßburger Aromakomitee. Von Demonstrationen hat man nichts vernommen. Höchstens von den steigenden Belegungszahlen der Krankenhäuser und Rehabilitationszentren und Aromatherapien für jene, die längst um ihren Geschmack betrogen worden sind. Der Widerstand gegen den Faschismus der Küche ist aber immer & in erster Linie eine Sache des guten Geschmacks.

Hans Branscheidt & Christoph Goldmann


Chromosom getreu kopiert

»Dasein als Zellverkehr ... in Einzelzellen? Auch du, für diesen Zeitfilm chromosom- Getreu kopiert, steckst tief in deiner Zelle. Man hat nicht erst gefragt, ob du das willst. Geboren bist du wie du sterben wirst: Durch Zufall, der sich nun mit Liebe tarnt, Mit List, Begehren ... Neuigkeiten ... Sperma. Und manchmal Arien durch den hohlen Zahn Gepfiffen in den Opernsaal der Nacht.«
(Durs Grünbein, Schädelbasislektion)

Veröffentlicht am 01. April 1999

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