Der bewaffnete Konflikt im Norden Malis treibt Hunderttausende in die Flucht

Interview mit Alassane Dicko (AME)

Nach Informationen des medico-Partners in Mali, der Flüchtlingsorganisation AME (Association Malienne des Expulsés „Assoziation Malischer Abgeschobener“), registrierte der UNHCR seit dem 15. Oktober 2012 allein in der Stadt Mopti rund 35 000 Flüchtlinge.

Sie befürchten, dass die Stadt unter die Kontrolle von islamistischen Gruppen geraten könne. Im weiter nördlich gelegenen Timbuktu, das sich unter der Kontrolle der islamistischen Gruppe „Ansar Dine“ befindet, sind laut der AME 70% der Bevölkerung nach schweren Menschenrechtsverletzungen geflohen.

Der Konflikt hat auch gravierende Auswirkungen auf die Arbeit der AME. Judith Kopp von Pro Asyl sprach mit dem Sprecher der Organisation, Alassane Dicko, über die aktuelle Situation der Flüchtlinge:

Alassane Dicko, welches sind die von der Krise im Norden Malis betroffenen Gruppen?

Es gibt zunächst einmal die Gruppe der Binnenflüchtlinge, die aus dem Norden Malis vertrieben wurde in die südlichen Regionen des Landes. Das ist die größte Flüchtlingsgruppe mit 200.000 Menschen. Aber weitere Tausende Menschen sind nach Mauretanien, Algerien, Niger und Burkina Faso geflohen. Die malischen Flüchtlinge in Niger und Algerien gehören zur besonders verwundbaren Gruppe der „migrants errants“ („herum irrende Migranten“).

Wer sind diese „migrants errants“, wie ihr diese bestimmte Gruppe von Flüchtlingen nennt?

Es handelt sich dabei hauptsächlich um Arbeitsmigranten, zum Teil aus Subsahara-Staaten, die im Norden Afrikas arbeiteten und regelmäßig die malisch-algerische Grenze überquerten. Die Grenzregion ist eine wichtige Transitzone, die den Übergang zwischen dem Sahel und der Sahara bildet. Hier haben sich Migranten getroffen und organisiert, darunter auch zahlreiche an der Grenze zurückgewiesene Migranten und Flüchtlinge.

Da die malisch-algerische Grenze jetzt geschlossen ist, suchen diese Menschen nun den gefährlichen Weg über Marokko und/oder Mauretanien. Genauso geht es den rund 25 000 nordmalischen Flüchtlingen, die unmittelbar nach Ausbruch der Kämpfe nach Algerien und Niger geflohen sind, bevor die Grenzen im März 2012 geschlossen wurden. Sie alle sind in einer Situation der „erzwungenen Migration“. In den Ländern, die ihnen eigentlich Schutz gewähren sollten, sind sie äußerst gefährdet.

In welcher Lage befinden sich die „migrants errants“?

Häufig geraten die „migrants errants“ in ein „Ping-Pong“-Spiel von Zurückweisungen zwischen Algerien und Marokko, da sie mit Menschenhändlern oder Schleusern versuchen, die Grenze zu überqueren – ein sehr gefährliches Unterfangen, denn das Gebiet ist vermint. Einige Menschen stranden aber auch in Mauretanien. Wir haben 400 Flüchtlinge in Nouadhibou getroffen. Bisher bekommen sie keine humanitäre Hilfe, sie befinden sich also in einer sehr unsicheren und verletzlichen Situation. Unseren letzten Informationen zufolge versuchen sie nun, weiter auf die Kanarischen Inseln zu fliehen.

In Niger sind die „migrant errants“ von Menschenhandel bedroht. Sie werden erpresst und können nur gegen Geld in Richtung Libyen oder Marokko weiter reisen. Wir planen gerade eine Recherche-Reise nach Agadez, um mehr über die Situation der malischen Flüchtlinge in den beiden Lagern im Niger zu erfahren. Dabei wollen wir auch mehr über die Routen der „migrants errants“ in Erfahrung bringen. Allgemein berichten diese von einer Verstärkung der Sicherheitssysteme, Kontrollen auf allen Ebenen und zahlreichen Festnahmen in den Nachbarländern Malis.

Siehst du einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Flüchtlingskrise und und dem Grenzregime der EU?

Die direkte Konsequenz der EU-Politik ist die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen in Algerien, Marokko und Mauretanien mit dem Ziel, Migrationsbewegungen in den Herkunftsregionen besser zu steuern. Insbesondere Mauretanien ist heute eine sehr gute Schülerin der europäischen Migrationspolitik. Das „System Frontex“ wurde immer weiter verstärkt. In Mauretanien ist außerdem das spanische Militär sehr aktiv. Die Mobilitätsblockade zwischen dem Süden und dem Norden wird durch die bewaffneten Konfliktparteien im Norden Malis weiter verschärft. Das führt wiederum zur Verstärkung des europäischen Migrationsmanagements, die Sahara wird also vom südlichen Teil Westafrikas getrennt.

Welches sind die jüngsten Informationen der AME zur Situation der Flüchtlinge in verschiedenen Regionen?

Wir haben im März/April 2012 eine Recherche-Reise nach Fassala (Mauretanien) gemacht, wo UNHCR ein Aufnahme- und Transitlager unterhält. Außerdem haben wir die Unterbringung der Flüchtlinge im neuen Lager in Mberre weiter im Landesinneren verfolgt. Rund 30.000 Menschen leben dort unter sehr prekären Bedingungen. Das Lager liegt mitten in der Wüste und es gibt Schwierigkeiten mit der Verpflegung. Auch die gesundheitlichen Probleme sind groß, es gibt zu wenig Nahrung für die Kinder. Aktuell versucht UNHCR, die Bedingungen zu verbessern.

Was Algerien betrifft, ist es schwierig Aussagen zu treffen. Die algerische Regierung gewährt nur arabischen humanitären Organisationen Zutritt, um Hilfe zu leisten. Alle anderen erhalten keine Erlaubnis dafür.

Wie wird die Arbeit der AME durch den gewalttätigen Konflikt in Mali beeinflusst?

Wir kümmern uns um die Binnenflüchtlinge, von denen ein großer Teil in Bamako Zuflucht sucht. Wir leisten medizinische und soziale Unterstützung und humanitäre Hilfe. Außerdem intensivieren wir unsere Recherchen um mehr über die Situation der „migrants errants“ zu erfahren. Es gibt zurzeit sehr viele Zurückweisungen von Mauretanien nach Mali, die unser Büro in Nioro de Sahel aufzufangen versucht.

Welche Informationen hast du über die Übergriffe der islamistischen Gruppen auf die Bevölkerung?

Im Lager Fassala wurde häufig von Gelderpressungen in der Region um Timbuktu berichtet. Die Vertreibungen der lokalen Bevölkerung zu Hunderten haben im Januar nach den ersten Autonomieerklärungen der MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad) und den Zusammenstößen mit der malischen Armee begonnen. Wir haben seither Berichte von Vergewaltigungen, von Frauen, die geschlagen wurden und schwere Verletzungen davon getragen haben. Sie müssen sich verschleiern und bereits Mädchen mit zwölf Jahren werden zwangsverheiratet. Zahlreiche Frauen sind allein mit ihren Kindern geflüchtet. Ihre Männer sind vermutlich auf der Flucht in die Nachbarländer. Wir wissen, dass Männer gezwungen wurden, mit den islamistischen Gruppen zu kämpfen oder für sie zu arbeiten. Das betrifft übrigens auch viele jugendliche Arbeitsmigranten, die aus Libyen abgeschoben wurden. Die jungen Frauen müssen in Haushalten arbeiten. Viele Flüchtlinge sind traumatisiert.

Was ist die Position der AME in Bezug auf eine internationale militärische Intervention in Mali?

Wir sind klar für eine internationale Unterstützung, sowohl humanitärer als auch militärischer Art. Die Bevölkerung befürchtet, dass die Islamisten in einer nächsten Etappe bis nach Mopti vordringen. Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, dem Problem Aufmerksamkeit zu schenken, denn die djihadistischen Gruppen in Mali sind eine reale Gefahr für die gesamte Sahel-Sahara-Region.

Welches sind die wichtigsten Forderungen der AME?

Wir fordern UNHCR dazu auf, sich stärker um die malischen Flüchtlinge in den unterschiedlichen Ländern zu kümmern, insbesondere in Algerien. Wir fordern von der internationalen Gemeinschaft, die gefährliche Situation aller Flüchtlinge zu beachten. Es ist wichtig, dass alle Flüchtlinge und Vertriebenen medizinisch-soziale Hilfe erhalten.

Die Organisation der Ausgewiesenen Malis (AME) wurde 1996 von Maliern gegründet, die man aus Frankreich und Angola abgeschoben hatte. Heute kümmert sich die AME vorrangig um abgeschobene Migranten und Flüchtlinge aus Europa und dem Maghreb. Seit Anfang 2012 wird die Arbeit der Selbsthilfeorganisation gravierend durch den Konflikt im Norden Malis beeinflusst.

Veröffentlicht am 07. November 2012

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