Shrinking Spaces

Demokratie unter Druck

Weltweit sind die Räume für eine emanzipatorische Politik geschrumpft. Was lässt sich dem identitären Populismus und der wachsenden Repression entgegensetzen?

Von Marcus Balzereit

Just in dem Moment, in dem in Hamburg gewaltige Anstrengungen unternommen werden, um das G20 Treffen im Sommer 2017 vor seinen Kritikerinnen und Kritikern zu schützen, kommt ein wichtiger Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu einem vorläufigen Ende: Der nächtliche Polizeieinsatz in der Diaz-Schule im Rahmen der Proteste gegen den G20 Gipfel von 2001 in Genua müsse „als Folter eingestuft werden“, so die Straßburger Richter. Geklagt wurde gegen italienische Polizisten, die mit ihrem Angriff der vordem starken globalisierungskritischen Bewegung einen nachhaltig schweren Schlag versetzten. Damit geschah das, was heute unter der Überschrift „shrinking spaces“ diskutiert wird: die machtvolle Verunmöglichung zivilgesellschaftlichen Engagements. Jetzt, 16 Jahre später, erwirkten sechs Klägerinnen und Klägern eine Entschädigung von jeweils 45.000 Euro. Des Weiteren sollen Folter und andere Misshandlungen, die gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, auch in Italien gesetzlich verboten werden. Zudem sollen die Ordnungskräfte durch Schulungen lernen, wie das geht: Menschenrechte einhalten.

„Shrinking spaces“ beschreibt den weltweiten Kampf um soziale Räume, in denen die globale Frage „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“ kollektiv verhandelt und praktisch angegangen werden kann. Dem Eingangsbeispiel zum Trotz: Die Möglichkeiten einer emanzipatorischen Politik von unten sind in den vergangenen Monaten nicht größer, sondern, von oben dirigiert, massiv eingeengt worden. Und es sind auch nicht mehr nur einige wenige autoritäre Regime, die gegen NGOs, Menschenrechtsverteidigern und andere Akteure der Zivilgesellschaft vorgehen. Die Weltallianz für Bürgerbeteiligung Civicus hielt 2016 fest, dass weltweit sechs von sieben Personen grundlegende Menschenrechte wie Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bestritten werden. In vier von fünf Ländern steht der Raum für eine emanzipatorische Politik demnach nicht zur Verfügung.

Immer mehr Anti-NGO-Gesetze

Neu an der aktuellen Situation ist, dass in 60 Ländern in den letzten Jahren zudem explizite Anti-NGO Gesetze auf den Weg gebracht wurden. Im Namen staatlicher Gewährleistung von „Sicherheit und Sittlichkeit“ wird die Organisationsfreiheit von Nichtregierungsorganisationen infrage gestellt. Mit den Mitteln des Rechts sollen heimische Organisationen von den internationalen Netzwerken, die gegen diese Ziele opponieren, und auch von ausländischen Geldern abgeschnitten werden. Die Gesetze sollen einerseits dazu beitragen, den reibungslosen Ablauf staatlicher und ökonomischer Vorgänge zu garantieren. Andererseits geht es auch um die „Normalisierung“ der individuellen Lebensführung der jeweiligen Staatsbürgerinnen und -bürger. Damit wird nicht nur der Raum für oppositionelle Politik, sondern auch für alternative Lebensweisen sowie für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter beschnitten.

Nachdem Nichtregierungsorganisationen in Russland sich bereits seit vier Jahren als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen, wenn sie Geld aus dem Ausland bekommen, wurden nun auch in anderen Ländern ähnliche Gesetze auf den Weg gebracht. In Israel etwa verpflichtet ein Gesetz seit Juli 2016 Menschenrechtsorganisationen dazu, in allen Gesprächen mit Staatsbediensteten, über die Medien sowie bei der Teilnahme an Sitzungen von Parlamentsausschüssen offenzulegen, ob sie aus dem Ausland finanziert werden. Bei Nichtbeachtung drohen Bußgelder. Ursprünglich war auch daran gedacht, alle NGOs, ähnlich wie in Russland, als ausländische Agenten einzustufen, dieser Vorschlag wurde aber letztlich abgelehnt. In Ägypten ist NGOs seit November 2016 fast jegliche Arbeit verboten. Sie sind gezwungen ihre Aktivitäten am „staatlichen Plan und den Entwicklungserfordernissen“ auszurichten, auch Meinungsumfragen dürfen nur noch mit staatlicher Erlaubnis durchgeführt werden.

Schikanen, Hetze, Zensur

Die NGO-Gesetze selbst stellen dabei nur die offenkundigste Form staatlicher Repression gegen eine emanzipatorische Politik dar. Das Spektrum reicht von bürokratischen Auflagen über Hetzkampagnen und Zensur bis hin zu offener Unterdrückung durch Sicherheitskräfte. Und verfolgt werden nicht nur Akteure, die die Gewährleistung der Bürger- und Freiheitsrechte einfordern, sondern vermehrt auch solche, die für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte eintreten. Wer in Honduras für Landrechte streitet, sich in Äthiopien gegen sozial und ökologisch unverträgliche Rohstoffextraktionsprojekte engagiert, muss mit Gefahren für Leib und Leben rechnen.

Ein angemessener Begriff von Zivilgesellschaft geht demnach nicht in der Vorstellung auf, verschiedene Kräfte aus Staat, Markt, bürgerlicher Öffentlichkeit und bürgerlicher Privatheit müssten lediglich in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander agieren. Eine solche Annahme läuft Gefahr, sich die Welt minus Kapitalismus und minus Staatsraison als eigentlich harmonisch auszumalen. Unter dem Stichwort „shrinking spaces“ müssen sowohl Fragen der Gewährleistung von Menschenrechten als auch der Demokratie gestellt werden – als auch solche nach dem aktuellen Verhältnis von Freiheitsrechten und Staatsgewalt. Und nachgedacht werden muss auch über die soziale Frage, also über die nach wie vor sehr unterschiedlichen Möglichkeiten am weltweiten Reichtum teilzuhaben.

Globale Räume

Ein angemessener Begriff von „Zivilgesellschaft“ und von „shrinking spaces“ muss zudem über die Ebene der Nationalstaaten hinausgehen und die ganze Welt, einschließlich ihrer gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen, auch der Staaten untereinander, in den Blick nehmen. Es gibt widerstreitende Interessen, nicht nur zwischen elitären auf den Eigennutz bedachten Staatenlenkern und ihren ausgebeuteten und zu normalisierenden Untertanen, sondern auch solche zwischen sozialen Akteuren. Und es gibt auch Interessensgegensätze zwischen den NGOs selbst. So werden mancherorts die Räume für regierungstreue NGOs eher größer. Dies gilt vor allem im Zusammenhang mit den erweiterten Möglichkeiten für unternehmerisches Handeln im Zuge der Globalisierung und des Freihandels. Während die staatlich gewährte „Raumbeimessung“ hier Freiheiten schafft und steuert, erzwingt sie dort entsprechende Selbstdisziplinierung und Anpassung. Im Ergebnis bleibt ein schwieriger Balanceakt für alle Organisationen zwischen Selbst-Ausschluss vom Geschehen vor Ort und von den Kooperationspartnern auf der einen Seite und der Unterwerfung unter die staatliche Regulierung auf der anderen.

Die Textilkampagne von medico international versucht der Komplexität des Handelns in „shrinking spaces“ gerecht zu werden. Der Raum, für den hier gekämpft wird, ist einerseits ein ganz konkreter: Ein eigenes Haus für die gewerkschaftliche Organisierung der Näherinnen in der Innenstadt von Karatschi, für bessere Arbeitsbedingungen, eine angemessene Arbeitssicherheit und ausreichenden Arbeitslohn. Gleichzeitig wird durch die Klage gegen Kik der Raum auch nach Deutschland, in die Europäische Union hinein, geöffnet. Vier Klägerinnen und Kläger fordern stellvertretend für alle Beteiligten des Fabrikbrandes eine Entschädigung. Auch wenn der Prozessausgang noch ungewiss ist: ein positives Urteil würde einen Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen schaffen. Deutsche Unternehmen würden endlich auch im Ausland auf Arbeitssicherheit und Anerkennung des Arbeitsrechts verpflichtet werden und könnten sich so ihrer Verantwortung, auch für die Gestaltung angemessener Fabrik-Räume weltweit, nicht mehr entziehen.

Veröffentlicht am 10. Mai 2017

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