Ohne Hoffnung ist nichts

Demokratie in Sri Lanka

Das Menschrecht als Kern eines politischen Programms: In Sri Lanka hat ein Bündnis der Vielen einen Weg jenseits von Gewalt und Unterdrückung eröffnet.

Meine erste Reise auf die südasiatische Tropeninsel stand im Zeichen des Tsunami des Jahres 2004, einer der größten Naturkatastrophen der jüngeren Geschichte. Schon in der ersten Begegnung mit den medico-Partnern wurde klar, dass es in Sri Lanka nicht nur um die Verheerungen des Seebebens gehen würde. Die Aktivistinnen der tamilischen Hilfsorganisation SEED erklärten uns, dass sie die mit medico-Unterstützung errichteten Notunterkünfte für Überlebende des Tsunami, aber auch für Vertriebene des Bürgerkriegs öffnen würden. Das war der Einstieg in eine zehn Jahre fortdauernde, lange Zeit aussichtslos erscheinende politische Arbeit. 2015 nahm sie völlig unerwartet einen glücklichen Ausgang. Diese Geschichte will ich jetzt erzählen.

Eine postkoloniale Tragödie

Ökonomisch hat Sri Lanka nur wenig Gewicht. Die Insel verfügt über keine nennenswerten Rohstoffe und beherbergt nur knapp über 20 Millionen Menschen. In politischer Hinsicht war das etwas anders: die „Demokratische Sozialistische Republik“ war prominente Mitbegründerin der Blockfreien-Bewegung und stand für einen Dritten Weg jenseits der West-Ost-Konfrontation. Die Realität vor Ort sah allerdings anders aus. Das mit der Unabhängigkeit 1948 verbundene Versprechen der Befreiung aus kolonialer Herrschaft verlor schon im ersten Jahrzehnt jede Glaubwürdigkeit. Die multiethnische und multireligiöse, in ihrer Mehrheit bitterarme Gesellschaft trieb schon früh in gleich mehrere Konflikte.

Die ersten Verlierer waren die „Plantagen-Tamilen“: Menschen aus Indien, die im Gegensatz zu den seit Jahrhunderten auf der Insel ansässigen Tamilen des Nordens und Ostens erst im 19. Jahrhundert von der britischen Kolonialmacht zur Sklavenarbeit auf die Hochland-Teeplantagen Sri Lankas verschleppt worden waren. Bis heute sind sie ohne jede Rechte, nahmen damit aber das Schicksal der anderen Minderheiten vorweg. Gewaltsam entlud sich das anwachsende Konfliktpotenzial zuerst im von der singhalesischbuddhistischen Mehrheit bewohnten Süden der Insel. 1971 wurde ein Aufstand der gut gebildeten, beruflich aber perspektivlosen Jugend niedergeschlagen:

50.000 Tote. Ein zweiter Aufstand in den „Blutjahren“ 1987-1989 kostete 35.000 Menschenleben. In der Zwischenzeit wurde auch die Entrechtung der hindu-gläubigen Tamilen des Nordens und Ostens vorangetrieben. Als 1983 in den landesweiten Pogromen des „Schwarzen Juli“ 3.000 Tamilen ermordet wurden, griff auch die Jugend des Nordens und Ostens zu den Waffen. Der fast dreißig Jahre wütende Bürgerkrieg forderte noch einmal 100.000 Tote. Fast die Hälfte von ihnen starb im Frühjahr 2009 in einem von der singhalesischen Armee verübten Massaker um den Ostküstenort Mullaithivu. Inmitten dieser „Killing Fields“ lagen die Notunterkünfte, die SEED und medico nach dem Tsunami errichtet hatten: von den Siedlungen, die aus ihnen entstanden waren, ließ der Krieg nichts übrig.

Das Menschenrecht erkämpfen

medicos Partnerinnen und Partner waren alle persönlich mit diesen Schrecken in Berührung gekommen. Die Gründer von SEED gehörten zu den tamilischen Jugendlichen, die nach dem „Schwarzen Juli“ in den Widerstand gingen. Die medico-Partner im singhalesischen Süden nahmen in ihrer Jugend an den Aufständen der Jahre 1971 und 1987 teil. Jede und jeder von ihnen – egal, welcher ethnischen oder religiösen Herkunft – hatte schon früh begonnen, nach Auswegen aus der Tragödie zu suchen. Manche von ihnen wie die Feministin Shreen Saroor hatten gar keine andere Wahl: im nordwestlichen Fischerort Mannar geboren, gehörte sie zu den 72.000 Menschen muslimischer Herkunft, die 1990 von den tamilischen Rebellen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Mit der ethnisch-religiösen Säuberung wollten die Rebellen die innere Einheit eines unabhängigen Tamilenstaates sicherstellen.

Den Ausweg, den unsere Partner wagten, bezeichnen sie noch heute als „Menschenrechtsaktivismus“. Der überall auf der Welt vertraute Begriff fand auf Sri Lanka eine ganz besondere Prägung. Natürlich ging es auch hier um unmittelbare Hilfe für die Verfolgten und Überlebenden der Gewalt. Das konnten Einzelne sein, die man so lange versteckte, bis sie ins Exil gelangten. Tausende verließen so das Land. Es konnten aber auch ganze Dorfgemeinschaften sein, denen man in Zeltlagern ein Obdach schuf – bis zur nächsten Vertreibung. Das Kreisen der Gewalt ließ unsere Partner nach Auswegen suchen. „Wir können die Menschenrechte nicht immer erst ins Feld führen, wenn es schon zu spät ist“, sagte mir die Anwältin Nimalka Fernando eines Abends in der Hauptstadt Colombo. Sie ist die international prominenteste Aktivistin des Landes. „Ich bin nicht bereit, immer nur das Blut aufzuwischen. Wir müssen das Menschenrecht zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlage dieses Landes machen. Nicht nur das Morden – jede Form der Knechtschaft muss aufhören.“

Als ich Nimalka 2010, wenige Monate nach dem Ende des Bürgerkriegs, wieder traf, waren die tamilischen Rebellen geschlagen. Die ganze Insel war dem triumphierenden singhalesisch-buddhistischen Nationalismus unterworfen, die Regierung auf dem Weg in die Diktatur. Ich fragte Nimalka, was noch zu tun bliebe. „Wir haben nur eine einzige Chance: Wir müssen alle zusammenbringen, die wirklich Frieden wollen. Singhalesische Liberale.

Buddhistische Priester, denen ihr Glaube mehr wert ist als der Sieg über die Ungläubigen. Gewerkschafter, die verstehen, dass Arbeitsrechte wertlos sind, wenn sie nur für Singhalesen gelten. Journalisten aller Sprachen, die vor der Gewalt nicht verstummen wollen. Christen und Muslime. Tamilen, die noch einen Funken Hoffnung haben. Die Plattform für ein solches Bündnis können nur die Menschenrechte sein. Nicht als Berufungsinstanz für Hilfseinsätze in letzter Not, sondern als Kern eines politischen Programms.“

Die Revolution des 8. Januar

Wie das gehen sollte, blieb zunächst unklar. Nimalka und die anderen medico-Partner machten weiter mit dem, was sie seit Jahren schon taten. medico initiierte „Sri Lanka Advocacy “, ein Bündnis auf der Insel tätiger deutscher Hilfsorganisationen. Zusammen mit Nimalka, Shreen, SEED und einigen anderen wandten wir uns an die UNO, an alle Regierungen, die auf Sri Lanka ansprechbar waren. Gemeinsam gelang es uns, beim UN-Menschenrechtsrat mehrere Resolutionen gegen das Regime in Colombo zu erwirken: zu ungeheuerlich die Kriegsverbrechen, zu maßlos Diktatur und Korruption.

In Genf, in Den Haag, in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur oder im kanadischen Toronto kam es zu verborgenen Treffen. Hier versammelten sich genau die Leute, die Nimalka aufgezählt hatte. Die Menschenrechte als gemeinsames politisches Programm – was spricht eigentlich dagegen? Natürlich das Detail. Allen voran: das Recht aller Minderheiten auf Selbstbestimmung. Die Notwendigkeit, dazu eine neue Verfassung ausarbeiten zu müssen. Die Unumgänglichkeit, dafür mit friedlichen Mitteln zu kämpfen. Kaum war das ausgesprochen, blieben einige den Treffen fern. Dafür kamen andere hinzu. Zurück in Sri Lanka taten alle, was getan werden musste. Man stritt für die Auflösung der Gefangenenlager, für das Rückkehrrecht der Vertriebenen, für die Freiheit der Presse und der Justiz, die Freiheit der gewerkschaftlichen Organisation. Für die Aufarbeitung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen. Gegen die Korruption. Für eine Landreform. Für die tagtäglich bedrohte, wenn auch neu zu schreibende Verfassung.

Auch im Norden, unter der Besatzung, fanden Provinzwahlen statt. Völlig überraschend siegte eine tamilische Partei, die das Recht auf Selbstbestimmung und den Rückzug der Armee forderte. Die Menschenrechtsaktivisten im fernen Colombo machten den Wahlausgang zu ihrem Sieg. Der Präsident, von seiner Unbezwingbarkeit überzeugt, setzte Neuwahlen an: die Probe auf den Ernstfall. Ernster wurden jetzt auch die Gespräche im Verborgenen: wäre das möglich – eine Regenbogenkoalition in Sachen Menschenrecht? Zwei Monate vor dem Tag der Neuwahlen dann die Überraschung. Ein Minister der amtierenden Regierung war bereit, Kandidat des Regenbogens zu werden. Die Liberalen stimmten zu, die Gewerkschafter und die linken Flügel, ein landesweit geachteter buddhistischer Geistlicher, die Kirchen, die Partei der Muslime, schließlich die Partei der Tamilen. Erstmals in ihrem Leben sprachen Nimalka Fernando und Shreen Saroor auf Wahlkundgebungen, für den Kandidaten der vereinten Opposition. Dann kam der 8. Januar 2015. Der Regenbogen hatte gewonnen, hauchdünn, aber gewonnen. Spät in der Wahlnacht bestellte der Präsident die Generäle ein, doch sie waren zum Putsch nicht bereit. Game over.

Sri Lanka als Vorbild?

Die Friedfertigkeit des sri-lankischen Frühlings war selbst Bedingung des Gelingens, und vielleicht hat das Regime ja schon zum Zeitpunkt seines Triumphes verloren: die 40.000 Toten des Frühjahrs 2009 waren nicht nur für die Tamilen, sondern für die Mehrheit aller Menschen auf Sri Lanka nicht hinzunehmen und deshalb auch nicht zu vergessen. Ob der Frieden fortdauert, hängt an der Weise, in der die ungelösten politischen, ökonomischen und kulturellen Widersprüche des Landes jetzt ausgetragen werden – auch die innerhalb der Regenbogenkoalition. Dem Menschenrechtsaktivismus wird dabei weiterhin eine maßgebliche Rolle zukommen. Er will sich nicht mehr an die Ränder der Politik zurückdrängen lassen, sondern wird auf seiner Führungsrolle im verfassungsgebenden Prozess eines multiethnischen und multireligiösen Sri Lanka bestehen. Das lässt auch für andere Konflikte hoffen: postkoloniale Tragödien und Kämpfe um Demokratie gibt es überall auf der Welt.

Die medico-Partnerorganisationen auf Sri Lanka wurden 2015 mit insgesamt 160.598,71 € inklusive Zuschüssen gefördert.

Veröffentlicht am 13. Juni 2016

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