Das Wunder des Weitermachens

Israel/Palästina: Das Freedom Theatre Jenin

Nach der Ermordung von Juliano Mer Khamis hat das Freedom Theatre seine Arbeit nicht nur fortgesetzt, sondern auch weiterentwickelt.

So wie an diesem Theaterabend in At-Tuwani, eine Gemeinde in den südlichen Hebronhügeln, hat Intesar ihre Großmutter noch nie erlebt. Spontan begann die alte Hirtin zu erzählen, wie sie mit einem Stock ihre Schafe vor den israelischen Siedlern verteidigte, wie sie um Hilfe schrie und wie sie auch nicht aufgab, als sie Schläge einstecken musste. Narben zeugen noch heute von diesem Kampf. Andere Gemeindemitglieder nehmen den Faden auf und erzählen, wie Soldaten ihre Ziegen und Schafe, das Einzige, was sie ihr eigen nennen können, konfiszierten oder töteten und wie ihre ärmlichen Behausungen immer wieder von der israelischen Armee zerstört wurden. Anschließend werden die Geschichten von Faisal Abu Alhayjaa and Ahmad Rokh, zwei Absolventen der Schauspielschule des Freedom Theatre Jenin, inszeniert. Die Aufführung hat die junge Intesar tief bewegt: „Diese Geschichten der Ungerechtigkeit nachzuerleben und gleichzeitig die Standhaftigkeit der Menschen zu spüren, ermutigt mich, mich aktiv in die Gemeinde einzubringen.“

In den vergangenen Jahren haben Tausende Palästinenser in zahlreichen Orten in der Westbank solche interaktiven Theaterabende, Playback Theatre genannt, erlebt. Initiator ist das Freedom Theatre aus dem im Norden gelegenen Flüchtlingslager Jenin, ein langjähriger medico-Partner mit einer bewegten und bewegenden Geschichte. 1987 wurde das Theater von der mit dem Alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichneten jüdischen Aktivistin Arna Mer gegründet. Angesichts der Besatzungsrealität wollte sie die emanzipatorische Kraft des partizipativen Theaters nutzen, um das Gefühl der Gemeinschaft zu fördern und Widerstandskraft zu stärken. 1994 starb Arna Mer, 2002 wurde das Theatergebäude von der israelischen Armee zerstört. Doch 2005 ergriff Juliano Mer Khamis, der Sohn von Arna und dem israelisch-palästinensischen Kommunisten Saliba Khamis, die Initiative und eröffnete das Theater trotz aller Schikanen von israelischer Seite und Anfeindungen palästinensischer Gegner erneut. Zahlreiche Theater-, Zirkus-, Musik- und Tanzprogramme starteten, 2008 wurde die erste palästinensische Schauspielschule überhaupt gegründet. 2011 dann der schreckliche Rückschlag: Juliano Mer Khamis wurde direkt vor dem Theater gezielt erschossen. Bis heute ist das Verbrechen nicht aufgeklärt, weder die palästinensischen noch die israelischen Behörden informieren die Öffentlichkeit über den Stand der Ermittlungen. Doch das Freedom Theatre lebt weiter – in Jenin und, seit dem Jahr der Ermordung, sogar überall in der Westbank.

Und das kommt einem Wunder gleich. Denn viele fürchteten, dass mit der Ermordung des charismatischen Theaterleiters, der gegen alle eindeutigen Zuschreibungen konsequent auf einer Identität als Jude und Palästinenser beharrte, auch die Arbeit des gesamten Theaters zerstört wurde. Dagegen haben die Schülerinnen und Schüler der Schauspielschule weitergespielt, die Leiter des Projekts beharrlich Förderungen besorgt und den Betrieb gesichert sowie eine ganze Gruppe von Kulturschaffenden aus vielen Ländern mit ihrer Präsenz und ihren inhaltlichen Beiträgen zur Weiterentwicklung der Arbeit beigetragen.

Die eigene Erfahrung und die gemeinsame Geschichte

Die zeigt sich in der Initiative „Freedom Bus“. Seit 2011 läuft dieses mobile Theaterprojekt mit zunehmendem Erfolg. Hierbei reisen Schauspielabsolventen des Jeniner Freiheitstheaters gemeinsam mit anderen Palästinensern, Israelis und solidarischen Menschen aus aller Welt in marginalisierte palästinensische Dörfer in den C-Gebieten, die komplett der israelischen Militäradministration unterstellt sind und deshalb besonders stark unter der Segregations- und Verdrängungspolitik leiden. Dort nehmen die Aktivisten mehrere Tage lang am Gemeindeleben teil. Tagsüber begleiten sie ihre Gastgeber bei den alltäglichen Arbeiten und erleben, wie diese von radikalen Siedlern angegriffen und Infrastrukturen zerstört werden – und wie die Gemeinden mit diesem Alltag umgehen. Abends gibt es Musik, werden Geschichten erzählt (Hakawati) und findet Playback Theatre statt. Die Idee dabei: Wenn ein Mensch seine Gewalterfahrung in einem ihm vertrauten Umfeld erzählt und teilt, wird das individuell Erlebte Teil einer kollektiven Erfahrung. Indem die eigene Geschichte in einen größeren Zusammenhang und eine gemeinsame Erzählung eingebettet wird, kann Solidarität entstehen und können sowohl der Einzelne als auch die Gemeinde das Gefühl von Stärke und Handlungsfähigkeit wiedererlangen.

Damit wendet sich der Projektansatz auch explizit gegen den herrschenden individualisierenden Traumadiskurs, in dem Menschen, die Gewalt erfahren haben, als Traumatisierte eingestuft werden, die dann psychotherapeutisch oder psychiatrisch zu behandeln sind – während die sozialen und politischen Hintergründe der Gewalt und ihre Ursachen ausgeblendet bleiben. Ben Rivers, der sich seit Jahren an der Schnittstelle von Theater und Therapie bewegt und das Freedom-Bus-Projekt initiiert hat, widersetzt sich dieser Sichtweise vehement: „Es stimmt einfach nicht, dass alle Gewaltopfer als traumatisiert eingestuft werden können. Viele haben keinerlei pathologische Folgen, manche entwickeln in Reaktion auf die Widrigkeiten sogar positive Kräfte.“ Seine Erfahrung im Freedom Theatre zeigt auch: Menschen, die sich in irgendeiner Form des Widerstands aktiv engagieren, sind deutlich weniger gefährdet, traumatisiert zu werden.

Das Freedom Theatre ist mehr als ein kulturelles Schauspiel oder ein pädagogisches Theaterexperiment. Seine Stücke und Szenen, seine Spielorte und Aufführungen versuchen die Wirklichkeit des palästinensischen Alltagslebens unter der Besatzung begreif- und sprechbar zu machen. Ein Zuschauer in den südlichen Hebronhügeln brachte es auf den Punkt: „Normalerweise sprechen wir so gut wie nie über unser Leben, da wir alle mehr oder weniger das gleiche erfahren. Aber heute Abend haben wir unser Leben auf der Bühne gesehen.“ Darum geht es und deshalb ist dieses Theaterprojekt auch kultureller Widerstand, der dazu beiträgt, dass die Hoffnung nicht stirbt.

Veröffentlicht am 03. Januar 2014

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