Das PHM bei den Weltsozialforen

Entwicklungen und Herausforderungen

Annähernd zeitgleich entstanden das People’s Health Movement (PHM) und die Weltsozialforen – am Ende des 20. Jahrhunderts und des ersten Jahrzehnts nach dem Ende der großen Systemkonflikts und –konkurrenz zwischen der realsozialistischen und der kapitalistischen Welt. Das Jahrzehnt hatte den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus gesehen, mit seinen Versprechungen individueller Freiheiten und Wohlstandsvermehrungen und seinen sozialen Verheerungen in vormals sozialistischen Ländern so unterschiedlich wie Russland, Indien und China, bis hin zum Abstürzen ganzer Volkswirtschaften im Zuge von Finanzkrisen in Osteuropa (Russland 1998-99) Südostasien (die „Tigerstaaten Thailand Indonesien und Südkorea 1997/98) und Lateinamerika (Mexiko 1994, Brasilien 1998-99, Argentinien 2000).

Beiden gemeinsam war auch der Impuls, den ausgeschlossenen und ausgegrenzten Menschen dieser „schönen neuen Welt“ Foren zu geben, auf denen die „Stimmen der Ungehörten“ zu hören sein würden und Alternativen zur scheinbar „besten aller möglichen Welten“ hartnäckig eingefordert werden sollten.

Daher nimmt es nicht wunder, dass die GesundheitsaktivistInnen des PHM von Anfang an mit den eigenen Gesundheitsspezifischen Themen bei den WSF präsent waren, mit eigenen Treffen direkt vor den WSF (den Internationalen Foren zur Verteidigung der Gesundheit der Menschen, 2002, 2003, 2005 in Porto Alegre (Brasilien), 2004 in Mumbai (Indien), 2006 bei den „kontinentalen WSF“ in Caracas (Venezuela), Bamako (Mali) und Karachi (Pakistan) 2007 in Nairobi (Kenia), 2009 in Belem do Para (Brasilien) und auch mit Workshops und in den Debatten auf den WSF selbst.

In wichtigen thematischen Feldern berührten sich die Themen der GlobalisierungskritikerInnen und der Gesundheitsaktivisten: der zunehmenden Kommerzialisierung und Privatisierung sozial wichtiger Grunddienste, des Ausschlusses vermeintlich „unproduktiver“ und „überflüssiger“ Teile der Gesellschaft von Existenzsicherung und politischer Teilhabe und die Folgen neoliberaler Marktideologien auf die Verfügbarkeit lebensnotwendigen Güter (zB. globale Patentregeln im Rahmen der WTO).

Zugleich konnten Mobilisierungen des People’s Health Movement etwa in Indien als „Right to Health Care Campaign“ 2004-06 im Rahmen breiter gesellschaftlicher Bündnisse zwischen linken Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen als Beispiel der „neuen Form“ politischer Organisierung dienen, die die globalisierungskritische Bewegung mit ihrem Konzept der offenen Foren für Theorie- und Strategiebildung für eine „Andere Welt“ vorantreiben wollte. So nimmt es kein Wunder, dass bekannte SprecherInnen des PHM regelmäßig auf den Panel der WSF zu finden sind und auch das Interesse für ihre Erfahrungen in der Organisierung breiter, flächendeckender Basisgesundheitsstrukturen (zB. des PHM Iran) deutlich spürbar ist.

Andererseits sind es gerade die Erfolge des PHM als „Stimme der Zivilgesellschaft“, wie sie im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zunehmend in den internationalen Organisationen (hier vor allem der Weltgesundheitsorganisation WHO) Gehör fand, die von der Bewegung der „Altermundalistas“, der KämpferInnen für eine gerechtete und menschenwürdigere Globalisierung kritisch im Blick zu behalten sind.

Allzu leicht wird deren Präsenz integriert in Form einer „Expertenmeinung“, die man höflich anhört, aber letztendlich wenig Konsequenzen hat und bei allem verbalen Bekenntnis zum Dialog und Mitsprache doch prekär bleibt: so wurde aktuell in den Vorbereitungen zur WHO-Jahresversammlung im Mai 2010 die seit vielen Jahren etablierte Möglichkeit der zivilgesellschaftlichen Gruppen zur Organisation eigener Präsentations- und Diskussionsveranstaltungen am Rande der offiziellen Debatten ohne eine weitere Begründung abgeschafft. Eine solche Erfahrung sollte Anlass sein, immer wieder die eigenen Strategien und Entwicklungen der globalen sozialen Bewegungen zu analysieren und zu modifizieren. Das PHM hat sich seit einigen Jahren auf den Weg gemacht, seine eigene Verankerung in den Ländern und Regionen zu stärken, und die eigenen Aktivitäten darauf auszurichten: die regionalen Kurse der Internationalen People’s Health Universität (IPHU) sind solche Orte, an denen eine neue Generation von Gesundheitsaktivisten entsteht und vor allem sich über Ländergrenzen hinweg kennen lernt, ebenso die die Aktivitäten der jetzt globalen „Campaign for the Right to Health and Health Care“, die sich lokal in zwei bis drei Dutzend Ländern verankert hat.

Solchen Verankerungen können dann auch die WSF dienen – und erfüllen damit vielleicht ihren wichtigsten Zweck: das 3. World Social Forum on Health direkt vor dem WSF 2009 in Belem wurde von mehr als 30 PHM Aktivsten aus Brasilien, Argentinien, Paraguay, Ecuador, Kolumbien, Guatemala, El Salvador , Nicaragua, Mexiko, den USA und Belgien organisiert und brachte sowohl die brasilianischen GesundheitsaktivistInnen näher an ihre GenossInnen aus den spanischsprachigen Nachbarländern, wie es auch die Gelegenheit bot, die brasilianischen Akteure in ihrer Zusammenarbeit zu bestärken, wie die PHM Aktivisten aus dem südbrasilianischen Porto Alegre mit den 3.000 km entfernten AIDS Aktivisten von GAPA-RS in Salvador de Bahia im Nordosten dieses Landes von kontinentalen Ausmaßen. Vorangegangen war ein sehr produktiver Kurs der IPHU in Porto Alegre im Sommer 2008, der die Grundlage für diese Kooperationen in Belem gelegt hatte.

Nicht nur das PHM Brasilien hat durch dieses WSF einen wesentlichen Aufschwung erlebt, auch die Überbrückung des portugiesisch-spanischen „Sprachgrabens“ im PHM auf dem südamerikanischen Kontinent ist so weitergekommen.

In diesem Jahr, dem 10 jährigen Jubiläum des WSF, das wieder in Porto Alegre stattfand, überwogen dann eher selbstkritische Töne der brasilianischen AktivistInnen.

Diese bemerkenswerte „Gesundheitsbewegung“, die vor 20 Jahren mit der Institutionalisierung des Sistema Unidade de Salud, dem Nationalen Gesundheitssystems, einen großen Erfolg in der Zeit der Re-Demokratisierung Brasiliens nach langen Jahren der Militärdiktaturen erzielt hatte, scheint in viele hundert einzelne Kämpfe und Themen zerfallen: Frauengesundheit, HIV/AIDS, Krebs, chronische Krankheiten, Ausgrenzung von Armen, die zunehmende Privatisierung von Gesundheitsversicherung und Krankheitsversorgung sind einige davon. Die Grundpfeiler der sozialen Partizipation und Mobilisierung für dieses öffentliche Gesundheitssystem in Brasilien, durch nationale, regionale und lokale Gesundheitsräte institutionalisiert, sind vielerorts mangels Engagement schwach geworden, und die Debatten kreisten auch um den möglichen Einfluss, den ein messianischer Glaube an die linken Führer nicht nur in Brasilien hat, der das eigene Engagement erlahmen lässt, weil nun die „Richtigen“ an der Macht sind, und es schon richten werden.

Hier sind die Themen des PHM in ihren Kampagnen für das Recht auf Gesundheit ganz direkt an die „großen Debatten“ auf dem WSF angeschlossen und können sich gegenseitig im kritisch-solidarischen Dialog befruchten – Gerade bei der Bedeutung der aktuellen südamerikanischen Erfahrungen mit alternativen, solidarischen Gesellschaftsmodellen sind solche Orte des Austauschs, und der Verständigung kaum zu überschätzen.

Andreas Wulf, medico international;

mit Inputs von Camila Giugliani, Movimento Pela Saúde dos Povos, Circulo Brasil (PHM Brazil)

Veröffentlicht am 22. April 2010

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