Von Joachim Hirsch.
Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die Welt einschneidend verändert. Zusammen mit den internationalen Kräfteverschiebungen im Gefolge der russischen Oktoberrevolution führte sie dazu, dass der Kapitalismus ein neues Gesicht erhielt. Dazu gehörte Roosevelts New Deal in den USA und der Ausbau des Sozialstaats in Europa. Die Gewerkschaften wurden stärker. Der auf Vollbeschäftigungspolitik, Massenproduktion und Massenkonsum beruhende Fordismus entstand. Möglich war dies allerdings nur deshalb, weil die Herrschenden in den kapitalistischen Metropolen angesichts des ökonomischen Debakels mit seinen verheerenden politischen Folgen und vor allem unter dem Druck der Systemkonkurrenz zu Zugeständnissen gezwungen waren. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Niederwerfung des Faschismus hatte es eine Zeit lang den Anschein, als sei das goldene Zeitalter des Kapitalismus angebrochen, gekennzeichnet durch stetiges ökonomisches Wachstum und steigenden Massenwohlstand zumindest in den kapitalistischen Zentren.
Allerdings war auch der Fordismus nur eine Variante des Kapitalismus und diesem ist die Krise strukturell eingeschrieben. In den siebziger Jahren brach die zweite große Krise des 20. Jahrhunderts aus. Die Rationalisierungsspielräume des tayloristisch-fordistischen Akkumulationsmodus wurden kleiner, die Kapitalprofite gingen zurück und der Wachstumsprozess geriet ins Stocken. Verstärkt wurde dies durch das Ansteigen der Rohstoffpreise im Gefolge der Ölkrise. Damit wurde auch der fordistische Sozialstaat zur Disposition gestellt. Die Nachkriegs-Reformpolitik, die auf einem stetigem ökonomischen Wachstum beruhte, war gescheitert und damit auch die Vorstellung, den Kapitalismus durch politische Eingriffe „zivilisieren“ zu können. Das Ende des so genannten sozialdemokratischen Zeitalters wurde durch die Regierungsübernahme neoliberal-konservativer Parteien in fast allen wichtigen Staaten des kapitalistischen Zentrums besiegelt. Das ökonomisch und politisch wieder fest im Sattel sitzende und unter der US-Hegemonie stark internationalisierte Kapital machte sich daran, sich mit ihrer Hilfe seiner „wohlfahrtsstaatlichen“ Fesseln zu entledigen. Die als „Globalisierung“ bezeichnete Durchsetzung des neoliberalen Kapitalismus war vor allem durch eine weitgehende Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte gekennzeichnet. Die dadurch intensivierte Standortkonkurrenz engte den wirtschafts- und sozialpolitischen Spielraum der Staaten ein und führte zu einem enormen Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Klassenkräfteverhältnisse verschoben sich weltweit zugunsten des Kapitals und die Profite explodierten. Weil es zugleich an kaufkräftiger Nachfrage und damit an Gelegenheiten für profitable Investitionen im produktiven Sektor mangelte, flossen diese in eine sich immer weiter aufblähende Blase der Finanzspekulation. Als diese im Herbst 2008 platzte, wurde die lange verdeckte Überakkumulationskrise offenbar, die aus den ökonomisch-politischen Strukturmerkmalen des neoliberalen Kapitalismus resultierte. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hat die Dimensionen ihre Vorgängerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch sie wird dazu führen, dass der Kapitalismus eine neue Gestalt annimmt.
Das ist allerdings die einzige Parallele. Die weltpolitischen Kräfteverhältnisse sind heute, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus völlig anders. Der Kapitalismus ist global geworden, die Systemkonkurrenz ist beseitigt und soziale Zugeständnisse sind daher nicht mehr nötig. Die Krise kann jetzt ganz unmittelbar dazu genutzt werden, das Kapital durch eine weitere Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf Kosten der breiten Bevölkerung zu sanieren. Angesichts dieser Zumutungen kann man sich fragen, weshalb es nicht zu Massenprotesten kommt und die Furcht der Staatssicherheitsstrategen vor sozialen Erhebungen sich nicht bewahrheiten. Das hat viel damit zu tun, dass die bestehenden Verhältnisse alternativlos erscheinen, verbunden mit einem Wiederaufleben der Staatsillusion. Nachdem der „Markt“ offenbar versagt hat, steht politische Regulierung wieder auf der Tagesordnung. Dabei wird behauptet, dass die milliardenschwere Subventionierung eben der Unternehmen, die die Krise zu verantworten haben, notwendig sei, um den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern und deshalb im allgemeinen Interesse liege. Politik und Staat, vor kurzem noch als Bedrohung von Freiheit, Wohlstand und Fortschritt hingestellt, sind wieder gefragt. Die PolitikerInnen, die mit ihrer neoliberalen Deregulierungspolitik das Desaster überhaupt erst möglich gemacht haben, produzieren sich als Retter. Die Bankenrettungsaktionen gelten einigen sogar als „sozialistisch“, wenngleich niemand daran zweifeln kann, dass einer erfolgreichen Sanierung - wenn sie gelingen sollte - die völlige Reprivatisierung auf dem Fuße folgen wird. Anzunehmen, die Verhältnisse würden durch einen größeren Staatseinfluss demokratischer, ist ein Irrtum. An den neoliberal gewendeten politischen Strukturen hat sich ebenso wenig geändert wie an einem Parteiensystem, das alles andere repräsentiert als die Interessen der Bevölkerung. Die liberale Demokratie ist zur Formalie verkommen und die Regierungen gerieren sich unverblümter denn je als Erfüllungsgehilfen des Kapitals. Die Krise führt nicht zuletzt dazu, dass sich der Monopolisierungsprozess beschleunigt und die Verflechtung von Kapital und Staat weiter zunimmt. Die Frage, ob nun der Staat das Kapital oder dieses den Staat übernimmt, ist müßig. Beide scheinen zu einem geschlossenen Machtapparat zu verschmelzen. Einiges deutet daher darauf hin, dass der neoliberale Marktkapitalismus von einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus abgelöst wird. Dessen vorrangiges Ziel besteht darin, das Kapital nun unter direkter staatlicher Regie zu sanieren und damit Ausbeutung und Verarmung weiter voranzutreiben. Wenn dies gelingen sollte, würden damit allerdings zugleich auch die Grundlagen für die nächste große Krise gelegt. Die Frage ist, ob es eine Alternative zu dieser sich abzeichnenden Entwicklung gibt.
Ein wichtigerer Grund für den ausbleibenden Massenprotest liegt allerdings darin, dass eine gesellschaftliche Alternative nicht einmal andeutungsweise in Sicht ist. Die Krise wirkt sich daher politisch besonders demoralisierend aus. Nachdem der Offenbarungseid des neoliberalen Kapitalismus offenkundig geworden ist, hat keine Partei, auch nicht die Linke, auch nur eine blasse Vorstellung davon, wie eine vernünftige Wirtschaft und Gesellschaft auszusehen hätte. Deshalb reicht die Veränderungsbereitschaft gerade noch zu Appellen, den Kapitalismus wieder „ethischer“ oder „verantwortlicher“ zu machen und dem Kapital einige staatliche Stützungsaktionen zukommen zu lassen. Der Gang zur Wahlurne hilft demnach auch nicht viel. Da außer Kapitalismus pur nichts auf der offiziellen Tagesordnung steht, erschöpft sich die Politik in Rettungs- und Reparaturmaßnahmen, die das Desaster im schlechteren Fall noch verstärken und auf jeden Fall keine längerfristige Lösung bringen. Ökonomische Krisen waren schon immer eine schlechte Grundlage für emanzipative Veränderungen. So auch heute.
Was wäre also zu tun? Für eine revolutionäre Veränderung sind derzeit weder konkrete Ziele noch Akteure auszumachen. Unter den diesen Bedingungen kann es bestenfalls darum gehen, die auf kapitalistischen Grundlagen beruhende Gesellschaft anders zu gestalten. Dies aber grundsätzlich. Wie die Geschichte gezeigt hat, hängt die konkrete Gestalt, die der Kapitalismus annimmt, ganz wesentlich von den internationalen und innergesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnissen ab. Natürlich müssen Profite gemacht werden, solange der Kapitalismus besteht. Wie hoch sie sind und unter welchen Bedingungen sie erwirtschaftet werden, ist aber nicht von vorneherein festgelegt. Auch wenn es viele Parallelen zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre gibt, hat die Entwicklung des Kapitalismus unterdessen Bedingungen geschaffen, die das traditionelle wirtschaftspolitische Instrumentarium untauglich machen. Keynesianische Politiken wie staatliche Konjunkturprogramme, steuerliche Wachstumsanreize und Globalsteuerung reichen nicht mehr aus. Dies schon deshalb, weil ökonomisches Wachstum auf der Basis der bestehenden wirtschaftlichen Strukturen zu enormen, nicht nur ökologischen Schäden führt. Eine die bestehenden Verhältnisse stabilisierende staatliche Steuerung der Wirtschaft wäre daher selbst dann unzureichend, wenn sie demokratisch legitimiert werden könnte. Nachdem die Krisenhaftigkeit des bestehenden Systems offenkundig geworden ist, bedarf eines sehr viel weiter reichenden ökonomischen und gesellschaftlichen Umbaus. Die Gesellschaft muss völlig anders eingerichtet, d.h. die herrschenden Formen der Vergesellschaftung, die sozialen Beziehungen und des Umgangs der Menschen miteinander grundsätzlich verändert werden. Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Inwieweit sie unter kapitalistischen Bedingungen realisierbar sind, lässt sich nicht von vorneherein bestimmen, sondern müsste erprobt werden.
Es wird heute wieder viel von „sozialer Marktwirtschaft“ geredet, und zwar von eben denen, die sie systematisch beseitigt haben. Wenn man einen sozialeren Kapitalismus wirklich haben wollte, wären weitreichende Veränderungen notwendig. Dazu gehört vor allem eine Neuausrichtung des Verhältnisses von Öffentlich und Privat. Die neoliberalen Privatisierungsorgien müssen nicht nur eingedämmt, sondern das Soziale sowohl ausgebaut als auch neu gestaltet, das Gemeinwesen gestärkt werden. Es bedarf dazu eines konsequenten Ausbaus der öffentlichen Güter, einer für alle gleichermaßen und kostenlos verfügbaren sozialen Infrastrukur in den Breichen Gesundheit, Bildung, Kultur, Wohnung und Verkehr, wie es u.a. das links-netz vorgeschlagen hat (siehe www.links-netz.de). Diese infrastrukturelle Versorgung muss dezentralisiert und der unmittelbaren Kontrolle durch die Betroffenen unterstellt werden. Das bedeutet, dass Marktregulierung in weiten Bereichen durch demokratische politische Entscheidung ersetzt wird. Ein bedingungsloses und allgemeines Grundeinkommen wäre ein erheblich wirksameres Konjunkturprogramm als das Subventionieren der Autoindustrie und die damit verbundene Fortsetzung einer unsinnigen Verkehrspolitik. Wenn offensichtlich ohne größere Probleme viele Milliarden für die Rettung pleitebedrohter Unternehmen ausgegeben werden können, sollte die Finanzierung solcher Maßnahmen eigentlich kein unlösbares Problem darstellen. Allerdings wäre eine völlige Umgestaltung des Steuersystems und eine drastische Erhöhung der Abgaben für große Einkommen und Vermögen sowie eine stärkere Belastung des Luxuskonsums und ökologisch schädlicher Produkte erforderlich. Ebenso wäre es notwendig, neue Prioritäten für den Staatshaushalt zu setzen. Die Aufrüstung der Bundeswehr für Kriegseinsätze in der ganzen Welt gehört jedenfalls ebenso wenig dazu wie ein immer weiter aufgeblähter Kontroll- und Überwachungsapparat oder ein Ausbau des Straßennetzes, der nur der Automobilindustrie nützt. Vielmehr muss die bestehende industrielle Struktur verändert und auf ökologische und soziale Erfordernisse ausgerichtet werden. Dass in Deutschland jeder sechste Arbeitsplatz von der Automobilindustrie abhängt, ist nicht eben zukunftsweisend. Ebenso wenig die Tatsache, dass ohne Rücksicht auf Schäden die Energieerzeugung immer weiter vorangetrieben wird, statt vorhandene Einsparmöglichkeiten zu nutzen. Die Veränderung der Einkommensverteilung und der Konsummuster ist für eine Reorganisation der industriellen Struktur eine zentrale Voraussetzung. Eine Re-Regulierung des Arbeitsmarkts, die der immer weiter gehenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse entgegenwirkt und die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns sind ebenso unverzichtbar, soll die immer schiefer werdende Einkommensverteilung korrigiert werden. Dies wäre eine sinnvollere Anti-Krisen-Politik als die Subventionierung von Unternehmen, die für das gegenwärtige Desaster verantwortlich sind. Notwendig wäre schließlich eine weit reichende De-Globalisierung in Form einer Stärkung lokaler und regionaler wirtschaftlicher Zusammenhänge und die Verabschiedung von der Illusion, es sei für die Menschen von Vorteil, wenn das Kapital sich als „Exportweltmeister“ aufführt.
Dies durchzusetzen, setzt nicht nur eine wesentliche Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse voraus, sondern erfordert auch den Abschied von gewohnten Verhaltensorientierungen, Konsummustern und Wertvorstellungen. Das ist, betrachtet man nur den die herrschenden gesellschaftlichen Zustände bestimmenden Autofetischismus, eine schwierige Sache. Es ist notwendig, neu zu bestimmen, was unter den vorhandenen gesellschaftlichen und technischen Möglichkeiten, aber auch unter den gegebenen natürlichen Bedingungen ein gutes und vernünftiges Leben sein könnte. Dies setzt intellektuelle Anstrengungen, soziale Phantasie und Überzeugungskraft voraus. Auf die etablierten Parteien und Verbände kann in dieser Hinsicht weniger denn je gesetzt werden. Die Parteien sind nicht nur faktisch zu Staatsapparaten geworden, deren Handeln sich auf taktische Stimmenmobilisierung beschränkt. Sie haben auf diesem Wege jegliche intellektuelle und konzeptionelle Fähigkeit eingebüßt. Daher der allseits praktizierte Populismus und die Unfähigkeit zur Formulierung einer Politik, die neue Wege beschreitet. Weiterreichende Vorstellungen oder gar eine Veränderung des gesellschaftlichen Status Quo sind von den Parteien nicht zu erwarten.
In dieser Situation bedarf es mehr denn je einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung außerhalb und unabhängig von Staaten, Parlamenten und Parteien. Es gibt eine Vielzahl von Gruppierungen, Initiativen und Organisationen, von kritischen Nichtregierungsorganisationen und alternativen think tanks, die in der Lage sind, die wirklichen gesellschaftlichen Probleme zu thematisieren und Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Politisch-konzeptionelles Potential findet sich heute vor allem dort. Das bezieht sich allerdings oft noch auf einzelne Politikbereiche. Diese Parzellierung gilt es aufzuheben. Dazu wäre eine engere Zusammenarbeit und eine stärkere Vernetzung dieses zivilgesellschaftlichen Geflechts notwendig, als Voraussetzung dafür, dass übergreifendere Diskussionen entstehen und praktische Wege aufgezeigt werden können. Wenn dies geschähe, könnte wieder im strikteren Sinne Politik gemacht werden, statt nur noch auf selbst geschaffene „Sachzwänge“ zu reagieren. Veränderungen auf dem Feld der Parteien-, Parlaments- und Regierungspolitik sind nur zu erwarten, wenn ein nachhaltiger gesellschaftlicher Druck entsteht. Dieser ist auch eine Voraussetzung dafür, dass die zur Formalie verkommenen demokratischen Strukturen wieder mit Inhalt gefüllt werden, dass Demokratie wieder etwas mit Selbstbestimmung zu tun hat, statt sich in der Vermittlung von kapitalistischen „Sachzwängen“ zu erschöpfen. Angesichts der globalen Interdependenzen darf sich dies nicht auf den nationalen Raum beschränken. Eine Veränderung der globalen ökonomischen und politischen Strukturen, von der Schaffung internationaler Sozialfonds bis hin zu einer Demokratisierung von Institutionen wie IWF, Weltbank und WTO ist von höchster Wichtigkeit. Der ökonomischen Globalisierung, deren Folgen sich heute manifestieren, muss durch eine politische Globalisierung „von unten“, durch zivilgesellschaftliche Kräfte begegnet werden, und zwar auf nationaler wie internationaler Ebene.