Chile: Der Fall Pinochet

»Das ist alles erst der Anfang....«

Interview mit Fabiola Letelier, Rechtsanwältin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Codepu

Wer heute in chilenischen Zeitungen liest, reibt sich die Augen: Der Fall Pinochet ist tägliche Titelgeschichte. Mit dem »Senator auf Lebenszeit« ist vorerst Schluß. Die Immunität ist weg und die Chancen, daß die Entscheidung vom Obersten Gerichtshof bestätigt wird, stehen gut. Selbst wenn Pinochets Sohn mit Putsch droht. Fall für Fall werden die Taten der Gewaltherrschaft aufgerollt. Die berüchtigte »Todeskarawane«, die im Norden Chiles unter Leitung des Generals Aurellano Stark 72 politische Gefangene umbrachte und ihre Opfer verschwinden ließ, brachte Pinochet die Aufhebung der Immunität. Die Ermordung seines Vorgängers, des General Prats und dessen Frau, kommt in Argentinien zur Verhandlung. Die Beweiskette ist schlüssig. Das alles ist, so Fabiola Letelier, Vorsitzende des medico-Projektpartners Codepu, erst der Anfang.

Eine historische Zäsur für Chile

Als wir zuletzt miteinander sprachen war Ex-Diktator Pinochet noch unter Arrest in England. Nun ist er seit 2 Monaten in Chile. Was hat sich geändert?

Fabiola Letelier: Die Aufhebung der Immunität von Diktator Pinochet ist eine historische Zäsur. Damit hat unsere Justiz akzeptiert, daß auch ein ehemaliger Staatschef für die schweren Menschenrechtsverletzungen, für die er ohne Zweifel verantwortlich ist, juristisch belangt werden kann. Nun hat das Appellationsgericht auch die juristische Wahrhaftigkeit unserer Argumente bestätigt. Wir erwarten, daß der Oberste Gerichtshof die Entscheidung des Appellationsgerichts bestätigt. Wenn das geschieht, dann gewinnen die Gerichte in Chile ihr altes Prestige zurück, und wir haben einen Riesenschritt hin zu einer unabhängigen Justiz gemacht.

Läßt sich der Stein noch aufhalten, der mit Pinochets Verhaftung ins Rollen gebracht wurde?

Ein Prozeß ist in Gang gekommen, der schwer zu stoppen ist und den selbst unsere Presse, die fast vollständig in der Hand der Rechten ist, reflektieren muß. Als Pinochet in London verhaftet wurde, begannen unsere Anwälte hier Klage für Klage gegen Pinochet einzureichen. Mittlerweile sind es 106 Klagen wegen der schrecklichsten Verbrechen. Jede neue Klage löst eine Pressemeldung aus, bringt wieder ein Verbrechen ans Tageslicht. Jede Klage gibt einem Opfer der Diktatur wieder Name und Gesicht zurück. Unsere tragische Geschichte kehrt in die Erinnerung und in das gesellschaftliche Gedächtnis zurück.

Ist jetzt Schluß mit der Straflosigkeit für Diktatur-Verbrechen?

Die politische Rechte in Chile versucht, die juristische Aufarbeitung der Diktatur-Verbrechen mit aller Macht zu hindern. Seit die Verfahren laufen, erklärt sie, es handle sich um einen politischen Prozeß gegen Pinochet. Das Verfahren müsse deshalb durch eine politische Vereinbarung gestoppt werden. Da die Rechte faktisch die gesamte Medienlandschaft besitzt, müssen wir uns diese Phrasen jeden Tag anhören. Auch innerhalb der Regierung gibt es Stimmen, die eine politische Übereinkunft und ein Ende der juristischen Verfahren wollen. Wir müssen immer darauf gefaßt sein, daß diese Kräfte versuchen werden, ein Gesetz durch das Parlament zu bekommen, das die Straflosigkeit für Verbrechen der Diktatur erneut beschließt.

Unterstützt Präsident Lagos nicht den »runden Tisch«, der doch letztlich ein Ende der juristischen Verfahren zum Ziel hat?

Der vorige Präsident Frei und Verteidigungsminister Perez Yoma haben den »runden Tisch« ins Leben gerufen. Daran nehmen zwar die Kirchen teil und auch Literaturpreisträger. Ihm fehlt trotzdem das entscheidende Bein. Denn die Angehörigengruppierungen und Opferverbände fehlen dabei ebenso wie die Menschenrechtsorganisationen. Wir lehnen diese Gespräch ab. Für uns gibt es nur einen Weg, Gerechtigkeit und Frieden zu erreichen. Der führt über die Gerichte. Wir sind kurz davor, das zu erreichen.

Wieviel Verfahren laufen derzeit gegen ranghohe Militärs?

Neben den Klagen gegen Pinochet gibt es zur Zeit 71 Verfahren gegen Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur. Sieben Generäle sind deswegen angeklagt. Dabei geht es nicht nur um die »Todeskarawane« sondern auch um andere Verbrechen. Gleichzeitig macht die Strafverfolgung für die Ermordung von General Prats und seiner Frau, die 1974 durch eine Autobombe getötet wurden, große Fortschritte. In Argentinien wurde ein Mann festgenommen, der nach Aussagen des US-amerikanischen Dina-Agenten Townley mit ihm an der Installierung der Bombe gegen Prats beteiligt gewesen ist. Townley, der einer der Mörder meines Bruders Orlando ist, hat zugegeben, daß er in Buenos Aires war und die Bombe hergestellt hat. Gleichzeitig gibt es seit einiger Zeit den Auslieferungsantrag der italienischen Regierung gegen Contreras und Neumann, die wegen versuchten Mordes zu 20 und 18 Jahren Haft von italienischen Gerichten verurteilt worden sind. Und jetzt auch noch die US-amerikanische Staatsanwaltschaft, die hier in Chile 42 Mitarbeiter der Diktatur verhört hat, und nun mitteilte, daß die Beweise für einen Auslieferungsantrag gegen Pinochet ausreichen würden.

Macht das die Militärs nervös?

Eigentlich sollten die Militärs sich zur Innenpolitik nicht äußern. Sie tun es trotzdem, das haben wir bei dem pompösen Empfang Pinochets miterleben müssen. Oberbefehlshaber des Heeres, General Izurieta besuchte Pinochet mehrere Stunden lang, gleich nachdem die Entscheidung des Appellationsgerichts bekannt wurde. Sie erklären permanent ihre Solidarität mit Pinochet. Das Militär hat nicht mehr die Macht zu putschen: sie werden versuchen die Verfassungsänderungen, die Lagos will und die eine Beschneidung ihrer Rolle bedeuten, mit einem Abkommen zur Beendigung der Verfahren durchzusetzen.

Jahrelang haben die Angehörigengruppen einen einsamen Kampf um die juristische Verfolgung der Verbrechen geführt. Gibt es nun eine größere gesellschaftliche Unterstützung?

Das neoliberale Modell, das in Chile geradezu lehrbuchhaft umgesetzt wurde, hat hier ganze Arbeit geleistet. Die Menschen sind mit existentiellen Fragen beschäftigt, weil viele soziale Menschenrechte durch den Neoliberalismus extrem beschnitten wurden. Aber gerade unter den Jugendlichen ist eine Bewegung entstanden, die das Recht auf Erinnerung an die Verbrechen der Diktatur einklagt.

Gerade die Jugend? Haben nicht viele jahrelang demonstrativ ihr Desinteresse am Thema bekundet?

Es ist viel passiert in den letzten zwei Jahren. Die Ereignisse in England, die Verfahren im Ausland und in Chile haben das Bild verändert. Es gibt keine Massenbewegung wie die gegen die Diktatur 1989 – aber man kann heute keine Zeitung lesen, ohne täglich auf das Thema Pinochet und die Verbrechen der Diktatur zu stoßen. Die Zeit des großen Schweigens ist vorbei. Die Verfahren gegen Pinochet und die anderen Militärs bringen traumatische Erinnerung zurück.

Wie gehen Sie, die Opfer und die Angehörigen damit um?

Ich kann nur für mich sprechen. Ich hatte als Rechtsanwältin andere Möglichkeiten. Seit 1980 fordere ich vor den Militärgerichten Wahrheit und Gerechtigkeit für die Ermordung meines Bruders Orlando in Washington. 15 Jahre habe ich gekämpft bis der Oberste Gerichtshof Contreras und Espinoza zu wenigen 7 Jahren Haft verurteilte. Mit den Prozessen kehrt auch eine leidvolle Erinnerung zurück. Aber das kann die Angehörigen, die Verfolgten, die Exilierten nicht hindern. 106 Klagen gegen Pinochet, das sind tausende Kläger. Wir gewinnen die Geschichte und die Erinnerung wieder zurück.

Das ist ein besonderer Moment in meinem Leben. Gemeinsam mit Kollegen bereite ich weitere Klagen vor. So für hingerichtete politische Gefangene. Hugo Gutierrez und ich werden gegen Pinochet wegen der »Operation Colombo« klagen, die noch vor der »Operation Condor« stattfand. Gerade bereite ich Klagen wegen der Ermordung zweier spanischer Priester, Joan Alcina und Antonio Giro, vor. Eine Anfrage kommt aus Frankreich von 30 ehemaligen gefangenen und gefolterten Chilenen. Sie fragen, ob sie von dort aus gegen Pinochet klagen können. Es gibt Überlegungen, ob auch wegen der in Chile ermordeten US-Amerikaner Klagen gegen Pinochet eingereicht werden. Wir haben ein Gefühl Stärke. Vielleicht kann es nun doch gelingen, daß die Verbrecher nicht ungeschoren davon kommen. Das Thema »Wahrheit und Gerechtigkeit« ist noch lange nicht vom Tisch.

Das Interview führte Katja Maurer

Die Menschenrechtsorganisation Codepu lieferte die Beweise für die Anklageerhebung gegen Pinochet in Spanien. Ihre Anwälte vertreten Angehörige im Fall der Todeskarawane, der Pinochet die Immunität kostete. Nun muß und kann es gelingen die Täter der Diktatur vor Gericht zu bringen. Dazu braucht Codepu Ihre Unterstützung. Spenden Sie bitte unter dem Stichwort »Chile«.

 

Veröffentlicht am 01. Juni 2000

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