Afghanistan

Wo ein Wille ist

Was sind politische Spielräume, um sichere Fluchtwege für Menschen aus Afghanistan zu schaffen? Ein Interview mit dem Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl

Die Evakuierungen aus Afghanistan sind mittlerweile in vollem Gange. Aber es gibt ja dort nicht nur Ortskräfte und Menschenrechtsaktivist*innen, sondern auch erhebliche Teile der Zivilbevölkerung möchten das Land verlassen. Einige von ihnen sind schon in den Nachbarländern, andere haben sich sogar in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge geklammert. Welche rechtlichen Möglichkeiten gäbe es, um sichere Fluchtwege für Afghan*innen aus dem Land und auch aus den Nachbarländern zu organisieren?

Das Problem ist, dass viele Menschen es nicht schaffen werden, aus Afghanistan hinauszukommen, weil die Taliban ihre Ausreise blockieren oder die Nachbarstaaten die Grenzen absichern. Nur für die, die es in Drittstaaten wie Usbekistan oder aktuell zum Flughafen schaffen, hat die europäische Politik es in der Hand, eigene Aufnahmeprogramme zu organisieren. Das ist nötig, denn es gibt keine rechtliche Möglichkeit, außerhalb von Europa einen Asylantrag zu stellen, zum Beispiel in einer Botschaft. Die Geflüchteten sind deshalb in der Regel gezwungen, über die lebensgefährlichen Land- und Seewege zu fliehen. Aber Europa hat ja aufgerüstet: Gewaltsame Pushbacks in der Ägäis oder Elendslager wie auf den griechischen Inseln werden Menschen davon abhalten, Schutz zu finden.

Was bedeutet das konkret für die Forderung nach der Aufnahme schutzbedürftiger Menschen? Wie kann diese jetzt aussehen?

Es gibt Möglichkeiten, afghanischen Geflüchteten Schutz zu gewähren und ihnen die lebensgefährliche Flucht zu ersparen. Zum Beispiel können in Deutschland die Bundesländer oder der Bund Landesaufnahmeprogramme für afghanische Geflüchtete ins Leben rufen – ein paar Bundesländer haben das ja schon in Aussicht gestellt. Der Paragraph 23 Aufenthaltsgesetz ermöglicht es, dass Geflüchtete auch außerhalb des europäischen Territoriums aufgenommen werden. Solche Aufnahmeprogramme gab es schon 2013 für Syrien und den Irak. Und die Aufnahmebereitschaft in Deutschland ist weiterhin groß, viele Kommunen signalisieren die Bereitschaft zur Aufnahme, viele Menschen sind von den Bildern aus Afghanistan bewegt. Und Europa hat eine große politische und humanitäre Verantwortung.

Möglich ist es auch, über Paragraph 22 Aufenthaltsgesetz afghanische Geflüchtete in Deutschland aus humanitären Gründen aufzunehmen, ohne dass diese über die lebensgefährlichen Land- und Seerouten fliehen müssen. Das Bundesinnenministerium kann die Aufnahme zur Wahrung politischer Interessen erklären, zum Beispiel für afghanische Ortskräfte oder jene, die über Subunternehmen angestellt waren, und die wegen ihrer Zusammenarbeit mit Deutschland im Fokus der Taliban stehen.

Welche praktischen Probleme könnte es bei der Gewährung dieser Aufenthaltstitel geben?

Für beide legale Fluchtwege gibt es Hürden: Denn oft bekommen die Geflüchteten keinen Zugang zu den deutschen Botschaften und den Verfahren, um in den Anspruch der Aufnahmeprogramme zu gelangen. Und auch das restriktive Visa-System mit seinen langwierigen Verfahren und dem Erfordernis, bestimmte Unterlagen einzureichen und die eigene Lebensunterhaltssicherung nachzuweisen, steht einer effektiven Schutzgewährung im Weg. Es geht aktuell um Stunden, in denen Hilfe geleistet werden muss. Deshalb sollten Ausnahmen von den Visaregeln gemacht werden.

Was nicht vergessen werden darf: Viele Afghan*innen sind schon lange auf der Flucht und befinden sich außerhalb von Afghanistan, in den Elendslagern auf Lesbos oder an der kroatischen Grenze. Die europäische Politik darf sie nicht vergessen, denn auch für sie ist eine Rückkehr nach Afghanistan ausgeschlossen. Deutschland muss für diese Gruppe die Familienzusammenführung innerhalb von Europa, die oft verschleppt wird, gewährleisten. Und es gibt, ganz im Einklang mit dem Europarecht, auch die Möglichkeit, ein humanitäres Selbsteintrittsrecht für diese Schutzsuchenden zu erklären und ihnen Zugang zum deutschen Asylverfahren zu verschaffen.

Wie sieht es denn mit Handlungsspielräumen auf europäischer Ebene aus? Es wird ja jetzt wieder eine „europäische Lösung“ gefordert…

Auf europäischer Ebene gibt es die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie, die für außergewöhnliche Situationen genutzt werden kann, um Schutzsuchende aus Drittstaaten aufzunehmen. Aber der Schutz nach dieser Richtlinie ist nur befristet und außerdem müsste der Rat der Europäischen Union einen gemeinsamen Beschluss fassen, um die Richtlinie anzuwenden. Da es jetzt schon einen Wettlauf in Europa darum gibt, sich gegenüber Geflüchteten abzuschotten, halte ich es nicht für realistisch, dass dieses europäische Instrument genutzt wird. 

Ich habe in meiner Studie „Der Moria-Komplex" davon gesprochen, dass die EU an den Außengrenzen eine organisierte Verantwortungslosigkeit betreibt - und das gleiche passiert jetzt wieder in Bezug auf Afghanistan. Jeder schiebt sich die Schuld für das Desaster zu, keiner will die Verantwortung übernehmen. In den kommenden Wochen wird es nicht nur darum gehen, akute Hilfe für afghanische Schutzsuchende zu organisieren, sondern auch das Asylrecht wird unter Beschuss stehen, um sich der Verantwortung zu entziehen. Aber nur ein wirksames Asylrecht, garantiert den afghanischen Geflüchteten einklagbare Rechte.

Du hast gerade davon gesprochen, dass es jetzt nicht nur um Luftbrücken und Evakuierungen geht, sondern auch um die Verteidigung des Asylrechts. Wie meinst du das?

Es ist eine Strategie der europäischen Innenministerien, das Asylrecht auf dem Papier zu behalten, aber die Zugänge zum Asyl zu versperren. Wenn jetzt Politiker*innen reaktionäre Chiffren bedienen, wie zum Beispiel „2015 darf sich nicht wiederholen“, dann steckt dahinter genau diese Strategie, Menschen vom Zugang zum Asylrecht fernzuhalten. Griechenland hat bereits angekündigt, die See- und Landgrenzen schärfer zu überwachen, auch Frankreich setzt sich für eine Abschottung gegenüber Geflüchteten auf EU-Ebene ein.

Der Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer sagte einmal, das Asylrecht werde häufig nur deswegen wirksam, weil die Menschen die Fähigkeit, sich zu schämen, nicht gänzlich eingebüßt haben. Im Jahr des 70. Jubiläums der Genfer Flüchtlingskonvention muss man viele politische Reaktionen aus Europa in Bezug auf das Leid der afghanischen Bevölkerung schlicht als schamlos bezeichnen.

Es gibt jetzt endlich einen Abschiebestopp nach Afghanistan. Reicht das - oder braucht es jetzt noch mehr bezüglich des Umgangs mit afghanischen Geflüchteten in Deutschland und Europa?

Noch im Juni und Juli gab es, trotz großer öffentlicher Kritik, Abschiebeflüge nach Afghanistan, auch mit Beteiligung von Ländern, in denen die Grünen regieren. Wir wissen aus der Asylpraxis und aus Studien wie von der Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann, dass afghanische Geflüchtete, die nach Europa gereist sind, von den Taliban und anderen Gruppen als „Sympathisanten des Westens“ angesehen und verfolgt werden. Durch den Fall von Kabul und den Zusammenbruch der afghanischen Streitkräfte sind die Abgeschobenen aus Europa nun in akuter Lebensgefahr.

In naher Zukunft wird es ausgeschlossen sein, Rückführungen nach Afghanistan durchzuführen. Die Innenministerkonferenz muss sich ehrlich machen und einen unbefristeten Abschiebestopp anordnen. Das alleine reicht aber nicht, die Afghan:innen, die hier oft nur geduldet sind oder lediglich einen Aufenthaltsstatus wegen einem Abschiebeverbot haben, brauchen jetzt langfristige Perspektiven und einen dauerhaften Aufenthaltstitel, um sich ein menschenwürdiges Leben aufbauen zu können. Das ist das Mindeste an Verantwortung für die Menschen, das Deutschland wegen seiner Rolle in Afghanistan zu leisten hat.

Dr. Maximilian Pichl ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/M. Für medico hat er kürzlich die Studie „Der Moria-Komplex“ verfasst.

Das Interview führte Mario Neumann

Veröffentlicht am 18. August 2021

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