Alles bleibt anders

Radikal subjektiviert

Wie Katja Maurer medico verändert hat: Daran erinnert der langjährige Kollege Martin Glasenapp.

Dass ich hier heute stehe und gebeten wurde, etwas zur Verabschiedung von Katja Maurer zu sagen, finde ich kurios. Es ist nämlich eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: Katja kann man nicht verabschieden. Katja ist alles Mögliche, aber Katja ist niemals Abschied. Katja ist vielleicht Ungeduld, tausend Fragen, Neugierde, Bestimmtheit, aber eben nicht Abschied.

Was kann ich über Katja sagen, was noch nicht gesagt wurde? Vielleicht das: Katja war für mich in der Zeit unserer Zusammenarbeit bei medico international – ich war schon da, als sie 1998 kam, und ging im Jahr 2016 – nicht nur eine ziemlich großartige Kollegin, sondern sie wurde auch eine Freundin. Es ist nicht so, dass wir seitdem wöchentlich telefonieren. Aber wir tauschen uns regelmäßig aus oder sehen uns in Berlin. Wir erzählten uns in den letzten Jahren das jeweilige Leiden oder die Freuden im Job wie auch im Leben. Ich gestehe, als jemand der in dieser einen bestimmten linken Partei arbeitet, teilte ich mit Katja mehr Leiden als Freuden, wobei ich meine jüngste Zeit in der Berliner Regierung ausdrücklich davon ausnehme. Aber auch Katja erzählte mir von medico, all dem, was ihr noch gefällt, aber auch was ihr zuletzt fremd wurde.

Denn auch wenn wir hier vielleicht alle im Raum irgendwie auf die eine oder andere Weise alle Linke sind, so verändert sich das eigene Linkssein ja immer. Manchmal hat das etwas mit Erfahrungen, mit Erlebnissen und politischen Sozialisationen zu tun. Manchmal auch schlicht mit dem Alter. Aber über den Zustand des Linkssein in der heutigen Zeit will ich gar nichts sagen. Das springt einen ja eigentlich fast immer aus den Texten von medico an. Und das ist sehr gut so. Und dass das so ist, hat sehr viel mit Katja zu tun. Katja hat nämlich etwas gemacht, oder vorangetrieben: Sie hat den Text bei medico ziemlich umgekrempelt, ich würde sagen, revolutioniert. Was ich damit meine? Sie hat uns alle gefragt: Was willst du eigentlich sagen? Worum geht es dir? Gibst du den Leserinnen und Lesern eine Geschichte an die Hand oder willst du etwas verkünden? Mir sagte sie immer: "Weniger Flugblatt, lass‘ das rote Schwänzchen am Ende weg, trau den Leuten den eigenen Gedanken zu."

Natürlich gab es immer schon viel Text bei medico. medico war Text. Und es gab in vielen Texten immer eine sehr große Schippe Erkenntnis und Wissen, es gab den Versuch, durch den Text das Wesen der Welt und die Möglichkeit ihrer Veränderung durch die Hilfe zu beschreiben. Als Katja kam, waren die Texte schon klug, aber zugleich auch sehr breitbeinig, sehr allwissend und dabei auch voraussetzend – und sie waren zumeist von Männern geschrieben.

Katja hat die an sich schon politischen Texte von medico noch politischer gemacht, weil sie sie radikal subjektiviert hat. Und sie hat als gute Journalistin uns linke Schreibende von den Leserinnen und Lesern her gefragt, was wir eigentlich sagen möchten. Sie wollte, dass wir Machtverhältnisse erklären, aber sie wollte vor allem, dass wir über die Subjektivität des Handelns sprechen und darin über die Menschen, die Partnerinnen und Partner, die diese Verhältnisse ändern. Katja mag auch keine Ausweglosigkeit – nicht dieses mitunter Dräuende linker Theorie –, weil es eben fast immer auch einen Ausweg geben kann. Und sie mag keine Texte, in denen nichts passiert, weil es in ihnen keine Menschen gibt. Und Menschen meint nicht menscheln oder Betroffenheitskitsch, sondern schlicht und einfach Leben, Widersprüche, Zweifel – und Auswege.

Ganz wesentlich hat Katja mit dafür gesorgt, dass aus dem linken "Wachtturm", wie wir das medico-Rundschreiben manchmal nannten, ein richtiges Magazin wurde. Mit Reportagen und Meinungsstücken, knackigen Überschriften und guten Bildern. Katja hat auch die Schrift größer gemacht, weil Reclam-Schriftgröße vielleicht irgendwie mega-intellektuell und verschwörerisch wirkt, aber nicht gelesen wird. Ich zähle das hier so auf, weil wir Linken oft vergessen, dass das Entscheidende jeder Politik eben auch immer ist, wie es "da draußen", wie das immer so schön heißt, ankommt, sprich: wie es verstanden wird. Und um verstanden zu werden, muss man eben auch verständlich sein. Und um verständlich zu sein, muss man sich auch verständigen wollen. Zumindest ich kann sagen, dass ich von Katja in dieser Hinsicht sehr viel gelernt habe, und ich glaube, wir alle haben das damals bei medico. Und ich hoffe, dass es weitergeht mit guten Texten über gute Hilfe – auch von Katja.

Es gibt noch vieles, was an Katja ziemlich großartig ist. Ich glaube ja wirklich, dass jede linke Politik, wenn sie gut sein will, dass jede progressive Hilfe, wenn sie wirklich etwas verändern will, so etwas wie ein hörendes Herz braucht. Es geht darum, tatsächlich selbst hinzuhören, was die Menschen umtreibt, was sie begehren oder woran sie verzweifeln. Es bedeutet auch, bereit zu sein, von anderen etwas anzunehmen, was man selbst vielleicht nie gewusst hätte – und sich dabei der eigenen Verantwortlichkeit zu stellen. Denn nur dann, wenn man von anderen etwas annehmen will, kann für einen selbst auch etwas neu anfangen und können wir Neues hervorbringen.

Was das im Konkreten heißt? Vor fast genau 20 Jahren war ich im Zuge des Irak-Kriegs mit Katja auf einer Veranstaltung irakischer Kurd:innen. Die Kurdinnen und Kurden sprachen völlig anders über diesen US-amerikanischen Krieg, gegen den hierzulande breit demonstriert wurde. Die Friedensbewegung forderte "Kein Blut für Öl", sie aber freuten sich über den Sturz von Saddam Hussein. Katja kannte damals keine Kurd:innen, aber sie wollte sofort verstehen, warum die kurdischen Gefühle zu dem damaligen Krieg so ganz anders waren als die vieler Linker und Friedens-bewegter in Deutschland. Katja verurteilte die Kurdinnen und Kurden nicht dafür, dass sie sich über den Einmarsch freuten. Sie wollte wissen, warum sie es tun.

Noch ein Beispiel? Ich empfehle die Reportage von Katja aus Charkow in der Ukraine im ersten medico-rundschreiben dieses Jahres. Gerade wenn man meint, das Wesentliche aus der Ukraine längst zu wissen, erfährt man unverhofft etwas über den Zusammenhang des ukrainischen Wegs nach Europa und dem Aufschwung eines fast religiösen Nationalismus. Sehr lesenswert.

Liebe Katja, das ist kein Abschied, sondern ein Anfang. Auf ins Offene! Weitermachen!

 

Der Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die im März auf Katja Maurers Verabschiedungsfeier im medico-Haus gehalten wurde. Ihr Verfasser Martin Glasenapp arbeitete zwei Jahrzehnte für medico. Im Jahr 2016 zog es ihn ins politische Berlin, wo er Katja Kippings Büroleiter wurde - erst in der Partei, dann in der rot-grün-roten Senatsverwaltung.

Bis Morgen

Katja Maurer geht und bleibt

25 Jahre sind eine lange Zeit und 1998 ist lange her. Damals wurde Katja Maurer zur Leiterin der Öffentlichkeitsabteilung bei medico international – und blieb es rund zwei Jahrzehnte. Fast ebenso lang, noch bis Anfang 2023, war sie Chefredakteurin des medico-rundschreibens. Am 24. März nun hat medico sie als geschätzte, mutige, wissbegierige und auch streitbare Kollegin mit einem großen Fest in den Ruhestand verabschiedet.

Ihr Abschied ist Teil eines Generationswechsels. Und er ist ein Einschnitt, für das Rundschreiben wie für das Haus insgesamt. Denn immer schon, zuletzt aber noch einmal deutlicher, haben Katjas Beiträge medico geprägt, intern ebenso wie in der Außenwahrnehmung. Ob zur palästinensisch-israelischen Situation, zu Kontroversen im Kontext der Documenta oder zum Krieg in der Ukraine: Ihre Texte helfen immer, vertrackte Verhältnisse zu verstehen. Katja Maurer hat Positionen von und für medico formuliert und behauptet. Und es waren oftmals ihre Beiträge, die am häufigsten gelesen, am meisten geteilt und am intensivsten diskutiert wurden. Sie waren und sind stets tief mit dem medico-Ansatz verwurzelt, indem sie immer auch aus der Begegnung mit den Weltverhältnissen entstanden, bei zahlreichen Dienstreisen oder Gesprächen mit politischen Köpfen in aller Welt.

Für Katja beginnt das Denken immer wieder von vorne. Es darf sich nie abschließen. Ihre Texte sind immer zugleich Einladung wie Aufforderung dazu, in Bewegung zu bleiben. So schreibt man natürlich nur, wenn man auch so ist. All das wird jetzt von anderen fortzusetzen sein. Aber nicht ganz ohne sie. Denn auch in Zukunft wird Katja auf Veranstaltungen von medico zu hören und in Texten wie hier im Rundschreiben zu lesen sein. Auch im Büro wurde sie nach dem 24. März bereits häufiger angetroffen. Es bleibt also alles anders. Wir freuen uns schon darauf.

Die Redaktion

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 03. Juli 2023

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