Eskalierende Gewalt

Niger, ein Land in Gefahr

Bei einer Anschlagserie im Niger sind hunderte Menschen getötet worden. Der Fokus auf die „ethnische Dimension“ der Konflikte in der Region verdeckt andere Ursachen.

Von Moussa Tchangari

Nach den Tragödien von Toumour in der Region Diffa sowie Zaroumdarey, Tchiomabangou und Banibandgou in der Region Tillabery wurden am 21. März in Tillia in der Region Tahoua mindestens 137 Menschen ermordet und viele weitere verletzt. Insgesamt wurden zwischen Dezember 2020 und März 2021, einer Zeit zunehmender innenpolitischer Spannungen um die Präsidentschaftswahl herum, mindestens 367 Menschen, allesamt Zivilist:innen, von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen kaltblütig ermordet; was die immer gleichen empörten Reaktionen und fast identische Regierungsverlautbarungen hervorrief.

Zum Leid der Zivilbevölkerung folgt eine Tragödie auf die andere, obwohl drastische Notstandsmaßnahmen in drei von acht Regionen in Kraft sind. Was die Vorfälle der letzten Monate gemeinsam haben, ist, dass sie ausschließlich Zivilist:innen betroffen haben. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir vor einer großen Veränderung in der Strategie der bewaffneten Gruppen stehen.

Die bewaffneten Gruppen scheinen sich nach einer Reihe von Angriffen, die hauptsächlich auf die Verteidigungs- und Sicherheitskräfte abzielten, dazu entschlossen zu haben, ihre Waffen gegen Zivilist:innen zu richten, und zwar aus Gründen, die normale Bürger:innen kaum erfassen können und die kein:e Kenner:in der Konfliktdynamiken in der Region bislang zu erklären vermochte. Es ist auch schwierig, eine Erklärung zu finden, denn bei keiner der jüngsten Tragödien ist klar, wer genau dahinter steckt.

Obwohl sich bislang niemand zu den abscheulichen Verbrechen bekannt hat, kursieren mehrere Erklärungsversuche für die Motive in der Öffentlichkeit; und einer davon verdient unsere Aufmerksamkeit, weil er nicht nur von der Regierung vorgebracht wurde, sondern auch von Organisationen der Zivilgesellschaft. Die jüngste Erklärung der Regierung, die nach der kriminellen Tat in Banibangou veröffentlicht wurde, stellt klar, dass es sich um gezielte Tötungen handelt. Diese Version wurde auch von der Zivilgesellschaft von Tillabery unterstützt, die in einer Deklaration die These der „ethnischen Säuberung“ vertritt.   

Zusätzlich zu diesen Reaktionen gab es zahlreiche Wortmeldungen, die von „ethnischem Targeting“ der Opfer sprechen, insbesondere in der Region Tillabery, die also von der gezielten Tötung Angehöriger einer bestimmten ethnischen Gruppe ausgehen, wenn sie auf die Herkunft der in Tillia Getöteten hinweisen. Natürlich hat niemand versucht, die ethnische Herkunft der Mörder zu identifizieren, aber es ist zu befürchten, dass die Betonung des „ethnischen Targetings“ am Ende einem Konflikt anderer Ursache eine ethnische Färbung gibt. 

In jedem Fall ist es angesichts der Geschehnisse in anderen Ländern der Region, insbesondere in Mali und Burkina Faso, wichtig, sich der Risiken bewusst zu sein, die mit der Verbreitung von Gerüchten und ungesicherten Informationen verbunden sind, die den bewaffneten Gruppen das Ziel „ethnischer Säuberung“ unterstellen. Diese Gerüchte und Informationsschnipsel werden manchmal absichtlich gestreut. Sie haben dem bewaffneten Konflikt in Mali einen ethnischen Anstrich verliehen und dürften das ohnehin schon wütende Feuer in den Regionen Tillabery, Tahoua und Diffa noch weiter anfachen.  

Insbesondere angesichts von angestauten Ressentiments und Frustrationen aufgrund der katastrophalen Verwaltung des Landes in den letzten zehn Jahren, ist es wichtig, wachsam zu bleiben und sich des Ausmaßes der Gefahr bewusst zu sein, die die gesamte Sahelzone bedroht. Man sollte nicht der Versuchung nachgeben, einen Konflikt zu „ethnisieren“, wenn doch eine der Hauptfragen, um die es geht, die Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität der Länder der Sahelzone ist.

Die „Ethnisierung“ der gegenwärtigen Konflikte in der Sahelzone würde den Weg zum Zerfall unserer Staaten öffnen – zur großen Freude derer, die seit langem darauf hinarbeiten.

Übersetzung: Ramona Lenz

Veröffentlicht am 24. März 2021
Moussa Tchangari

Moussa Tchangari

Moussa Tchangari ist Generalsekretär der Journalist:innenvereinigung Alternative Espaces Citoyens im Niger, mit der medico seit vielen Jahren zusammenarbeitet.


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