Covid-19

Menschenrechtsarbeit unter allen Umständen

Afghanistan hat fast nichts, das es dem Virus entgegensetzen kann. Von Jawad Zawulistani.

Nur schlechte Nachrichten aus dem Süden sind Nachrichten und Teil des kolonialen Blicks. Wir baten unsere Kolleg*innen aus Afghanistan um einen Artikel zu Covid-19 angesichts der horrenden Zahlen, die in unseren Medien zirkulieren. Im nachfolgenden Text tauchen sie nicht auf. Tatsache ist, dass es 38.243 getestete Fälle in Afghanistan gibt, von denen 1.409 starben. Wie unsere Kolleg*innen unter den auferlegten Restriktionen unbedingt und mit großer Entschlossenheit ihre Menschenrechtsarbeit fortsetzen, schildert der nachfolgende Text.

Auf dem Höhepunkt der ersten Covid-19-Welle in Kabul rief eine lokale Freiwilligengruppe, die bedürftige Familien mit Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln versorgt, Mahnaz an. Sie informierten die alleinerziehende Mutter, wo sie am nächsten Tag ihr Hilfspaket abholen könne. Dort erschien dann eine andere junge Frau, um das Paket für Mahnaz entgegennehmen. Auf die Frage, warum Mahnaz nicht selbst gekommen sei, antwortete sie: „Sie besitzt keine Schuhe.“

In einem Land, das seit mehreren Jahrzehnten nichts anderes als Konflikte und Krisen erlebt hat, ist Covid-19 als womöglich schlimmstes Schreckgespenst von allen aufgetaucht. Es gibt fast nichts, was das Land dem Virus entgegensetzen kann, außer der Widerstandsfähigkeit der Menschen. Vielen mag Covid-19 angesichts dessen, was sie bereits erleiden mussten, wie eine Bedrohung der kleineren Art erscheinen. Doch noch haben sich die umfassenden sozioökonomischen Folgen der Pandemie nicht voll entfaltet. Und vor dem Hintergrund der besonderen Situation in Afghanistan könnte jede Einordnung der Schwere des Problems und seiner langfristigen Auswirkungen eine heillose Untertreibung sein.

Alle Schwächen offengelegt

Als Covid-19 im Nachbarland Iran zum Ernstfall wurde, nahm die Rückkehr nach Afghanistan exponentiell zu: Von Ende Februar bis Ende März 2020 sind schätzungsweise 100.000 Af- ghan*innen zurückgekehrt, manche freiwillig, andere wurden deportiert. Ihren Beschluss, die Grenzübergänge zum Iran zu schließen, hielt die afghanische Regierung nicht lange durch. Die Folge: In den Grenzprovinzen Herat und Nimruz breitete sich die tödliche Krankheit rasch aus. Und mit den Rückkehrer*innen sprang sie ungehindert auf das gesamte Land und nach Kabul über. Mitte März rief die Regierung dann den Lockdown für die Ballungszentren aus – ohne sich allerdings darum zu kümmern, dass ein Großteil der Bevölkerung es sich nicht leisten kann, sich zu isolieren. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze und von der Hand in den Mund.

Das Gesundheitssystem Afghanistans zählt zu den fragilsten der Welt. Es ist vollständig von ausländischer Hilfe abhängig. Es verfügte weder über die erforderliche Testkapazität, um die Ausbreitung des Virus zu messen, noch ist es in der Lage, die Einhaltung von Bewegungseinschränkungen zu kontrollieren. Die Pandemie legt sämtliche Schwächen des Systems und der Gesundheitsinfrastrukturen offen: von katastrophal schlechter Hygiene und dem Mangel an Material und Fachpersonal über Günstlings- und Misswirtschaft bis zu erniedrigenden Prozeduren durch Behörden und offene Diskriminierungen. Angesichts all dieser Schwierigkeiten lieferten die vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Statistiken kein realistisches Bild des realen Infektionsgeschehens. Die Maßnahmen der Regierung orientieren sich denn auch eher an Medien- und Lageberichten aus Nachbarländern.

Unterdessen wütete die Gewalt von allen Seiten weiterhin im ganzen Land. Die Forderungen nach einem Waffenstillstand, wie sie die Zivilgesellschaft, aber auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen erheben, werden ignoriert. Zudem schränken die unsichere Lage und neue Restriktionen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten den Zugang humanitärer Organisationen in entlegene Gebiete stark ein. Unter diesen Umständen ist es uns als Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) eine große Herausforderung, die Arbeit mit den besonders marginalisierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppen wie Kriegsopfern und Binnenvertriebenen fortzusetzen. Gleichzeitig waren wir uns unserer Verantwortung bewusst: Unter keinen Umständen sollte der Virus unseren Kampf für die Menschenrechte in Afghanistan auf Eis legen. Daher haben wir überlegt, wie wir unsere Arbeit an die neue Situation anpassen können.

Aus der Nische in den Mainstream

In Erwartung weiterer Covid-19-Restriktionen haben wir in einem ersten Schritt unsere technischen Infrastrukturen ausgebaut. Obwohl wir in einem am wenigsten entwickelten Teil des Planeten leben, wo mehrstündige Stromausfälle Alltag sind, konnten wir fast ununterbrochen kommunizieren. Veranstaltungen, Treffen und Workshops haben wir auf OnlinePlattformen verlegt. Das hat dazu geführt, dass Advocacy-Veranstaltungen wie die Gesprächsreihe „Gerechtigkeit, Toleranz und Friedenskonsolidierung in Afghanistan“ ein Publikum im ganzen Land und darüber hinaus erreicht haben. Der Effekt ist, dass die Einbeziehung von Kriegsopfern in den afghanischen Friedensprozess von einer vergessenen Frage zu einer Mainstream-Diskussion geworden ist.

Intern haben wir einen flexiblen Arbeitsansatz entwickelt, der uns und denjenigen, mit denen wir zusammenarbeiten, hilft, die erforderliche Widerstandsfähigkeit zu entwickeln und den psychischen Druck lindert, den die Pandemie in den frühen Stadien auf alle ausübte. In dieser Zeit haben wir eine Gesamtbewertung unserer Organisation durchgeführt: Welche Bedarfe gibt es, wo liegen Schwächen? Zum einen hat das Kolleginnen und Kollegen Sorgen genommen, zum zweiten hat es das Gefühl der Zusammengehörigkeit gestärkt. Die Fürsorge für Kolleg*innen und Partner*innen wurde ebenso wichtig wie die Selbstfürsorge. Auch in unserer Arbeit mit Communities haben wir Änderungen vorgenommen, sei es bei der Organisation von Kriegsopfern oder von freiwilligen Jugendlichen zur Bewältigung ethnischer Konflikte. Mit Graswurzelstrategien haben wir auch versucht, den Auswirkungen von Covid-19 in einem armen Viertel von Kabul entgegenzuwirken. AHRDO-Kolleg*innen waren in Freiwilligengruppen aktiv, die sich um die Versorgung von Vierteln, in denen der Hunger eine reale Bedrohung ist, mit lebenswichtigen Gütern kümmerten.

Trügerische Normalität

Es scheint, als sei das Leben in Kabul wieder in einen normalen Lauf zurückgekehrt. Universitäten sind geöffnet, Schulen ebenso. Welche Auswirkungen die Pandemie auf die Gesellschaft hat, ist noch nicht erfasst. So wollen wir wissen, wie viele Schülerinnen und Schüler in ihre Klassen zurückgekehrt sind und ob die Zahl der Mädchen stärker zurückgegangen ist, weil Familien, die noch ärmer sind als sie es vor der Covid-19-Ära waren, ihre Mädchen nicht mehr zur Schule schicken. Es kann sein, dass schon jetzt sechs von zehn Schülerinnen von der Schule genommen wurden. Auf dem Arbeitsmarkt ist das Bild ähnlich düster. Verstärkte Ausbeutung, Lohnkürzungen, geringere Sozialleistungen, höhere Arbeitslosigkeit – all das sind Folgen von Covid-19. Besonders Tagelöhner*innen sind hart getroffen worden und es steht zu befürchten, dass sich an ihrer Situation erst einmal nichts ändern wird. In einem Satz: Während die Gefahr einer zweiten Welle über Afghanistan schwebt, das internationale Engagement nachlässt und ein wirklicher Friedensprozess in weite Ferne gerückt ist, bleibt den Menschen kaum noch etwas, was sie teilen können – lediglich Angst und Unsicherheit.

Jawad Zawulistani

Jawad Zawulistani ist Verwaltungsdirektor von AHRDO. Der Titel bezeichnet, so Jawad, nur ungenügend seine Tätigkeit. Er wie alle anderen in der wenig hierarchisch organisierten Gruppe erledigt die Aufgaben, die gerade anstehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 16. September 2020

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