Interview

Holocaust und Weltgedächtnis

Ein Gespräch mit der Publizistin Charlotte Wiedemann über Kontexte des Erinnerns, verpasste Chancen und das kolonial geprägte Herrschaftsnarrativ der Geschichte.

medico: In Westdeutschland wurden die Verbrechen des deutschen Kolonialismus weitestgehend ausgeblendet. In deinem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ berichtest du über den Maji-Maji-Aufstand in Tansania. Was ist daran so bemerkenswert?

Charlotte Wiedemann: In Tansania wird darauf Wert gelegt, nicht von einem Aufstand, sondern von einem Krieg zu sprechen. An diesem antikolonialen Krieg, der eigentlich in jedes Schulbuch gehört, gibt es zwei interessante Aspekte. Es war ein extrem asymmetrischer Krieg. Auf afrikanischer Seite gab es 200.000 Todesopfer, die nicht nur im Kampf fielen, sondern auch als Opfer der deutschen Politik der verbrannten Erde verhungerten. Die Gesamtzahl der geschätzten Opfer des deutschen Kolonialismus allein in Ostafrika beträgt eine Million. Das schafft ein Bild größerer Nähe zu den NS-Verbrechen, was die quantitative Dimension betrifft.

Die Ereignisse in Tansania sind aber auch deshalb so bemerkenswert, weil sich daraus zwei diametral entgegengesetzte Erinnerungskulturen entwickelt haben. Auf der deutschen Seite eine Kultur des Nichterinnerns, des Verschweigens. Im multiethnischen Tansania hingegen war die Erinnerung an diesen Krieg ein wichtiger Teil des Nationbuilding. Besonders interessant erscheint mir auch die Geschichte des mittlerweile verstorbenen tansanischen Historikers Gilbert Gwassa, der in den 1960er-Jahren eigens Deutsch und die Sütterlinschrift erlernt hat, um den deutschen Blick auf dieses Verbrechen nachzuvollziehen. Gilbert Gwassa konnte für seine Doktorarbeit damals in Tansania noch Zeitzeugen interviewen, die als Kinder diesen Krieg und die Repression der deutschen Kolonialherren miterlebt hatten.

Ein Zeitzeuge berichtete ihm von den regelmäßigen Hinrichtungen von Anführern oder Dorfältesten. Dazu mussten sich alle Bewohner:innen des Dorfes einfinden. Die Kinder, darunter der Augenzeuge, wurden in die erste Reihe gestellt. Man erlaubte ihnen nicht einmal, ihren Blick im Rock der Mutter zu verbergen. Sie wurden gezwungen zuzuschauen, wie eine Respektsperson ihres Dorfes, ein Mann, den sie kannten, an einem Baum aufgehängt wurde. Sie waren in den Augen der Deutschen keine Kinder, deren Seelen für immer verletzt wurden. Sie hatten mit Kindern des deutschen Kaiserreichs nichts gemein, waren einfach nur Bestandteil des Feindkörpers. Den anderen aus dem gemeinsamen Menschsein auszuschließen, darin bestehen für mich Bezüge zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Verbrechen.

Aufseiten der neuen postkolonialen Staaten gibt es auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte und Forderungen nach Rückgabe von Kulturgütern und nach Entschädigungen. Die Kolonialmacht verweigert allerdings das Gegenüber, den Echoraum. Ist hier der Entkolonisierungsprozess gescheitert?

Gilbert Gwassa konnte damals Archive in Ostberlin und Potsdam nutzen. In der DDR gab es eine größere Offenheit für die Wahrnehmung der kolonialen Verbrechen. Das hat sich allerdings, soweit ich weiß, wenig auf das Alltagsbewusstsein der DDR-Deutschen ausgewirkt. Die verweigerte Anerkennung von Tätergeschichte blockiert heute die Chancen globaler Gemeinsamkeiten, wie sich gegenwärtig am Beispiel des Ukraine-Kriegs zeigt. Da es kein gemeinsam geteiltes Weltgedächtnis gibt, stellt sich die Frage, wie Europa von afrikanischen Ländern fordern kann, mit einem europäischen Land solidarisch zu sein. Von 54 Ländern Afrikas haben 52 eine koloniale Erfahrung.

Die offizielle Erinnerungspolitik taugt dazu, um Deutschland nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch zu einer führenden Macht des Westens zu machen. Damit einher geht eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs – wie jetzt gegen die Documenta-Macher:innen –, der politische Räume und Freiheiten schließt. Wie kommen wir aus diesem erinnerungspolitischen Dilemma heraus?

Ich bin mir nicht sicher, worin genau die Staatsräson in Deutschland besteht. Die Rede von der Sicherheit Israels definiert nicht, welche Form von Sicherheit gemeint ist. Und die Singularität der Shoah, worum die Debatte im Zusammenhang mit den Kolonialverbrechen lange kreiste, wird jetzt mit Putin-Hitler-Vergleichen deutlich infrage gestellt. Selbst die festgeschriebene Erinnerungskultur ist also keineswegs so fest, dass sie sich nicht auch ändern könnte, wenn sich politische Maßgaben ändern.

Relevant ist die Frage, ob die Setzung einer Singularität des Holocausts verhindert, dass wir zu einer anderen Art von Weltgedächtnis kommen. Mich hat diese Frage beim Schreiben sehr beschäftigt. Ich habe die Passagen, die sich dieser Frage widmen, immer wieder umgeschrieben. Meine Antwort darauf, so dachte ich, muss den Ort Treblinka aushalten. Es ist etwas anderes, wenn ich mich in Westafrika hinsetze und mich frage, ob das Wort von der Singularität stimmt oder nicht. Letztlich muss die Antwort beide Orte und Erfahrungskontexte aushalten.

Meine Schlussfolgerung war, dass ich das nur für meine eigene Person beantworten kann. Mein lebenslanges Erschrecken und Nichtfertigwerden mit den NS-Verbrechen ist für mich persönlich in dem Wort Singularität aufgehoben. Das ist ein emotionaler, kein wissenschaftlicher Begriff. Und damit anderes Leid abzuqualifizieren, ist ein kolonialistischer, wenn nicht rassistischer Standpunkt, und ein Missbrauch der Shoah.

Du schreibst: „Wer gestern einer postkolonialen Linken vorwarf, sie relativiere den Judenmord, versenkt die Spezifik der NS-Verbrechen in einem wiederentdeckten Antitotalitarismus. Als wolle die Debatte hinter den Historikerstreit von 1986 zurückfallen.“ Singularität der Shoa einerseits und trotzdem eine andere Form der Erinnerungskultur. Wie geht das zusammen?

Ich fühle mich jetzt etwas missverstanden, denn ich will die Singularität ja keineswegs als Dogma gesetzt sehen. Im Gegenteil: als Dogma bewirkt sie zwangsläufig eine Hierarchisierung von Opfern. Und ich habe den Verdacht, dass manche so vehement an dieser These festhalten, weil sie genau diese Hierarchisierung wollen. Dieselben Leute, die eine Einbeziehung der kolonialen Opfer in die Erinnerungskultur mit dem Argument abwehrten, dadurch würde der Holocaust relativiert, befürworten jetzt eine Form von Antitotalitarismus, die Nationalsozialismus und Stalinismus gleichsetzt.

Im Historikerstreit von 1986 war es die dezidiert rechte Position, die Judenvernichtung als Nachahmung stalinistischer Verbrechen zu betrachten, als sogenannte „asiatische Tat“. Das hielten wir bis vor kurzem für überwunden. Wenn heute russische Stimmen den Stalinismus als Ursache des Zweiten Weltkriegs bezeichnen, sind das aus meiner Sicht bei allem Respekt für die politische Dissidenz geschichtsrevisionistische Positionen. Ich bin bestürzt, wenn man solche Positionen nun unter einem antikolonialen Blickwinkel gutheißen soll.

Haben wir jetzt also drei Fälle von Historikerstreit? Den von 1986, einen, der um die Frage der Singularität kreist, und nun einen um die in Osteuropa durch den Stalinismus begangenen Verbrechen und ihrer Bewahrung im kollektiven europäischen Gedächtnis?

Es sind ja weniger Historiker:innen, die hier debattieren. Die von dir genannte Debatte um den vorgeblichen postkolonialen Antisemitismus wurde vor allem von Feuilleton-Redaktionen geprägt, die nicht auf der Höhe der Zeit sind und die aktuelle Forschungslage gar nicht kennen. Sowohl zum kolonialen Charakter des Ostfeldzugs der Wehrmacht wie zur Beteiligung nicht-deutscher Kräfte an der Judenvernichtung in den besetzten Ländern sind seit 1986 wesentliche Erkenntnisse hinzugekommen.

Jetzt befinden wir uns in einer neuen Phase, in der alles, was man als Holocaust-zentrierte Erinnerungskultur bezeichnen könnte, infrage gestellt wird. Rechte präsentieren sich heutzutage nicht mehr als Holocaust-Leugner, sondern kapern den Begriff des Holocaust, um sogenannte nationale Unterdrückung zu beschreiben. Der Begriff wird quasi „entjudaisiert“, so bereits in Ungarn, oder wenn in der polnischen Geschichtspolitik vom „Polocaust“ gesprochen wird: polnische Bürger:innen wurden sowohl von Stalin als auch von Hitler umgebracht. Ähnliche Narrative gibt es in einer Reihe mittel- und osteuropäischer Länder. Das stellt alle, die aus der Shoa eine Bürger:innenpflicht ableiten, sie im Gedächtnis zu behalten, vor eine große Herausforderung. Ich halte es deshalb für wichtig, dass man gute universalistische Argumentationen aufbaut.

Wir bleiben noch mal bei der Gefahr der Relativierung. Kann das nicht passieren, wenn alle grausamen Verbrechen der Menschheit in die Nähe des Holocausts gerückt werden und der Begriff quasi auf viele Verbrechen ausgeweitet wird?

Ich plädiere nicht für eine Erweiterung des Begriffes Holocaust. Aber dass damit im Westen ausschließlich die Vernichtung der Juden gemeint ist, hat eine Geschichte, die man kennen sollte. Bei der Planung des Washingtoner Holocaust-Museums in den 1970er-Jahren gab es eine innerjüdische Kontroverse: Simon Wiesenthal plädierte dafür, dass alle rassistischen Opfer der NS-Verbrechen unter den Begriff Holocaust fallen sollten, also zum Beispiel auch Sinti und Roma und die Leidtragenden der Euthanasie. Wiesenthal kam insgesamt auf elf Millionen Opfer.

Eli Wiesel wollte hingegen das Holocaust-Museum auf jüdische Opfer begrenzen und setzte sich damit durch. Über die USA kam die Definition auch nach Deutschland. So entstand im öffentlichen Bewusstsein leider ein großer Abstand zwischen der Judenvernichtung und etwa der Ermordung von Sinti und Roma, die an denselben Orten und – in einer Formulierung Heinrich Himmlers – aus den gleichen Motiven getötet wurden.

Du schreibst ein Nachwort zur Ukraine und warnst darin vor der Relativierung der NS-Verbrechen aus Mitgefühl für die heutigen Opfer. Was meinst du damit?

Wenn verzweifelte Stimmen aus der Ukraine Vergleiche mit Auschwitz ziehen, kann man dies als Appelle an die internationale Öffentlichkeit verstehen – man greift auf die Erinnerung mit dem größten globalen Prestige, mit dem größten Echoraum zurück. Aber wenn zum Beispiel RTL online den Satz „Auschwitz war nichts dagegen“ zu einer Überschrift macht, frage ich mich, was die Motive sind. Schon bei der großen Friedensdemonstration in Berlin gab es die Schilder: Putin ist Hitler, noch vor den Verbrechen in Butscha.

Auch der Begriff Vernichtungskrieg war sehr schnell ein feststehender Terminus. Er stand bis dahin für den Vernichtungskrieg der Wehrmacht, der in der Sowjetunion, insbesondere in der Ukraine und Belarus wütete, und zehn Million Opfer kostete. Dieser Vernichtungskrieg der Wehrmacht ist in Deutschland auch unter Medienschaffenden zu wenig bekannt. Selenskyj spricht nun vom „totalen Krieg“. Verschiedene Stimmen benutzen heute mit unterschiedlichen Motiven Gleichsetzungen, die ich für fatal halte. Um das Leid in der Ukraine zu beschreiben, sind sie nicht nötig. Denn das Leid dort spricht für sich.

Im Vorwort zu deinem Buch schreibst du, dass es dir um eine andere Form des Erinnerns geht: „Ein Erinnern für eine Welt, in der es keine Hierarchie von Leiderfahrung mehr gibt und keinen Schmerz, der nicht zählt. Ein Erinnern für eine neue Ethik der Beziehungen und einen Antifaschismus des 21. Jahrhunderts.“ Was meinst du damit?

Eigentlich sollte man genauer vom „historischen Begreifen“ oder von Geschichtsbildern sprechen. Erinnerungskultur ist nicht statisch, sondern eine Geschichte von Kämpfen. In den 1960er-Jahren und noch lange danach bestand die Auseinandersetzung um Erinnerung darin, dass man etwas aussprach, was die Mehrheit nicht aussprechen wollte. Dieser Kampf wird heute fortgesetzt, wenn es um koloniale Opfer geht. Erneut muss Tätergeschichte offengelegt werden. So könnten wir allmählich Schritte hin zu einem gemeinsam geteilten Weltgedächtnis gehen.

Das wäre eine neue Ethik der Beziehungen. Was den Antifaschismus des 21. Jahrhunderts betrifft: Es gibt eine aktive antifaschistische zivilgesellschaftliche Kultur, wie sie sich etwa in Hanau nach den Morden zeigt. Sie verlangt beharrlich die Aufklärung über die rechtsradikale Tat und einen anderen Umgang mit den Angehörigen. Ein Antifaschismus des 21. Jahrhunderts wäre eine Verwebung dieser gesellschaftlichen Kultur, die heute vor allem Minderheiten in Deutschland entwickeln, und der großen Aufgabe, aus dem Geist der globalen Gerechtigkeit ein anderes Geschichtsverständnis zu entwickeln.

Das Interview führten Katja Maurer und Steen Thorsson. Das ganze Gespräch ist in Folge #6 des medico-Podcasts Global Trouble zu hören.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 12. Juli 2022

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