Ukraine

Die unsichtbare Hand der Hilfe

18.11.2025   Lesezeit: 6 min

Über den Ausverkauf der Ukraine in Zeiten des Krieges.

Von Karoline Schaefer

Der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter. Die vor allem von US-Präsident Donald Trump genährte Hoffnung, dass es in diesem Jahr vielleicht noch zu einem Waffenstillstand kommen könnte, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil. Weiterhin sterben jede Woche Tausende in den Frontgebieten, die Angriffe auf zivile Infrastruktur gehen mit verstärkter Intensität weiter und die Abhängigkeit der Ukraine von ausländischer Hilfe steigt. Dabei geht es allerdings nicht nur um die viel diskutierten Waffenlieferungen westlicher Staaten, sondern auch um internationale Hilfsgelder durch multilaterale, staatliche und private Akteure. Ein Teil dieser Gelder, die zum Beispiel von der EU und Deutschland gezahlt werden, fließt als Zuschuss in die Ukraine, also als finanzielle Unterstützung, die nicht zurückgezahlt werden muss. Diese Gelder gehen beispielsweise in die Finanzierung der humanitären Hilfe, der Gesundheitsversorgung oder der Reparatur der Energieinfrastruktur vor Ort. Fast zwei Drittel der bislang bereitgestellten ausländischen Gelder wurden allerdings als Kredite vergeben – durch unterschiedliche Gläubiger und mit unterschiedlichen Laufzeiten und Konditionen. 

Aktuell beträgt die Auslandsverschuldung der Ukraine nach Zahlen der ukrainischen Regierung fast 150 Milliarden US-Dollar. Hinzu kommen rund 45 Milliarden US-Dollar an inländischer Verschuldung. Damit hat die Schuldenlast der Ukraine beinahe die Größe ihres Bruttoinlandsprodukts erreicht. Die Prognosen für die Folgejahre sind düster. Auf circa 500 Milliarden US-Dollar werden die Kosten für den Wiederaufbau in den kommenden zehn Jahren von der Weltbank geschätzt, andere gehen von weit höheren Beträgen aus. Diese Gelder wird die Ukraine nicht alleine aufbringen können. Schon jetzt sind die Rückzahlungsverpflichtungen neben den Verteidigungsausgaben der größte Posten im ukrainischen Haushalt. Und durch die immense Steigerung der Waffen- und Millitärausgaben hängt das Funktionieren des Staates inzwischen zu einem großen Anteil von ausländischen Finanzhilfen ab. 

Schulden als Hebel 

Beim Blick auf die Gläubiger der Ukraine offenbart sich ein diverses Bild der Auslandsverschuldung. Das Land ist sowohl bei anderen Staaten, bei multilateralen Institutionen wie der EU, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank als auch bei privaten Gläubigern verschuldet. Bei Letzteren handelt es sich oft um Investmentfonds oder große internationale Banken, die Schuldtitel in Form von Staatsanleihen halten. Schon vor dem Beginn der Vollinvasion beliefen sich die Staatsschulden der Ukraine auf über 50 Milliarden US-Dollar, fast die Hälfte davon entfiel auf multilaterale Geber, vor allem auf IWF und Weltbank. Seit Februar 2022 ist die EU zum größten Gläubiger geworden. 

Die Kredite von EU, IWF und Weltbank müssen nicht nur als inklusive Zinsen zurückgezahlt werden. Sie sind darüber hinaus oftmals an die Umsetzung von Reformen geknüpft – auch oder gerade in Zeiten des Krieges. So wurden in den letzten Jahren unter internationalem Druck und unter Kriegsrecht neoliberale Reformen durchgesetzt, etwa zur Deregulierung des Arbeitsmarktes und zum Abbau von Rechten von Arbeitnehmer:innen, zur Aufhebung von Marktbeschränkungen für ausländisches Kapital oder zur Liberalisierung des Energiemarktes. Auch wenn Rückzahlungsverpflichtungen an private und multilaterale Geber zeitweise ausgesetzt oder teilweise mit langen Laufzeiten und großzügigen tilgungsfreien Zeiträumen ausgestattet sind, bleibt das Grundprinzip bestehen: Wird die Umsetzung der Konditionalitäten verzögert oder nicht eingehalten, können die Gläubiger die Gewährung von Krediten aussetzen oder verschieben – und damit das Weiterfunktionieren des ukrainischen Staates massiv gefährden. Der Druck ist also hoch. 

Das erinnert an die Strukturanpassungsprogramme, die IWF und Weltbank südamerikanischen und asiatischen Ländern ab den 1980er- Jahren auferlegten. Die Ukraine kennt diese Art „Reformbemühungen“ seit ihrer Unabhängigkeit 1991, nach der sie wie andere postsowjetische Staaten einer „Schocktherapie“ unterzogen wurde. Schulden sind seit jeher der zentrale Mechanismus zur Aufrechterhaltung und Verfestigung ökonomischer Abhängigkeiten – und zur Schaffung von geopolitischem Einfluss. Waren es in den 1990er-Jahren vor allem die von westlichen Staaten dominierten multilateralen Institutionen, die über Kredite und Verschuldung Abhängigkeiten aufgebaut und verfestigt haben, hat sich die Bandbreite an Gläubigern heute diversifiziert.

Strukturanpassungen im Krieg

Im Fall der Ukraine geht es auch um geopolitischen Einfluss. Unter dem Deckmantel der Solidarität schaffen die finanziellen Hilfen neue ökonomische Abhängigkeiten. Durch Kredite sichern sich die Gläubiger, allen voran EU, IWF und Weltbank, wirtschaftlichen Zugang und einen großen Einfluss auf die Regierung in Kyiv. Ziele sind die Ausweitung der eigenen Absatzmärkte, der Zugang zu billiger Arbeitskraft auf einem möglichst deregulierten Arbeitsmarkt – und nicht zuletzt der Zugang zu Ressourcen. Bereits 2021 haben die EU und die Ukraine eine „strategische Rohstoffpartnerschaft“ geschlossen, mit besonderem Fokus auf sogenannte kritische Rohstoffe wie Lithium, Titan, Nickel oder Seltene Erden. Konkurrent ist nicht nur Russland, sondern auch China. Mit dem Rohstoffdeal zwischen den USA und der Ukraine im Februar dieses Jahres hat Trump im Alleingang versucht, sich Zugang zu kritischen Rohstoffen zu sichern. Gleichzeitig liegt ein großer Teil der Vorkommen in aktuell von Russland besetzten Gebieten. Ob sich die Hoffnungen der Ukraine nach umfassenden westlichen Sicherheitsgarantien für die ressourcenreichen Gebiete im Osten erfüllen, ist mehr als fraglich. 

Schon jetzt ist abzusehen, dass ein selbstbestimmter Wiederaufbau nach einem wie auch immer gearteten Ende des Krieges angesichts der horrenden Verschuldung nicht möglich sein wird. Das zeigt sich auch auf den internationalen Wiederaufbaukonferenzen, die zuletzt in Rom und Berlin stattgefunden haben. Dort ging es vor allem um die Mobilisierung und die Zugänge für internationales privates Kapital, ganz im Sinne der auferlegten neoliberalen Reformen. Auch die Wiederaufbauinitiative der Bundesregierung, geleitet durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), soll Investitionen von deutschem Kapital in der Ukraine fördern. Die deutsche und ukrainische Zivilgesellschaft wird hier vor allem als Quelle für Zugänge und Wissen bemüht, die altbekannten Public-private-Partnerships sind gefragt wie nie. Durch die finanziellen Abhängigkeiten der Ukraine wird es auch in einem potenziellen Wiederaufbauprozess kaum Regulierungen für internationales und privates Kapital geben. Auch die ukrainische Oligarchie ist beteiligt. So oder so: Die Weichen für den Ausverkauf der Ukraine werden bereits gestellt. 

Gegen die Logik der Gewalt

Hilfe für die Zivilbevölkerung in der Ukraine

Was eigentlich ist eine Zivilbevölkerung, jene Gruppe von Menschen, von der in Kriegszeiten so häufig die Rede ist? „Für den Krieg wird eine Kategorie von Menschen geschaffen, die ‚außerhalb des Spiels‘ leben. Sie werden beschossen, müssen die Beschüsse ertragen, werden verletzt, scheinen aber keine angemessene Antwort darauf geben zu können. Ich glaube nicht an diese Antwortlosigkeit. Etwas versteckt sich doch im Lächeln, das ich heute mehrmals sah. Eine heimliche Waffe, eine unheimliche“, schreibt die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets über ihre Begegnungen mit einfachen Menschen auf den Straßen Kyivs in Zeiten des Krieges. 

In fast vier Jahren Krieg versuchen die medico-Partner:innen in der Ukraine genau das: der Übermacht des Krieges nicht ohnmächtig, sondern mit dem bescheidenen Repertoire einer Menschlichkeit zu begegnen, die Räume jenseits von Heldentod und Exodus offenhält. In diesem Zwiespalt organisieren die Partnerorganisationen von medico Nothilfe, schaffen Orte der Gastfreundschaft und Solidarität für die im Land Vertriebenen. Sie kämpfen für die Verteidigung des Gemeinsamen, auch gegen die autoritären Tendenzen im eigenen Land. Sie sind dabei mit sinkenden Spendengeldern und steigender Gleichgültigkeit konfrontiert. Unterstützen Sie die Arbeit unserer Partner:innen deshalb gerade jetzt mit einer Spende. 

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 04/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Karoline Schaefer

Karoline Schaefer ist Leiterin der Abteilung für transnationale Kooperation und zuständig für kritische Nothilfe und die Ukraine. 


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