Migration

Die tödlichen Grenzen der Solidarität

Für die Rechte von Geflüchteten – jetzt erst recht.

Von Ramona Lenz

Bald nachdem der türkische Regierungschef Erdoğan Ende Februar 2020 einseitig die Grenzen Richtung Europa öffnete, setzte Griechenland ohne nennenswerten Widerspruch aus der EU das Recht auf Asyl aus. Nur kurze Zeit später, genau an dem Tag, als die deutsche Bundeskanzle-rin die Bevölkerung zu gemeinsamem solidarischen Handeln angesichts der Corona-Pandemie aufrief, stellte die Bundesregierung die humanitäre Flüchtlingsaufnahme ein. Damit waren die tödlichen Grenzen der Solida-rität markiert. Millionen Menschen harren weltweit als Flüchtlinge in elendigen Dauerprovisorien aus, Tausende davon an den Außengrenzen der Europäischen Union, wo sich die Situation in den letzten Wochen noch einmal dramatisch zugespitzt hat. Nur mühsam haben sich einige wenige EU-Länder dazu durchgerungen, wenigstens eine kleine Zahl besonders vulnerabler Menschen aus griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Bis zu 1.600 schwer kranke Kinder mit ihren Familien und unbegleitete Minderjährige unter 14 Jahren, bevorzugt Mädchen, dürfen unter bestimmten Voraussetzungen einreisen.

Dass selbst dieses Mindestmaß an Humanität gegenüber einigen der Schwächsten unter den Geflüchteten schwer durchsetzbar war und weitere verheerende Signale zeigen: Vulnerabilität darf nicht zum alleinigen Maßstab der Flüchtlingsaufnahme und Gnade nicht über Recht gestellt werden. Gerade jetzt kommt es darauf an, den Einsatz für die Rechte von Migrant*innen und Flüchtlingen nicht zugunsten minimaler humanitärer Zugeständnisse preiszugeben. Damit eklatante Rechtsver-letzungen gegen Geflüchtete nicht im Schatten von Corona untergehen, haben wir uns mit anderen europäischen Nichtregierungsorganisationen vernetzt. Darunter auch die Organisation „Forensic Architecture and Forensic Oceanography“, die den Schusswaffeneinsatz gegen Geflüchte-te an der griechisch-türkischen Grenze nachgewiesen haben und juristisch verfolgen werden.

„Wir werden Griechenland und die EU für die begangenen Rechtsverletzungen an Migrant*innen und Geflüchteten, die aus der Türkei geflohensind, verantwortlich machen“, heißt es in unserem gemeinsamen State-ment. Es gilt jetzt, alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die Rechtsverletzungen an Migrant*innen, Geflüchteten und Aktivist*innen an der griechischen EU-Außengrenze zu verantworten haben.


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 09. April 2020

Ramona Lenz

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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