Europawahl

Die Leiden der Anderen

Wie die Rechte vom entpolitisierten Migrationsmanagement profitiert und warum die Europawahl eine Chance ist. Von Jakob Meer und Max Jansen

Zwischen dem 23. und 26. Mai sind etwa 400 Millionen Europäer*innen zur Wahl des EU-Parlaments aufgerufen. Dabei gilt es, auch denen eine Stimme zu geben, die von der Politik zwar betroffen, von der Mitbestimmung aber ausgeschlossen sind.

Neben den Schüler*innen, die seit Monaten unter dem Label „Fridays for Future“ für mehr Klimagerechtigkeit demonstrieren, betrifft dies vor allem Migrant*innen. Ihr Lebensmittelpunkt liegt in einem europäischen Land, aber ohne dessen Staatsangehörigkeit sind sie nicht berechtigt, an der Wahl teilzunehmen. Dabei sind gerade sie von Entscheidungen auf europäischer Ebene stark betroffen.

Im „Sommer der Migration“ 2015 stand das Thema im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit: Viele Menschen engagieren sich bis heute in Integrations- und Willkommensinitiativen. Auch auf den griechischen Inseln in der Ägäis fanden sich Freiwillige zusammen, um die Erstversorgung ankommender Migrant*innen zu organisieren – lange bevor NGOs, EU oder UNO dort tätig wurden. 

Die Rechte profitiert vom entpolitisierten Migrationsmanagement

Inzwischen hat sich das politische Klima verändert, rechte Parteien haben in fast allen Ländern Europas an Stärke gewonnen. Ihr Aufstieg hat seine Ursache auch darin, dass die herrschende Politik angesichts der Entwicklungen des Sommers 2015 überfordert und handlungsunfähig schien. Als wäre es nicht möglich gewesen, sich auf die Ankunft einer größeren Zahl Vertriebener vorzubereiten, obwohl UN-Agenturen aufgrund der Unterfinanzierung von Flüchtlingscamps im Nahen Osten vorhergesagt hatten, dass die Weiterreise nach Europa für viele Menschen die einzige Alternative wäre.
 
Im Jahr 2006 konnten Spanien und die EU die Fluchtroute von Westafrika auf die Kanarischen Inseln dichtmachen, noch bevor das Thema in die breite Öffentlichkeit gelangte. Das führte allerdings nicht zu einem Ende der Migration, sondern leitete sie um. Vor allem an die Küsten Italiens. Anstatt die immer größere Ungleichheit und die Folgen des Klimawandels, denen eine globale kapitalistische Lebensweise zugrunde liegt, als Ursachen von Migration zu adressieren, wurde ein kurzfristiges Migrationsmanagement aufgebaut, das seinen Fokus nur regional verschiebt und die Form rein verwaltungstechnischer Vorgänge annahm.

Die Ursachen der anhaltenden Migration wurden nicht angegangen. Vielmehr beobachten wir eine fortlaufende Ausweitung der globalen Ungleichgewichte, die Militarisierung großer Regionen in Afrika und dem Nahen Osten und eine fortschreitende Umweltzerstörung, die Millionen Menschen weltweit die Lebensgrundlage raubt und damit täglich Fluchtursachen schafft.

Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft

Im Sommer 2015 bauten die Institutionen ein Management des Missstands auf. Auf den griechischen Inseln Chios und Lesbos bedeutete dies unter anderem, dass die ehrenamtliche Hilfe zunehmend eingeschränkt wurde. War das Engagement in der ersten Zeit noch durch eine hohe Diversität an Akteur*innen gekennzeichnet, die durch ihre spontane Hilfe vor Ort das Leid der Ankommenden linderten und zudem einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten, setzte die EU im weiteren Verlauf auf Zentralisierung.

Bestimmte zivilgesellschaftliche Organisationen wurden in die offiziellen Strukturen eingebunden, während andere direkt oder durch Änderungen in Verwaltungsverfahren verdrängt wurden. Wie ein Jahrzehnt zuvor wurde ein vermeintlich rationales Migrationsmanagement aufgebaut. Eine Folge der Zentralisierung ist, dass es für Migrant*innen auf den Inseln immer weniger zivilgesellschaftliche Alternativen zu den hegemonialen staatlichen Strukturen gibt, deren erstes Ziel Abschreckung heißt. Die Maßnahmen der EU hatten auch durch den Rückgang kritischer Berichterstattung eine entpolitisierende Wirkung, die weit über die direkten Hilfsstrukturen vor Ort hinausgeht.

Weil das humanitäre Problem nur verwaltet, nicht aber in seiner Gesamtheit thematisiert wird, kann das rechte Spektrum ausgerechnet mit diesem Thema die Regierungen Europas vor sich hertreiben. Das gelang auch, weil die etablierten Institutionen und Bündnisse keine Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit haben. Zudem gibt es derzeit keine linke Utopie, die es vermag, diese für eine Mehrheit anschlussfähig zu adressieren.

Dennoch forderten in den zurückliegenden Monaten bundesweit Hunderttausende in Bündnissen wie der Seebrücke, auf der „Unteilbar“-Demonstration oder im Rahmen von „Fridays for Future“ eine mutige und zukunftsgewandte Antwort auf die aktuell drängenden politischen Herausforderungen, zu denen auch das Phänomen der internationalen Migration gehört.

Die Fundamente einer besseren Zukunft

Der italienische Politiker und Philosoph Antonio Gramsci beschreibt die Zivilgesellschaft als divers, ihr kann keine eindeutige Funktion zugeschrieben werden. Sie steht vielmehr aufgrund ihrer Heterogenität in einem ambivalenten Verhältnis zum Staat. Bestimmte Akteur*innen der Zivilgesellschaft können durch mächtigere Akteur*innen politisch und kulturell beeinflusst werden. Gerade das Mitwirken zivilgesellschaftlicher Akteur*innen erlaubt es den staatlichen Institutionen mithilfe einer „kulturellen Hegemonie“ ihre Macht zu festigen.

Zugleich sieht Gramsci in zivilgesellschaftlichem Handeln aber auch eine besondere Quelle sozialer Kreativität, von der ausgehend eine neue soziale Ordnung entstehen kann. Die Zivilgesellschaft trägt also einerseits zur Sicherung der Macht des Staates bei, während sie andererseits die Hegemonie durch neue Ideen, soziale Praktiken und den Aufbau einer „Gegenhegemonie“ herausfordern und transformieren kann. Bis es soweit ist, gilt es den kritischen Geist der Zivilgesellschaft zu stärken und bestehende Inseln der Vernunft zu schützen. Hierzu gehört auch, dem Rechtsruck auf europäischer Ebene entgegenzuwirken und die Institutionen für das gesellschaftliche Begehren nach einer offenen und zukunftsorientierten Politik empfänglich zu halten. Auch wenn sie in ihrer aktuellen Ausgestaltung nicht zufriedenstellend sein mögen, können sich die Fundamente der EU für die Gestaltung einer besseren Zukunft als dienlich erweisen.

Die Wahl des Europäischen Parlaments gilt auch als Stimmungsmesser für das gesellschaftliche Klima in Europa. Beobachter*innen befürchten, dass diese Wahl von vielen dazu genutzt werden könnte, ihren Protest gegenüber den jeweiligen nationalen Regierungen zu äußern. Das könnte einen Zuwachs für rechte Parteien bedeuten, die die bisherige Positionierung des Europäischen Parlaments unterlaufen, der zufolge die Antwort auf die Migration nach Europa eine europäische sein muss und eine, die für Menschlichkeit und Solidarität steht.

Veröffentlicht am 14. Mai 2019

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