Rio de Jainero

Black Lives Matter

18.11.2025   Lesezeit: 5 min  
#brasilien 

Gespräch mit der medico-Partnerin Ana Santos über das Massaker der brasilianischen Polizei in ihrem Viertel

Bei einer Operation gegen des Drogenkartell Comando Vermelho tötet die Militärpolizei Ende Oktober über 120 Menschen in zwei Favela-Komplexen Rio de Jaineros. In einer der Favelas, dem Complexo da Penha, ist die medico-Partnerorganisation Centro de Integração na Serra da Misericórdia (CEM) zu Hause. Mitbegründerin Ana Santos spricht über das größte Massaker in der Geschichte Rios und darüber, wie sie mit ihrer Arbeit weitermachen werden. Jetzt erst recht. 
 

Zunächst einmal: Wie geht es dir, deiner Familie und deinem Umfeld heute, wenige Tage nach den Angriffen auf eure Nachbarschaft? 

Es ist tatsächlich schwer zu sagen, wie es uns geht. Angesichts all der Verletzungen, die wir erlebt haben und weiterhin erleben, verspüre ich immer noch ein Gefühl der Panik. Ich kann nicht darüber sprechen, ohne zu weinen. In unserem Zentrum, in dem wir neben kommunitären Bildungsangeboten auch Lebensmittel aus eigenem Anbau verarbeiten, musste kürzlich eine von uns früher nach Hause gehen, weil sie auch mehrere Tage nach dem Massaker noch so stark zitterte, dass sie die Lebensmittel nicht anfassen, halten oder schneiden konnte. Die Polizeigewalt hat uns sehr zum Nachdenken darüber gebracht, was es bedeutet, in einem Gebiet zu leben, das vom Staat aufgegeben wurde. Und auch darüber, wie lange wir all das überhaupt noch aushalten und durchhalten können. 

Wo wart ihr während der Polizeioperation und wie habt ihr euch geschützt? 

Bei den Polizeirazzien, die es in unseren Vierteln regelmäßig gibt, bleiben wir immer alle zu Hause. Das ist unsere Regel, quasi ein ungeschriebenes Protokoll unserer Gemeinschaft und der verschiedenen Gruppen, die hier zusammen leben und arbeiten. Gemeinsam bestärken wir in diesen Situationen die Bewohner:innen der Favela, zu Hause zu bleiben und beispielsweise die Anweisungen ihrer Arbeitgeber zu ignorieren. Die Chefs drohen in der Regel damit, die arbeitenden Leute, egal ob sie formell oder informell arbeiten, zu entlassen, wenn sie nicht zur Arbeit erscheinen. Doch der Weg zur Arbeit ist unter solchen Bedingungen mitunter lebensgefährlich. Wir verlassen also unsere Häuser nicht, wir halten uns nicht einmal in unseren Gärten auf. Stattdessen kommunizieren wir über diverse WhatsApp-Gruppen, von denen manche offen für alle sind, andere wiederum nur für Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Über diese Kommunikation informieren wir uns darüber, ob die Polizei in der Nähe unseres Wohnortes ist, ob jemand krank ist oder anderweitige Hilfe benötigt. Auf diese Weise gelingt es uns, kollektiv eine Polizeioperation zu überstehen, ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. 

Wie stark ist eure Gegend von der Polizeioperation betroffen gewesen? 

Wir wohnen und arbeiten inmitten des Complexo da Penha, einem Verbund aus 13 Favelas im Norden von Rio de Janeiro. Dort, wo wir unser Zentrum betreiben, befindet sich auch der Gebirgszug der Serra da Misericórdia, der innerhalb der Favela beginnt und durch einen Steinbruch führt. Die Gegend hat einen sehr schlechten Ruf, weil Gewalt hier zum Alltag gehört und auch die Drogenkartelle eine starke und sichtbare Präsenz haben. Sicherheitsapparate und die Medien haben dem Ort immer wieder böswillige Spitznamen gegeben, wie Serra da Violência („Berg der Gewalt“) oder auch Serra do Crime („Berg des Verbrechens“). Diese Diskreditierung wirkt sich negativ auf uns Bewohner:innen aus und es ist nicht verwunderlich, dass nach dem Polizeimassaker viele Leichen genau hier gefunden wurden. 

Wie ging es weiter, nachdem die Polizeioperation beendet war? 

Als das Massaker vorbei war, wurden Dutzende Tote auf offener Straße nebeneinander aufgereiht. Vor aller Augen lagen sie da. Viele aus dem Viertel sagten, sie denken dabei an Gaza, ich aber dachte an die Sklavenschiffe, auf denen ein Teil der Schwarzen Bevölkerung umkam und auf den Meeresboden geworfen wurde, nachdem sie zuvor in Reihen aufgestapelt worden waren. Am Tag danach suchten wir nach weiteren Leichen. Ich sah Kinder, wie sie nach den toten Körpern ihrer Familienangehörigen und Freund:innen suchten. Ich war entsetzt. Ich hatte bei unserem Engagement hier immer die Fantasie vor Augen, dass diese Kinder der Serra da Misericórdia eines Tages vielleicht Früchte pflücken, die Vögel beobachten oder Wasser aus dem Fluss trinken würden. Ich frage mich, wie all das möglich sein kann. Warum passiert solch eine Gewalt selbst hier, wo es Wasser gibt und guten Boden für den Anbau von Lebensmitteln, um uns Favela-Bewohner:innen zu versorgen? Warum geht der Staat selbst mit so einem Ort dermaßen gewaltvoll um, anstatt mit ihm und seinen Bewohner:innen so etwas wie Perspektiven zu entwickeln? 

Es war zwar das schlimmste, aber bei Weitem nicht das erste Polizeimassaker in der Geschichte Rios. Woher kommt diese Gewalt? 

Dass es solch eine Gewalt noch immer gibt, liegt schlichtweg am strukturellen Rassismus in Brasilien. Der Rassismus erlaubt es der Polizei, uns zu töten. Und solang wir in einem Land leben, dessen gesamte gesellschaftliche Struktur rassistisch ist und in dem wir nicht einmal aussagekräftige öffentliche Daten über die Lebensumstände der Schwarzen Bevölkerung haben, solang wir weiterhin schlechtere Löhne gezahlt bekommen und solang die Ungleichheit weiterhin zunimmt, weil wir einfach keine Zugänge zu den öffentlichen Institutionen und Ressourcen bekommen, solang wird es auch diese Art von Gewalt geben. 

Was wird CEM als Nächstes unternehmen, was sind eure nächsten Schritte? 

Wir machen trotz allem damit weiter, womit wir 2011 begonnen haben: Wir sorgen für das, wofür der Staat nicht aufkommt. Es gibt hier keine öffentlichen Investitionen in die soziale Infrastruktur, es gibt keine guten Schulen, keine funktionierende Gesundheitsstation. Also kümmern wir uns darum. Wir entwickeln gemeindebasierte Strategien für unsere Gesundheitsversorgung, ebenso wie für eigene Bildungseinrichtungen. Wir fördern eine agrarökologische Produktion von Lebensmitteln und vermitteln im Rahmen unserer Möglichkeiten ein Verständnis von dekolonialer Kultur und Bildung von unten. Eigentlich stärken wir selbst unsere Menschenrechte, indem wir eine aktive und teilhabende Bürger:innenschaft herstellen, anstatt sie nur einzufordern. Und stell dir vor, sowohl Kinder als auch Erwachsene kommen zu uns, nutzen unser Angebot und unsere Räume, weil sie im Unterschied zu den staatlichen Alternativen hier in Würde sein können. Und jetzt kommt erneut die Militärpolizei, um uns diese Würde gewaltsam zu entreißen. Doch wir machen weiter. Wir säen weiter, wir bilden weiter, wir bauen weiter – aktuell an einem neuen Gemeinschaftsplatz. Wir organisieren uns und leisten so Widerstand. Und wir wachsen. 

Das Interview führte Timo Dorsch. 

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 04/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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