Israel/Palästina

50 Jahre wovon?

Im Juni 1967 eroberte Israel unter anderem Ost-Jerusalem, den Gazastreifen und das Westjordanland. Bis heute sind die Gebiete besetzt. Frieden hat das keiner Seite gebracht. Von Riad Othman

Verlorene Gesichter

Während einer Reise nach Israel im Jahr 2014 besuchte die kanadisch-jüdische und in Jerusalem geborene Schriftstellerin Ayelet Waldman auch die besetzten palästinensischen Gebiete, wo sie mit dem medico-Partner Breaking the Silence nach Hebron fuhr. Nach einem anfänglichen Gefühl der Ohnmacht wurde daraus ein außergewöhnliches Buchprojekt, das am 30. Mai 2017 unter dem Titel Kingdom of Olives and Ash erschienen ist: Über drei Jahre reisten insgesamt 26 Schriftsteller*innen, darunter auch die in Berlin lebende Eva Menasse, mit Breaking the Silence in die besetzten Gebiete, um sich einen eigenen Eindruck von der Situation vor Ort nach 50 Jahren Besatzung zu machen. Ayelet Waldman und ihr Ehemann Michael Chabon, ebenfalls Schriftsteller, trugen selbst zu der Sammlung von Essays und Erzählungen bei und fungierten als Herausgeber*in.

In seinem Text Occupied Words schrieb der norwegische Autor Lars Saabye Christensen: „Jeden Morgen mehr vom selben. Alle Arten von Verzögerung, Schmerz und Demütigung sammeln sich hier in den streng bewachten Ansammlungen bei den Checkpoints um Jerusalem, wo die verlorenen Gesichter einmal mehr ihr Gesicht verlieren.“

Befreiende Besatzung

In München und Frankfurt zogen es die Bürgermeister dagegen vor, die Eroberung Ost-Jerusalems als Wiedervereinigung der Stadt zu feiern. Damit übernahmen sie das Narrativ des nationalreligiösen Lagers von der Befreiung der Stadt, während der Rest der Welt keinen Zweifel über deren Status hat: Seit Juni 1967 gilt der Ostteil als besetzt. Die international anerkannte Hauptstadt Israels ist Tel Aviv, nicht Jerusalem. Die Annexion Jerusalems durch den Staat Israel ist nicht anerkannt worden. Der Frankfurter Stadtkämmerer und Bürgermeister Uwe Becker (CDU) dagegen sieht Jerusalem als wiedervereinigte Hauptstadt Israels und denkt, „dass auch die Weltgemeinschaft dies über kurz oder lang akzeptieren muss.“

Wie viel bleibt von seinem Bekenntnis zur Zweistaatenlösung übrig, wenn er in einem der zentralsten Streitpunkte zwischen den Konfliktparteien die Tatsachen akzeptiert, die Israel als die mächtigere Seite geschaffen hat? Welche Implikationen hat seine Positionierung bezüglich Jerusalems für andere völkerrechtswidrige Tatsachen, die Israel in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat? Muss die Welt einen Rechtsbruch akzeptieren, nur weil er 50 Jahre Bestand hat? Was bedeutet das für den Siedlungsbau? Was folgt daraus für andere rechtswidrige Praktiken wie außergerichtliche Tötungen, Formen der Kollektivbestrafung, usw.?

Es gibt die offensichtlichen Gründe, derentwegen der 50. Jahrestag der Besatzung keine Feierstunde mit Gebet für die Errichtung des Dritten Tempels in Jerusalem sein sollte, wie am 7. Juni 2017 in Frankfurt geschehen: Das Unrecht, das mit der Okkupation verbunden ist, die Vorenthaltung elementarster bürgerlicher und politischer Rechte für Millionen von Palästinenser*innen, die Landnahme im Westjordanland und in Ost-Jerusalem, willkürliche Verhaftungen (auch von Minderjährigen und Kindern) und die Administrativhaft ohne Anklage, Kollektivbestrafungen wie die Abriegelung des Gazastreifens oder Häuserabrisse als Vergeltungsmaßnahme usw.

Von Besatzung zu Besiedlung – mit Sicherheit

1967 begann es als militärische Besetzung von Gebieten, die dreimal so groß wie Israel waren. Im Rahmen des Friedensvertrags mit Ägypten zogen sich am 26. April 1982 die letzten israelischen Soldaten von der Sinai-Halbinsel zurück. Die Besatzung blieb hier tatsächlich vorübergehend, so wie sie im internationalen Recht als temporäre Maßnahme zur militärischen Sicherung vorgesehen ist – mit der rechtlich bindenden Verpflichtung, das Leben der Bevölkerung unter der Besatzung so wenig wie möglich zu beeinträchtigen, und wenn, dann nur aus Sicherheitsgründen.

Sicherheit ist am Ende immer das Argument, das alle anderen übertrumpft. Die Vorwürfe gegen Administrativhäftling A können aus Sicherheitsgründen nicht offen gelegt werden. Der palästinensische Bauer B darf nicht auf sein Land, weil es plötzlich an einen illegal errichteten Außenposten grenzt – aus Sicherheitsgründen, weil die Siedler, die Neuankömmlinge, geschützt werden müssen. Es geht immer um die israelische Sicherheit, vor allem in den Auseinandersetzungen mit ausländischen Kritiker*innen und Diplomat*innen. Nach innen muss der völkerrechtswidrige Verlauf der Mauer oder der Siedlungsbau nicht mit Sicherheitsinteressen begründet werden, weil es nicht um Sicherheit geht, sondern um Landnahme. Das Westjordanland heißt nur noch Judäa und Samaria. Die Grüne Linie verschwand schon 1977 von allen offiziellen israelischen Landkarten und hat ihren Weg zurück in israelische Schulbücher bis heute nicht gefunden.

Diverse israelische Regierungen haben nicht zur vorübergehenden militärischen Absicherung des eigenen Landes Siedlungen mit über 600.000 Einwohner*innen errichtet und unterstützt oder im Westjordanland zweierlei Rechtssysteme etabliert, Militärrecht und Dekrete der Kommandierenden für Palästinenser*innen und israelisches Recht für jüdische Siedler*innen. Diese werden behandelt, als würden sie sich in Israel in seinen international anerkannten Grenzen aufhalten, jene als Subjekte einer willkürlichen Militärherrschaft, die nicht nur von der israelischen Armee unterjocht werden, sondern obendrein noch von ihren eigenen palästinensischen Machthabern in Ramallah und Gaza.

Das permanente Provisorium

Nach einem halben Jahrhundert der Politik der systematischen Landnahme und Kolonisierung der Westbank ist den Palästinenser*innen schon lange klar, dass es hier nicht um eine vorübergehende Besatzung geht. Es geht um die dauerhafte Besiedlung eines Großteils des Territoriums, dessen Annexion prominente Politiker*innen wiederholt öffentlich verlangt haben. Der Begriff der Besatzung geht an den politischen Zielen der rechtsnationalen Regierungskoalition und Siedlerbewegung vorbei und beschreibt die bereits bestehenden Realitäten vor Ort nur unzureichend. Und dennoch sollte er in dem Sinne verteidigt werden, wie er im internationalen Recht gemeint und verankert ist: als rein temporärer Zustand. Die Wortwahl ist ein Teil der Zurückweisung des Anspruchs auf Dauerhaftigkeit der Besiedlung.

Während selbst US-Präsident Donald Trump wie seine Amtsvorgänger vorerst für den Verbleib der Botschaft in Tel Aviv entschied, weil ein Umzug nach Jerusalem bis auf weiteres nicht im nationalen Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten sei, fallen Kommunalpolitiker in Deutschland selbst hinter diese Haltung zurück. Nebenbei erodieren sie mit ihren fehlgeleiteten Entscheidungen noch die Bedeutung des rechtlichen Rahmens, der nach leidvollen Erfahrungen und teils gegen große Widerstände sukzessive geschaffen wurde, um solche Rechtsbrüche zu unterbinden, und verlangen von uns sogar zu akzeptieren, was schon nicht zu tolerieren ist.

Veröffentlicht am 08. Juni 2017

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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